DANIEL DEFOE: PROJEKTE. In englischer
Sprache erscheinen kontinuierlich Neuausgaben von Daniel
Defoes berühmt gebliebener Reformschrift An
Essay Upon Projects (London 1697), deutsche sind
seit langem vergriffen. Diese basieren durchwegs auf
der Übersetzung von Hugo Fischer aus dem Jahr 1890
(Verlag C. L. Hirschfeld, Leipzig), die zuletzt 1975
vom nicht mehr existierenden B. Heymann Verlag, Wiesbaden,
als Faksimile-Ausgabe neu herausgebracht worden war.
Ob ein solches Verschwinden nun mit erlahmendem Interesse
an Schlüsseltexten zur Reformismusgeschichte oder
der ausufernden Präsenz irgendwelcher Projekte
zu tun hat, es schien an der Zeit, diesen frühen
Grundlagentext zum Projektdenken der Moderne wieder
vollständig zugänglich zu machen. Um nicht
in Sprachwelten von 1890 verfangen zu bleiben, aber
Defoes Eigenheiten zu wahren, hat Werner Rappl die damalige
deutsche Fassung überarbeitet und sie – unter
Berufung auf The Stoke Newington Daniel Defoe Edition
von An Essay Upon Projects (New York 1999)
und andere Quellen – mit ausführlichen Anmerkungen
versehen. Den eher negativ wertenden zwischenzeitlich
üblichen Titel Über Projektemacherei
haben wir nicht übernommen, sondern sind zum für
viele essenzielle damalige Schriften gebräuchlichen
Originalbegriff Essay zurückgekehrt, der
bekanntlich, beginnend mit Montaigne (1533-1592), mit
Francis Bacon (1561-1626), suchende, fragende, Möglichkeiten
auslotende, das Denken beim Schreiben betonende, persönlich
gefärbte Formen von Prosa bezeichnet.
An Essay Upon Projects ist Defoes erstes
Buch und dezidiert von seiner puritanischen Einstellung
und seinen bis dahin recht wechselhaften Erfahrungen
als Geschäftsmann geprägt. Die darin entwickelten
Reformvorschläge sollten sichtlich sein eigenes,
ihn in den Bankrott treibendes Scheitern mit diversen
Projekten ins Perspektivische wenden, als sozial-ökonomisches
Programm, das zugleich Rechtfertigung war und einen
persönlichen Neuanfang markiert. Im Unterschied
zu einigen früheren und vielen späteren, anonym
oder unter Pseudonymen erschienen Schriften ist diesem
Buch ein mit Initialen gezeichnetes Vorwort vorangestellt,
mit dem er sich zu ihm bekannte. Bei der Veröffentlichung
war er 37 Jahre alt, zur Weltliteratur hingearbeitet
hat er sich erst mit knapp 60, ohne sich dessen bewusst
zu sein. Schriftstellerisch beginnt er somit als Projektdenker,
der offensichtliche Probleme seines Landes benennt und
Veränderungen initiieren will und setzt damit den
entscheidenden Schritt, um zur „politischen und
literarischen Figur“ zu werden, wie die Herausgeber
der bereits erwähnten, fundiert kommentierten aktuellen
englischen Textausgabe konstatieren. „His vision
of what a progressive England could be“, sein
Reformgeist und „expansive humanitarianism“,
so die Einschätzung, lassen Daniel Defoe gerade
im Projektessay als exemplarischen Strukturreformer
erscheinen, als „utopian visionary in an age where
,nowheres’ are not removed to the unchartable
hemispheres of terra incognita, but discovered
and improved by the raw wits of the projecting genius.“
So wie ein Essay ein Versuch ist, seien auch Projekte
Versuche; und dieser Kontext ist von Defoe ausdrücklich
betont worden. Sein Ansatzpunkt ist explizit die Notwendigkeit
– „the Mother of Invention“.
Er selbst verstand sich stets als advocate of progress,
der entschieden glaubte, „dass die meisten Probleme
der Menschheit durch erfinderische Menschen gelöst
werden könnten“, wie sein klassischer Biograf,
der Amerikaner John Robert Moore (Daniel Defoe.
Citizen of the Modern World), betont. Für
sich verstärkende Vorstellungen von Gestaltbarem,
Machbarem, nicht mehr durchwegs von oben her Vorgegebenem
wurde Defoe zur signifikanten Stimme. Praxis ist das
Thema. Seine Vorschläge im Projektessay sind nicht
ein x-beliebiges Beratungskonzept, sondern Ausdruck
konkreter Absicht, in politischen Umbruchszeiten, als
sich die Gewichte vom König zum Parlament, vom
Adel hin zu Kaufleuten, Unternehmern, mittelständischen
Bürgern verschoben, für deren Status und ein
freieres Agieren bessere Bedingungen zu schaffen. Hundert
Jahre vor den Citoyens der Französischen Revolution
artikuliert er von London aus bürgerliche Auffassungen,
die angesichts des – von Reinhart Koselleck hervorgehobenen
– Begriffswandels „vom (Stadt-)Bürger
um 1700 über den (Staats-)Bürger um 1800 zum
Bürger (= Nichtproletarier) um 1900“ wegen
bloß noch schichtenspezifischer kommerziell-urbaner
Faktoren und der inzwischen herrschenden Dominanz anglo-amerikanischer
Argumentationen durchaus aktuell wirken, gerade auch
in ihren Politik negierenden, sich auf bessere Organisation
berufenden Momenten.
Zeitlich und inhaltlich stehen Defoes Überlegungen
zu einer reformerischen Projektkultur vor allem mit
den Schriften von John Locke (1632-1704), der Zentralfigur
der englischen Aufklärung, in gedanklichem Kontext
und in der Tradition zahlloser Flugschriften und Broschüren
der Zeit, über die seit Francis Bacons Insistieren
auf Wissen als Grundlage für Problemlösungen,
eine Flut wegweisender, nie oder erst viel später
realisierter Vorschläge im Umlauf gebracht wurde
oder sich phantastische, oft auch abstruse Gegenbilder
zu Bestehendem artikulierten.
Im Zuge der von 1550 bis 1688 immer wieder aufflackernden
Unruhen und der Wirren von Cromwells in vielem zum Vorbild
gewordenen Revolution, hatten sich religiös-jenseitige
Hoffnungen radikalisiert oder aber ins Diesseits, hin
zur nüchternen Einschätzung des tatsächlich
Möglichen verschoben. Die kühnsten der frühen
utopistischen Visionen aus dieser Zeit hielten einen
adäquaten Lebensstandard und ein friedliches Zusammenleben
aller Menschen für erreichbar. Überlegungen
zu einer Universalsprache und einer einheitlichen Weltreligion
kursierten. Programme für einen kommunistischen
Weltstaat „ohne Kaufen und Verkaufen“ (Gerrard
Winstanley, 1652) oder schlicht dafür, „dass
es keinen Bettler in England mehr gebe“ (Thomas
Lawson, 1660), standen genauso zur Debatte wie das Verbot
überflüssiger Dinge oder die Abschaffung der
Anwälte um die grassierende Prozesssucht zu beenden.
Das Zusammenleben tugendhafter Menschen in einer „wohlgenährten,
hart arbeitenden Religionsgemeinschaft“ ist eine
dominierende Zielvorstellung gewesen; „das Kloster,
das Arbeitshaus, das Studienkolleg und die Schule“
waren institutionelle Muster dafür.
Neben sozialphilosophischen Defiziten mache das, so
Keith Thomas in seiner Analyse dieser Phase, immerhin
die „zentralen Anliegen des Zeitalters“
erkennbar. Phasenweise „schien eine gigantische
Umwälzung wirklich möglich“, zugleich
wurde neuerlich evident, „dass die sozial vorherrschende
Gruppe bestimmt, was ,unrealistisch’ ist und was
nicht“. Partiell wurde angedacht oder sogar eingeleitet,
„was uns heute selbstverständlich ist: ein
staatliches Gesundheitswesen, eine garantierte Rechtsvertretung,
allgemeine Schulbildung, öffentliche Leihbüchereien,
Dezimalwährung, eine Universität in London“.
Daniel Defoe hatte sich in diesem Stimmengewirr durchaus
Gehör verschaffen können, bis hin zu Gründervätern
der Vereinigten Staaten wie Benjamin Franklin (1706-1790),
für den der Projektessay ein Schlüsseltext
gewesen ist. Dass Defoe neben seinen kommerziellen Unternehmungen,
dem politischen und beratenden Aktivismus, neben seinem
Engagement als Journalist und Mitbegründer des
englischen Zeitschriftenwesens schließlich auch
für den modernen realistischen Roman wegweisend
werden sollte, zeichnet sich erst im letzten Lebensabschnitt
ab, als sich verdichtende Intention, das Geschehen argumentierend
und publizistisch zu beeinflussen, Wirklichkeit und
Welterfahrung verständlich zu machen.
Als Romanautor, also als novelist, hat er
sich nie bezeichnet und immer wieder von vermeintlichen
Tatsachen berichtende Dritte vorgeschoben und darauf
bestanden, dass nichts erfunden, das Erzählte also
wahr sei. Auf unmittelbares Verstehen und Memorierbarkeit
hin orientierte Verse, oft schnell und flüchtig
hingeschriebene Traktate, Aufsätze, Essays, die
sich nicht so ohne weiteres späteren Zuordnungen
und Standards fügen, sind ihm lange Zeit wichtiger
gewesen als ausführliche Darstellungen und ausgedacht
Fiktives. Künstlerische Fragen stellten sich in
diesem Zusammenhang eher peripher, es ging um die Erprobung
verschiedener Argumentations- und Mitteilungsformen,
um formal ansprechende Wirksamkeit. Immer wieder hat
er betont, dass er kein Problem damit habe, sich als
Geschäftsmann zu sehen, als Geschäftsmann,
der sich um vieles kümmert, der schreibt und dichtet,
um damit nützlich zu sein und Geld zu verdienen.
Zu heutigen, meist unter vorgeblichen Effizienzkriterien
gebündelten Vorschlägen gegengelesen, könnte
Daniel Defoes beispielhaftes Programmpapier beitragen,
zwischen Anfangs- und Akutphasen kapitalistischer Entwicklungen
gedankliche Brücken herzustellen und Zeitabläufe
zwischen – stets schnell als subversiv, unrealistisch,
zu teuer geltenden – Forderungen und sich schließlich
durchsetzenden Ergebnissen präsenter machen. Phasen
von Reform und Gegenreform, teils sogar wieder religiös
begründeter Gegenreformation, wie sie unter dem
– gewendeten – Reformverständnis die
letzten Jahre prägen, bekommen so ein historisches
Gegenüber, auch die Tendenz zu beschleunigtem und
profitablem Funktionieren von allem und jedem, im Gegensatz
zu global weiterhin nur sehr stockend, fragmentarisch,
verteidigend absicherbaren Humanitäts- und Demokratievorstellungen.
Am Abstand von dreihundert Jahren lässt sich vergegenwärtigen,
wie es tatsächlich um Entwicklungen auf verschiedenen
Ebenen bestellt ist. Deswegen wird in diesem Kommentar
auch ausführlich auf Spuren des Begriffs Projekt,
auf England bezogene Zeitumstände zwischen 1600
und 1800 und auf mit Defoes Projektessay verknüpfbare
Sachverhalte eingegangen.
Gerade die fuzzy details and naïveté
der vor allem auch an Investoren und Förderer gerichteten
und vielfach neue, aber gerechtere Steuern betreffenden
Projektvorschläge, welche etwa Defoes akribische
Biografin Paula Backscheider irritieren, bestärken
letztlich Bezüge zu heutigen Aktualitäten.
Damalige Auffassungen von Liberalität mit dem gegenwärtigen
Mix links-liberaler, neo-liberaler, anti-liberaler Konzepte
und Interventionen zu vergleichen, kann latente Defizite
einer vordergründig Politik aussparenden, reaktionäre
Durchdringung duldenden Pragmatik greifbarer machen.
Trotz des zeitlichen Abstands erscheint die Träumereien
ausschließende Nüchternheit Daniel Defoes
somit in vieler Hinsicht als in gegenwärtige, zwangsläufig
global orientierte Denkmuster übertragbar, gerade
wenn seine Projektideen als Erzählung und nicht
bloß als historisches Faktenmaterial betrachtet
werden. Manches von dem, was ihn ein Leben lang beschäftigte,
liest sich, als würde es aus weiterhin geläufigen
Politikkonzepten, Weltbankprogrammen oder Consultant-Gutachten
stammen oder eine Persiflage auf diese sein, ob er nun
Steuerbefreiung, Mindestunterhalt und kostenlosen Gesundheitsdienst
für Arme, die Bekämpfung von Steuerhinterziehung,
ein reformiertes Bank- und Börsenwesen, Sparkassen,
ein neues Konkursrecht, leistungsfähige Handelsgerichte,
die Privatisierung öffentlicher Aufgaben und des
Straßenbaus, staatliche Arbeitsplatzgarantien
für Seeleute oder – wegen „unserer
eigenen Verrücktheit“ – die würdige
Betreuung von Geisteskranken fordert.
Wenn er etwa eine Akademie vorschlägt, um „die
schönen Wissenschaften zu fördern“,
spiegelt sich das in gegenwärtigen Debatten um
Sparmaßnahmen bei Forschung und Lehre. Die Aufgabe
dieser Akademie, „die englische Sprache zu glätten“,
hat ihr Pendant in den endlosen Kontroversen um die
deutsche Rechtschreibreform. Seine martialischen Vorstellungen
von „Akademien für militärische Studien“
und von Kriegskunst – analog zu Management –
als „höchste Vollendung menschlichen Wissens“
haben Parallelen in der abgesprochenen Neuorientierung
der Militärapparate auf Spezialeinsätze und
Terrorismusbekämpfung.
Die dezidierten Vorschläge zur Gleichstellung
der Geschlechter und essenziellen Verbesserung der Ausbildungsangebote
für Frauen wiederum begründet er, Forderungen
von Feministinnen wie Aphra Behn (1640-1689) oder Mary
Astell (1666-1731) aufnehmend und kommentierend, kategorisch
damit, „dass alle Welt mit den Frauen falsch verfährt“,
in ihnen nicht Gefährtinnen sehe, sondern vor allem
„Haushälterinnen, Köchinnen und Sklavinnen“.
„Denjenigen, die dank ihrer Begabung einem bestimmten
Gebiet besonders zugeneigt sind“, schreibt er
1697, „würde ich keinen Wissenszweig verschließen.“
Die erreichte Frauenbeteiligung macht evident, wie
es um eine solche Normalisierung in verschiedenen Gesellschaften
und einzelnen Berufsfeldern inzwischen steht. Dass Daniel
Defoe, der sich als erste Stufe dazu zumindest ein Frauen-Kolleg
in jeder Grafschaft und zehn in London vorstellte, für
die Ausführung solcher Projekte auf „vielleicht
nie kommende glückliche Tage“ verwiesen hat,
zeugt von seinem, sich nicht von Perspektivischem abbringen
lassenden Realismus, lässt sich aber auch als Hinweis
auf enthaltene Lippenbekenntnisse interpretieren.
An auftretende Sachzwänge war er jedenfalls gewohnt.
Vieles blieb ihm selbstverständlich, etwa dass
Frauen und Besitzlose nicht wahlberechtigt seien, im
Parlament somit Adelige und Reiche, noch lange Zeit
identisch mit Großgrundbesitzern, den Ton angaben,
oder dass Sklavenhandel – brutale Grundform von
Arbeitskräftetransfer – für die wirtschaftliche
Entwicklung notwendig wäre; nur im Fall schlechter
Behandlung sei das moralisch zu verurteilen, Widerstand
der rechtlos Hin-und-her-Geschobenen jedoch könne
nicht geduldet werden.
Inwieweit solche langfristigen Betrachtungsweisen aus
heutiger Sicht Konjunkturen erkennen lassen, also Ankündigungsphasen,
Realisierungsetappen, Fortschritte, Rückschritte,
oder bloß als Abfolge bestimmter Konstellationen
wahrgenommen werden, kreist Fragen nach der Wirksamkeit
von an emanzipatorischer Aufklärung orientiertem
Wandel und von auftretenden Gegenkräften ein.
Um zugehörige Reflexionen über Initiativmöglichkeiten
und Erreichbares anhand gegenwärtiger Projektpraxis
zu bestärken, liegt als Parallelband zu dieser
Defoe-Neuausgabe das Lesebuch Projekte. Vorgriffe,
Ausbrüche in die Ferne (Wien-New York 2006)
vor, welches pointierte künstlerische, wissenschaftliche,
frei argumentierende Positionen zum Thema enthält
– mit Beiträgen von Alexander Kluge, Peter
Sellars, Zaha Hadid, Anselm Kiefer, Wolf D. Prix / Coop
Himmelb(l)au, Brigitte Kowanz, Christoph Schlingensief,
Manfred Faßler, Burghart Schmidt oder Dirk Baecker,
mit Kommentaren zur EU-Projektpolitik (Barbara Rhode),
zu Ärzte ohne Grenzen (Reinhard Dörflinger)
oder zu Kooperationsprojekten im islamischen Raum (Christian
Reder). Damit wird ein Diskutieren über glaubwürdige,
etwas weiterbringende, Energien konzentrierende, unrealisierbare
oder an den Umständen scheiternde Projekte mit
der ausgebrochenen Euphorie für Projektmanagement,
für spekulative, für inhaltsleer restrukturierende
Projekte in Bezug gesetzt und mit Anfangsphasen solcher
Vorstellungen rückgekoppelt.
Für Alexander Kluge etwa sind ernst zu nehmende
Projekte weiterhin „die Fortbewegungsform von
Selbstbewusstsein bei den Menschen“, „sind
im Grunde Vorgriffe, Ausbrüche in die Ferne“,
„Grundformen kühner Erfahrung“. Das
Lesebuch Projekte versammelt solche derzeit
kursierenden Argumentationen, Defoes Essay, den, wie
er betonte, „jeder nach Belieben fortführen
mag“, macht geschichtliche Hintergründe präsent.
Was bei ihm sehr gegenwärtig, wie aus Fernsehnachrichten
stammend klingt, könnte geläufige Vorstellungen
davon, was unter Gegenwart und Gegenwartsbezügen
verstanden wird, erweitern. Waren in den Zeiten nach
ihm wie auch immer angebahnte Ordnungsvorstellungen
das Prägende, scheint sich derzeit deren Auflösen
in enorm beschleunigte, einander überlagernde,
konkurrierende, aktivierende, blockierende Projektsituationen
anzubahnen mit denen auch fest gefügte Organisationen
ihre verbliebene Beweglichkeit demonstrieren. Manfred
Faßler konstatiert dazu im genannten Band mit
sichtlich schwindendem Vertrauen in Politik, in Strukturen
und Institutionen und von dorther erwartbare Kontinuitäten:
„Knowledge follows Project“ / „Form
follows Project“ – und spricht bereits von
„nach-gesellschaftlichen Projekt-Welten“,
in denen sich im Kräftespiel von Markt –
Marke – Macht – Medien projektähnliche
Formationen und wechselnde, oft nur kurzlebige Föderationen
als eigentliche Bewegungsmomente herausstellen. Für
Dirk Baecker wiederum ist die Realität längst
von „parasitären Strukturen“ geprägt,
denn „Projekte leben von Institutionen und Netzwerken,
die Netzwerke und Institutionen leben davon, dass gewisse
Dinge in Projektform realisiert werden.“ Für
dadurch geförderte Wissenstransfers sei die Anschlussfähigkeit
entscheidend und „welches Projekt man anschließend
machen kann“. Die herrschende Willkür dabei
konfrontiert mit gesellschaftlichen Fragen nach Kontinuität,
nach Langfristigem, ob nun bezogen auf Politik, Wirtschaft,
Wissenschaft, Kultur oder internationale Beziehungen.
Dass Robinson Crusoe (geb. 1632) – „my
head began to be full of projects and undertakings beyond
my reach“ – und Daniel Defoe (ca.1660-1731)
Zeitgenossen von kulturell weithin ausstrahlenden und
wirkungsvollen Persönlichkeiten gewesen sind, entgrenzt
die mit dessen Namen verbundene Isoliertheit: John Locke
(1632-1704), Christopher Wren (1632-1723), Jan van Delft
(1632-1675), dem Entdecker der Bakterien Anton van Leeuwenhoek
(1632-1723), Baruch Spinoza (1634-1677), Isaac Newton
(1642-1727), Antonio Stradivari (1644-1737), Gottfried
Wilhelm Leibniz (1646-1716), Feministinnen wie Aphra
Behn (1640-1689) oder Mary Astell (1666-1731), Edmond
Halley (1656-1742), Johann Bernhard Fischer von Erlach
(1656-1723), Henry Purcell (1659-1695), Jonathan Swift
(1667-1745), dem Mediziner und Chemiker Herman Boerhaave
(1668-1738), Giambattista Vico (1668-1744), Tomaso Albinoni
(1671-1751), Antonio Vivaldi (1678-1741), Vitus Bering
(1681-1741), René Réaumur (1683-1757),
Johann Sebastian Bach (1685-1750), Georg Friedrich Händel
(1685-1759), Daniel Fahrenheit (1686-1736), Montesquieu
(1689-1755), Voltaire (1694-1778) oder David Hume (1711-1776).
Auf die eine oder andere Art sind sie alle, wie auch
tausende anonym Agierende, in Projekte – also
in von Routine abweichende Vorhaben, für die damals
dieser Begriff gebräuchlich wurde – involviert
gewesen. Bis in breite Volksschichten hinein lösten
sich überkommene Gewissheiten auf. Das Bild von
der Erde, der Welt, vom Universum begann durch Entdeckungen
und auflebende Wissenschaften ein neues zu werden. Die
Reformation hatte Gesellschaften gespaltet, die Enteignung
der Kirchengüter drastische Umverteilungsprozesse
in Gang gesetzt. „Im Jahre 1700“, resümiert
Bertrand Russell mit erstaunlich optimistischem, tendenziell
erfreuliche Perspektiven unterstellendem Unterton, „war
die Anschauungsweise der Gebildeten schon völlig
modern, 1600 jedoch, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen,
noch in hohem Maße mittelalterlich.“
Auch wenn ein solch deutliches Abgrenzen von Altem
und Neuem wegen zeitlicher Verflechtungen des Geschehens
und der Gedankenwelten inzwischen fragwürdig erscheint,
ist die damit angesprochene Phase der frühen Aufklärung,
des frühen Liberalismus, eines sich konstituierenden
Individualismus – also etwa die Lebenszeit Daniel
Defoes – auch aus heutiger Sicht eine vieles ausprägende
Zeitspanne. Als Reservoir für Rückgriffe,
einschließlich westlicher Fundamentalismen, dient
sie unwillkürlich immer wieder. Allein schon die
damals möglich werdende verwirrende Berufsvielfalt
von Daniel Defoe, dieses exemplarischen citizen
of the modern world, wirkt auf heute bezogen einerseits
wie eine provokante Zuspitzung neuerlich offensiv geforderter
Flexibilität und Verwendbarkeit, andererseits als
Exempel dafür, wie sehr solche Projektleben von
beruflicher und sozialer Kontinuität, Glaubwürdigkeit
und hinreichenden Sicherheiten abhängig bleiben.
Als Geschäftsmann, Spekulant, Ziegeleibesitzer,
Journalist, Regierungsberater, Geheimagent, Zeitungsherausgeber,
Historiker, Schriftsteller repräsentiert er eine
ständige Bereitschaft neu zu beginnen, in Parallelexistenzen
zu leben, Beziehungsnetze auszunutzen, Generalistisches
mit Spezialisierung in Balance zu halten. Als Angehöriger
einer benachteiligten Minderheit, als Moralist, Rebell,
Oppositioneller, Vorkämpfer für Toleranz,
Popularisierer rationalen politisch-ökonomischen
Denkens, als zwischen den Parteien pendelnder Reformer,
ist er tief in einen widersprüchlichen, auf Realitäten
reagierenden Aktivismus und in ständig neue Projekte
verstrickt gewesen. Als Bankrotteur, Schuldner und Autoritäten
beleidigender Kritiker mehrmals in Haft, hat er die
Risiken exponierter Lebensweisen drastisch zu spüren
bekommen, sich aber stets wieder neue Wirkungsbereiche
erschlossen, sich von Projekt zu Projekt retten können.
Daraus resultierende Imageprobleme hatten bis heute
nachwirkende Folgen für die Wertschätzung,
ohne dass deswegen Selbststilisierungen erkennbar geworden
wären. Was für gewöhnlich an Vielfältigkeit
geschätzt wird, aber den Rahmen und die Sicherheit
eines Hauptberufs braucht, um realisierbar und verständlich
zu bleiben, überlagert sich bei Defoe so, als ob
er, wie ein Gentleman, der sich das leisten kann, solche
Einteilungen und Berufsbindungen völlig negiert
hätte, um Freiheiten des Dilettierens zu beanspruchen.
Sein in England selbst für spätere Autoren
nicht unbedingt ehrenrühriges Agieren als Geheimagent
wiederum aktualisiert Fragen, aus welchen konkreten
Gründen Derartiges unter anderen Umständen
verwerflich erscheint.
Immerhin hatte sich Defoe gerade wegen seiner Eigenständigkeit
vorerst als Publizist einen Namen gemacht; seit den
späten Werken steht er plötzlich als jemand
anderer da, als ein dem fortwährenden Wechsel zwischen
Anonymität und verschiedenen Identitäten Entkommener.
Ohne seine insgesamt über 300 ihm gesichert zuschreibbaren
separaten Publikationen (John Robert Moore kommt sogar
auf 550), die mit dem Essaybuch über Projekte ansetzen,
hätten sich von seiner Vielfalt und seinem literarischen
Potenzial kaum nennenswerte Spuren erhalten und somit
auch keine Belege für die nur selten evident werdende
Möglichkeit, dass Quantität unter Umständen
in Qualität umschlagen kann.
|
|