Nachwort
Christian Reder
„Die mediale Evolution globaler Kulturen“
analysiert Manfred Faßler als in der Frühzeit
des Menschen beginnende, sich allmählich
oder abrupt verändernde Prozesse, die immer
wieder „Erdachte Welten“, also Weltsicht
und Weltkonstruktion entstehen lassen, ohne tatsächlich
auf Vorstellbares oder gar Abschließendes
zuzusteuern. Unter Ausblendung der „Suche
nach dem Möglichen“ ließen sich
diese offen bleibenden oder sich wieder öffnenden,
Fortschrittsglauben, Totalitäres, Katastrophisches
mittragenden Vorgänge nicht begreifen, weil
„der Mensch seine eigene nicht endende Utopie“
sei. Dessen mediale Selbstbefähigung steht
für ihn im Zentrum – denn „das
Künstliche (der Informationen, der Muster,
der Modelle, des selbstbezogenen Denkens, des
Entwurfes, der Techniken des Denkens und Gestaltens)
ist die Kerndimension des biologisch-sensitiven
Lebens.“ Nachvollziehbar und verständlich
werde das erst unter Beachtung hochkomplexer dynamischer
Wechselseitigkeiten, die als medial vermittelter
„Dauertransfer zwischen Denken, Medien,
Wissen, Kultur“ wirksam werden.
Auf Transfers – uneingrenzbare, sich über
Projekte konkretisierende Themen der „Edition
Transfer“ – wird auch methodisch durch
Vernetzung medien- und kulturwissenschaftlicher,
soziologischer, anthropologischer, ethnologischer,
neurophysiologischer, bild-, zahlen- und schriftwissenschaftlicher
Forschungen gesetzt. Denn unübersehbar sei
längst, „dass die disziplinären
Grenzen zu unproduktiven oder unterproduktiven
Regeln zwischen den Logiken der Wissens- und Handlungsbereiche
geworden sind“, es also angesichts „ständiger
Unvollkommenheit“ gelte, „dem Rassismus
des Perfekten den wissenschaftlichen und politisch-kulturellen
Kampf“ anzusagen, aus der Einsicht heraus:
„Alle Formen, Strukturen, Symbole, Zeichen,
Sprachen sind geworden. Sie werden nie perfekt
sein, sondern ein ständiger Transfer ohne
Ziel, – das biologische Leben des Menschen.
Evolution.“ Manfred Faßlers Grundthese
dazu ist, wie gesagt, „dass der Mensch sich
medial selbst befähigte. Einmal begonnen,
mit lautmalerischer Sprache vor vielleicht 100.000
Jahren, lassen sich diese ko-evolutionären
Prozesse nicht mehr stoppen. Ausgehend von Fragen
an die weltweit dokumentierten Höhlenmalereien
(die ältesten von vor 40.000 Jahren), wird
die Argumentation weitergeführt über
Sprachsinn, Bildsinn, Zahlensinn, die Schriften
(5000 Jahre v. H.), über die Entstehung der
Konzepte Geschichte, Philosophie, Schriftreligion,
der griechischen Klassik, bis zur Digitalisierung
und den fiberoptischen Medien. Fokus ist: die
Entstehung und Stabilisierung eines Mediensinns,
durch den abstrakte Weltordnungen erst schlüssig
darstellbar werden.“
In der „Edition Transfer“ wird solchen
Fragen etwa durch die kollektive Beschäftigung
mit Syrien, dem phönizischen Herkunftsland
von Schrift (Transferprojekt Damaskus, 2003) oder
mit Vorstellungen von Wüste – Konservierungszone
großartiger Felsbilder – nachgegangen,
gerade weil deren Mythologien in Europa, dem einzigen
Kontinent ohne solche archaische Leerflächen,
anhaltend fortwirken (Sahara. Text- und Bildessays,
2004). Sonst marginalisierte Stimmen aus der arabischen
Welt wie der Philosoph Sadik J. Al-Azm oder der
Schriftsteller Amin Maalouf kommen zu Wort. Mittels
essayistischer Formen und bildlich visualisierter
Beiträge wird versucht, Multidimensionales
und Zwischentöne präsent zu machen,
also dezidiert medial zu agieren. Wenn Manfred
Faßler in diesem Band konstatiert, „mich
interessiert hier Sprache als Teil menschlicher
Bild-, Zahlen-, Text-Kommunikation, nicht als
‚reine’ Syntax“ oder er zum
Alphabet feststellt, man könne „an
ihm nicht erkennen, ob daraus Gedichte, Befehle,
kuriose Gebrauchsanweisungen und noch kuriosere
Gesetzestexte werden“, so ergeben sich vielfältige
Überlagerungen mit unter dem Titel „Transfer“
bearbeiteten Fragestellungen. Meine provokant-systemanalytische
Studie zu Schriftkulturen (Wörter und Zahlen.
Das Alphabet als Code, 2000), die kabbalistische
Denkwelten aufgreift und zahllose rechnerische,
anscheinend Sinn ergebende Wortbeziehungen herstellt,
lässt sich dazu gegenlesen. Zu Vorstellungskraft,
Bedeutungsbildung, Kunst wiederum sagt der Filmmacher
und Theoretiker Peter Kubelka im Sahara-Buch kategorisch:
Der Akt, „aus irgendwelchen Erwägungen
heraus einen Stein aufzuheben, der einem interessant
vorkommt, der einen zu Gedanken anregt und den
man sich vielleicht sogar aneignet, gehört
zu den ganz archaischen Handlungsweisen der frühen
Menschheit und fördert jene Objekte zu Tage,
die am Ursprung der Kunst stehen. Am Ursprung
der Kunst steht noch nicht etwas Bearbeitetes,
sondern ein der Lebensweise der Jäger und
Sammler entsprechendes Objekt, das gefunden wurde
und für die Frühmenschen ähnliche
Arbeit geleistet hat wie in der Moderne eine Plastik
von Brancusi.“ Analog dazu betont etwa Sadik
J. Al-Azm von Damaskus aus, wie unerlässlich
weiträumiges Denken für eine globale
Beschäftigung mit der „Condition humaine“
sei: „Die Araber nur als Transferierer zu
sehen ist nicht richtig. Auch sehr viel Eigenständiges
ist dazugekommen. Es waren höchst komplexe,
vielfältig angereicherte Vermittlungsvorgänge,
die schließlich den Aufstieg des modernen
Europa begünstigt haben.“ Burghart
Schmidt wiederum ist in Damaskus zu Gedanken über
„fließen, vermischen, austauschen“,
zu Urbanität und „Überschneidungszonen“
angeregt worden; selbst Wüsten seien keineswegs
Niemandsland, abschottende Barrieren, so seine
Argumentation, sondern „auf allen Ebenen
Transfer wie Übersetzung, ob ästhetisch,
sozial, wirtschaftlich, verkehrstechnisch und
mehr. Kein Wunder also, dass gleich neben den
Wüsten die Buchreligionen entstanden. Denn
auch Buch ist ein dauernd währendes Übersetzen
wie die Wüste.“
Manfred Faßler – mit dem mich über
genannte und andere Vorhaben hinaus eine jahrelange
Kooperationsbereitschaft verbindet – systematisiert
solche latente Gedanken durch Betonung der Vermittlungsfunktion
von Medien: „Die weltweit entwickelten Kulturen
des Homo sapiens sapiens sind aus den sehr unterschiedlichen
Erfindungen, interaktiven Nutzungen und den ständigen
Erweiterungen des Künstlichen, der Zeichen,
der Sprachen und letztlich der Medien entstanden
– und entstehen weiter in diesen Konstellationen.“
Langfristige Betrachtungen machen also präsenter,
wie unvorhersehbar Perspektiven tatsächlich
sind. Sich nach dem Paradies (das auch im Damaskus-Buch
ein Thema ist) zurück zu sehnen, konditioniere,
so Manfred Faßler, ein höchst problematisches
Ideal, denn es „war der geschlossene Raum
der Wissensverfügung. Hermetisch, feindlich.
Warum es immer noch gefeiert wird, vermag ich
nicht zu beantworten. Über annähernd
2000 Jahre wurde diese Idee des closed shop à
la Paradies weltlich nachinszeniert.“ Die
Vertreibung aus ihm „schließt mythologisch
die Erste Informationelle Revolution ab, die im
Zeitraum von vor 100.000 (vermutete erste hinweisende
Lautsprache) bis vor 5000 Jahren stattgefunden
hat.“ Inzwischen aber, nach der Zweiten
(Renaissance/beginnende Moderne), der Dritten
(Industrialisierung) und der Vierten (Computer),
zeichne sich eine Fünfte Informationelle
Revolution ab: „Wissen war Macht, bevor
es Markt geworden ist. Dies ist eine der wichtigen
historischen Nachrichten. Und Wissen ist Macht,
gerade weil es Markt ist. Aber diese Macht ist
anders, als alles was vorher war.“ Und wenn
es stimmt, „dass das 21. Jahrhundert das
der Gentechnik, der Gehirnforschung, der Nanotechnologie
und der Wissenstechnologien sein wird, so steht
bereits als Fragezeile über jedem Projekt:
Was ist Leben und wie soll es beeinflusst werden?“
Statt in Strukturen verfangener „Institutionen-Politik“
müsste es um massiv intensivierte „Projekte-Politik“
gehen, denn „wir sind aus den Welten der
normativen Konflikte um erhaltens- oder erreichenswürdige
Wissens- und Lebensweisen keineswegs entlassen,
selbst dann nicht, wenn wir uns nicht wirklich
vorstellen können, was virtuelles oder künstliches
Leben im Netz bedeutet.“
Die – bewusst nicht „einheitlich“
konzipierte und gestaltete – „Edition
Transfer“ will solche fachübergreifende
Projektorientierungen bestärken, im Sinn
von Manfred Faßlers Aussage: „In der
Verbindung von Evolution und Kulturellem stelle
ich das Konzept dynamischer Entwicklungen in den
Zusammenhang zeitlicher, im Künstlichen angesiedelter,
projekthafter oder zufälliger, spontaner
Interaktivitäten. Ich beziehe mit diesem
Schritt Evolution und das Kulturelle auf Zeichen/Sprachen/Medien
als Interface des Menschen. Ihre Lebendigkeit
ergibt sich allerdings erst in Nutzungsgewohnheiten,
Gebrauchskulturen, in Praxen.“ Projekte
sind im Idealfall kleine Welten für sich,
analytisch-perspektivisch abgegrenzte, jedoch
Austauschbeziehungen aktivierende Räume.
Jene der „Edition Transfer“ konzentrieren
sich auf regionale Schwerpunkte (zuletzt Syrien,
Afghanistan, Libyen, derzeit Donauländer,
Ukraine), auf Essays und Untersuchungen zu künstlerischem
Arbeiten, zu Literaturkritik, Kulturkritik, zur
Medienevolution, zu freier, künstlerisch-wissenschaftlicher
Projektarbeit – als Angebote zum Querlesen
und Weiterdenken…
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