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www.ChristianReder.net: Publikationen: Ein Essay über Projekte: Vorwort
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Springer Wien New York

Daniel Defoe
Ein Essay über Projekte

London 1697

Herausgegeben und kommentiert von Christian Reder

In überarbeiteter und erläuterter Übersetzung von Werner Rappl

Edition Transfer bei Springer Wien New York 2006


Christian Reder
Daniel Defoe. Beginn des Projektzeitalters
(Auszug)

DANIEL DEFOE: PROJEKTE. In englischer Sprache erscheinen kontinuierlich Neuausgaben von Daniel Defoes berühmt gebliebener Reformschrift An Essay Upon Projects (London 1697), deutsche sind seit langem vergriffen. Diese basieren durchwegs auf der Übersetzung von Hugo Fischer aus dem Jahr 1890 (Verlag C. L. Hirschfeld, Leipzig), die zuletzt 1975 vom nicht mehr existierenden B. Heymann Verlag, Wiesbaden, als Faksimile-Ausgabe neu herausgebracht worden war. Ob ein solches Verschwinden nun mit erlahmendem Interesse an Schlüsseltexten zur Reformismusgeschichte oder der ausufernden Präsenz irgendwelcher Projekte zu tun hat, es schien an der Zeit, diesen frühen Grundlagentext zum Projektdenken der Moderne wieder vollständig zugänglich zu machen. Um nicht in Sprachwelten von 1890 verfangen zu bleiben, aber Defoes Eigenheiten zu wahren, hat Werner Rappl die damalige deutsche Fassung überarbeitet und sie – unter Berufung auf The Stoke Newington Daniel Defoe Edition von An Essay Upon Projects (New York 1999) und andere Quellen – mit ausführlichen Anmerkungen versehen. Den eher negativ wertenden zwischenzeitlich üblichen Titel Über Projektemacherei haben wir nicht übernommen, sondern sind zum für viele essenzielle damalige Schriften gebräuchlichen Originalbegriff Essay zurückgekehrt, der bekanntlich, beginnend mit Montaigne (1533-1592), mit Francis Bacon (1561-1626), suchende, fragende, Möglichkeiten auslotende, das Denken beim Schreiben betonende, persönlich gefärbte Formen von Prosa bezeichnet.

An Essay Upon Projects ist Defoes erstes Buch und dezidiert von seiner puritanischen Einstellung und seinen bis dahin recht wechselhaften Erfahrungen als Geschäftsmann geprägt. Die darin entwickelten Reformvorschläge sollten sichtlich sein eigenes, ihn in den Bankrott treibendes Scheitern mit diversen Projekten ins Perspektivische wenden, als sozial-ökonomisches Programm, das zugleich Rechtfertigung war und einen persönlichen Neuanfang markiert. Im Unterschied zu einigen früheren und vielen späteren, anonym oder unter Pseudonymen erschienen Schriften ist diesem Buch ein mit Initialen gezeichnetes Vorwort vorangestellt, mit dem er sich zu ihm bekannte. Bei der Veröffentlichung war er 37 Jahre alt, zur Weltliteratur hingearbeitet hat er sich erst mit knapp 60, ohne sich dessen bewusst zu sein. Schriftstellerisch beginnt er somit als Projektdenker, der offensichtliche Probleme seines Landes benennt und Veränderungen initiieren will und setzt damit den entscheidenden Schritt, um zur „politischen und literarischen Figur“ zu werden, wie die Herausgeber der bereits erwähnten, fundiert kommentierten aktuellen englischen Textausgabe konstatieren. „His vision of what a progressive England could be“, sein Reformgeist und „expansive humanitarianism“, so die Einschätzung, lassen Daniel Defoe gerade im Projektessay als exemplarischen Strukturreformer erscheinen, als „utopian visionary in an age where ,nowheres’ are not removed to the unchartable hemispheres of terra incognita, but discovered and improved by the raw wits of the projecting genius.“ So wie ein Essay ein Versuch ist, seien auch Projekte Versuche; und dieser Kontext ist von Defoe ausdrücklich betont worden. Sein Ansatzpunkt ist explizit die Notwendigkeit – „the Mother of Invention“.

Er selbst verstand sich stets als advocate of progress, der entschieden glaubte, „dass die meisten Probleme der Menschheit durch erfinderische Menschen gelöst werden könnten“, wie sein klassischer Biograf, der Amerikaner John Robert Moore (Daniel Defoe. Citizen of the Modern World), betont. Für sich verstärkende Vorstellungen von Gestaltbarem, Machbarem, nicht mehr durchwegs von oben her Vorgegebenem wurde Defoe zur signifikanten Stimme. Praxis ist das Thema. Seine Vorschläge im Projektessay sind nicht ein x-beliebiges Beratungskonzept, sondern Ausdruck konkreter Absicht, in politischen Umbruchszeiten, als sich die Gewichte vom König zum Parlament, vom Adel hin zu Kaufleuten, Unternehmern, mittelständischen Bürgern verschoben, für deren Status und ein freieres Agieren bessere Bedingungen zu schaffen. Hundert Jahre vor den Citoyens der Französischen Revolution artikuliert er von London aus bürgerliche Auffassungen, die angesichts des – von Reinhart Koselleck hervorgehobenen – Begriffswandels „vom (Stadt-)Bürger um 1700 über den (Staats-)Bürger um 1800 zum Bürger (= Nichtproletarier) um 1900“ wegen bloß noch schichtenspezifischer kommerziell-urbaner Faktoren und der inzwischen herrschenden Dominanz anglo-amerikanischer Argumentationen durchaus aktuell wirken, gerade auch in ihren Politik negierenden, sich auf bessere Organisation berufenden Momenten.

Zeitlich und inhaltlich stehen Defoes Überlegungen zu einer reformerischen Projektkultur vor allem mit den Schriften von John Locke (1632-1704), der Zentralfigur der englischen Aufklärung, in gedanklichem Kontext und in der Tradition zahlloser Flugschriften und Broschüren der Zeit, über die seit Francis Bacons Insistieren auf Wissen als Grundlage für Problemlösungen, eine Flut wegweisender, nie oder erst viel später realisierter Vorschläge im Umlauf gebracht wurde oder sich phantastische, oft auch abstruse Gegenbilder zu Bestehendem artikulierten.

Im Zuge der von 1550 bis 1688 immer wieder aufflackernden Unruhen und der Wirren von Cromwells in vielem zum Vorbild gewordenen Revolution, hatten sich religiös-jenseitige Hoffnungen radikalisiert oder aber ins Diesseits, hin zur nüchternen Einschätzung des tatsächlich Möglichen verschoben. Die kühnsten der frühen utopistischen Visionen aus dieser Zeit hielten einen adäquaten Lebensstandard und ein friedliches Zusammenleben aller Menschen für erreichbar. Überlegungen zu einer Universalsprache und einer einheitlichen Weltreligion kursierten. Programme für einen kommunistischen Weltstaat „ohne Kaufen und Verkaufen“ (Gerrard Winstanley, 1652) oder schlicht dafür, „dass es keinen Bettler in England mehr gebe“ (Thomas Lawson, 1660), standen genauso zur Debatte wie das Verbot überflüssiger Dinge oder die Abschaffung der Anwälte um die grassierende Prozesssucht zu beenden. Das Zusammenleben tugendhafter Menschen in einer „wohlgenährten, hart arbeitenden Religionsgemeinschaft“ ist eine dominierende Zielvorstellung gewesen; „das Kloster, das Arbeitshaus, das Studienkolleg und die Schule“ waren institutionelle Muster dafür.

Neben sozialphilosophischen Defiziten mache das, so Keith Thomas in seiner Analyse dieser Phase, immerhin die „zentralen Anliegen des Zeitalters“ erkennbar. Phasenweise „schien eine gigantische Umwälzung wirklich möglich“, zugleich wurde neuerlich evident, „dass die sozial vorherrschende Gruppe bestimmt, was ,unrealistisch’ ist und was nicht“. Partiell wurde angedacht oder sogar eingeleitet, „was uns heute selbstverständlich ist: ein staatliches Gesundheitswesen, eine garantierte Rechtsvertretung, allgemeine Schulbildung, öffentliche Leihbüchereien, Dezimalwährung, eine Universität in London“.

Daniel Defoe hatte sich in diesem Stimmengewirr durchaus Gehör verschaffen können, bis hin zu Gründervätern der Vereinigten Staaten wie Benjamin Franklin (1706-1790), für den der Projektessay ein Schlüsseltext gewesen ist. Dass Defoe neben seinen kommerziellen Unternehmungen, dem politischen und beratenden Aktivismus, neben seinem Engagement als Journalist und Mitbegründer des englischen Zeitschriftenwesens schließlich auch für den modernen realistischen Roman wegweisend werden sollte, zeichnet sich erst im letzten Lebensabschnitt ab, als sich verdichtende Intention, das Geschehen argumentierend und publizistisch zu beeinflussen, Wirklichkeit und Welterfahrung verständlich zu machen.

Als Romanautor, also als novelist, hat er sich nie bezeichnet und immer wieder von vermeintlichen Tatsachen berichtende Dritte vorgeschoben und darauf bestanden, dass nichts erfunden, das Erzählte also wahr sei. Auf unmittelbares Verstehen und Memorierbarkeit hin orientierte Verse, oft schnell und flüchtig hingeschriebene Traktate, Aufsätze, Essays, die sich nicht so ohne weiteres späteren Zuordnungen und Standards fügen, sind ihm lange Zeit wichtiger gewesen als ausführliche Darstellungen und ausgedacht Fiktives. Künstlerische Fragen stellten sich in diesem Zusammenhang eher peripher, es ging um die Erprobung verschiedener Argumentations- und Mitteilungsformen, um formal ansprechende Wirksamkeit. Immer wieder hat er betont, dass er kein Problem damit habe, sich als Geschäftsmann zu sehen, als Geschäftsmann, der sich um vieles kümmert, der schreibt und dichtet, um damit nützlich zu sein und Geld zu verdienen.

Zu heutigen, meist unter vorgeblichen Effizienzkriterien gebündelten Vorschlägen gegengelesen, könnte Daniel Defoes beispielhaftes Programmpapier beitragen, zwischen Anfangs- und Akutphasen kapitalistischer Entwicklungen gedankliche Brücken herzustellen und Zeitabläufe zwischen – stets schnell als subversiv, unrealistisch, zu teuer geltenden – Forderungen und sich schließlich durchsetzenden Ergebnissen präsenter machen. Phasen von Reform und Gegenreform, teils sogar wieder religiös begründeter Gegenreformation, wie sie unter dem – gewendeten – Reformverständnis die letzten Jahre prägen, bekommen so ein historisches Gegenüber, auch die Tendenz zu beschleunigtem und profitablem Funktionieren von allem und jedem, im Gegensatz zu global weiterhin nur sehr stockend, fragmentarisch, verteidigend absicherbaren Humanitäts- und Demokratievorstellungen. Am Abstand von dreihundert Jahren lässt sich vergegenwärtigen, wie es tatsächlich um Entwicklungen auf verschiedenen Ebenen bestellt ist. Deswegen wird in diesem Kommentar auch ausführlich auf Spuren des Begriffs Projekt, auf England bezogene Zeitumstände zwischen 1600 und 1800 und auf mit Defoes Projektessay verknüpfbare Sachverhalte eingegangen.

Gerade die fuzzy details and naïveté der vor allem auch an Investoren und Förderer gerichteten und vielfach neue, aber gerechtere Steuern betreffenden Projektvorschläge, welche etwa Defoes akribische Biografin Paula Backscheider irritieren, bestärken letztlich Bezüge zu heutigen Aktualitäten. Damalige Auffassungen von Liberalität mit dem gegenwärtigen Mix links-liberaler, neo-liberaler, anti-liberaler Konzepte und Interventionen zu vergleichen, kann latente Defizite einer vordergründig Politik aussparenden, reaktionäre Durchdringung duldenden Pragmatik greifbarer machen. Trotz des zeitlichen Abstands erscheint die Träumereien ausschließende Nüchternheit Daniel Defoes somit in vieler Hinsicht als in gegenwärtige, zwangsläufig global orientierte Denkmuster übertragbar, gerade wenn seine Projektideen als Erzählung und nicht bloß als historisches Faktenmaterial betrachtet werden. Manches von dem, was ihn ein Leben lang beschäftigte, liest sich, als würde es aus weiterhin geläufigen Politikkonzepten, Weltbankprogrammen oder Consultant-Gutachten stammen oder eine Persiflage auf diese sein, ob er nun Steuerbefreiung, Mindestunterhalt und kostenlosen Gesundheitsdienst für Arme, die Bekämpfung von Steuerhinterziehung, ein reformiertes Bank- und Börsenwesen, Sparkassen, ein neues Konkursrecht, leistungsfähige Handelsgerichte, die Privatisierung öffentlicher Aufgaben und des Straßenbaus, staatliche Arbeitsplatzgarantien für Seeleute oder – wegen „unserer eigenen Verrücktheit“ – die würdige Betreuung von Geisteskranken fordert.

Wenn er etwa eine Akademie vorschlägt, um „die schönen Wissenschaften zu fördern“, spiegelt sich das in gegenwärtigen Debatten um Sparmaßnahmen bei Forschung und Lehre. Die Aufgabe dieser Akademie, „die englische Sprache zu glätten“, hat ihr Pendant in den endlosen Kontroversen um die deutsche Rechtschreibreform. Seine martialischen Vorstellungen von „Akademien für militärische Studien“ und von Kriegskunst – analog zu Management – als „höchste Vollendung menschlichen Wissens“ haben Parallelen in der abgesprochenen Neuorientierung der Militärapparate auf Spezialeinsätze und Terrorismusbekämpfung.

Die dezidierten Vorschläge zur Gleichstellung der Geschlechter und essenziellen Verbesserung der Ausbildungsangebote für Frauen wiederum begründet er, Forderungen von Feministinnen wie Aphra Behn (1640-1689) oder Mary Astell (1666-1731) aufnehmend und kommentierend, kategorisch damit, „dass alle Welt mit den Frauen falsch verfährt“, in ihnen nicht Gefährtinnen sehe, sondern vor allem „Haushälterinnen, Köchinnen und Sklavinnen“. „Denjenigen, die dank ihrer Begabung einem bestimmten Gebiet besonders zugeneigt sind“, schreibt er 1697, „würde ich keinen Wissenszweig verschließen.“

Die erreichte Frauenbeteiligung macht evident, wie es um eine solche Normalisierung in verschiedenen Gesellschaften und einzelnen Berufsfeldern inzwischen steht. Dass Daniel Defoe, der sich als erste Stufe dazu zumindest ein Frauen-Kolleg in jeder Grafschaft und zehn in London vorstellte, für die Ausführung solcher Projekte auf „vielleicht nie kommende glückliche Tage“ verwiesen hat, zeugt von seinem, sich nicht von Perspektivischem abbringen lassenden Realismus, lässt sich aber auch als Hinweis auf enthaltene Lippenbekenntnisse interpretieren.

An auftretende Sachzwänge war er jedenfalls gewohnt. Vieles blieb ihm selbstverständlich, etwa dass Frauen und Besitzlose nicht wahlberechtigt seien, im Parlament somit Adelige und Reiche, noch lange Zeit identisch mit Großgrundbesitzern, den Ton angaben, oder dass Sklavenhandel – brutale Grundform von Arbeitskräftetransfer – für die wirtschaftliche Entwicklung notwendig wäre; nur im Fall schlechter Behandlung sei das moralisch zu verurteilen, Widerstand der rechtlos Hin-und-her-Geschobenen jedoch könne nicht geduldet werden.

Inwieweit solche langfristigen Betrachtungsweisen aus heutiger Sicht Konjunkturen erkennen lassen, also Ankündigungsphasen, Realisierungsetappen, Fortschritte, Rückschritte, oder bloß als Abfolge bestimmter Konstellationen wahrgenommen werden, kreist Fragen nach der Wirksamkeit von an emanzipatorischer Aufklärung orientiertem Wandel und von auftretenden Gegenkräften ein.

Um zugehörige Reflexionen über Initiativmöglichkeiten und Erreichbares anhand gegenwärtiger Projektpraxis zu bestärken, liegt als Parallelband zu dieser Defoe-Neuausgabe das Lesebuch Projekte. Vorgriffe, Ausbrüche in die Ferne (Wien-New York 2006) vor, welches pointierte künstlerische, wissenschaftliche, frei argumentierende Positionen zum Thema enthält – mit Beiträgen von Alexander Kluge, Peter Sellars, Zaha Hadid, Anselm Kiefer, Wolf D. Prix / Coop Himmelb(l)au, Brigitte Kowanz, Christoph Schlingensief, Manfred Faßler, Burghart Schmidt oder Dirk Baecker, mit Kommentaren zur EU-Projektpolitik (Barbara Rhode), zu Ärzte ohne Grenzen (Reinhard Dörflinger) oder zu Kooperationsprojekten im islamischen Raum (Christian Reder). Damit wird ein Diskutieren über glaubwürdige, etwas weiterbringende, Energien konzentrierende, unrealisierbare oder an den Umständen scheiternde Projekte mit der ausgebrochenen Euphorie für Projektmanagement, für spekulative, für inhaltsleer restrukturierende Projekte in Bezug gesetzt und mit Anfangsphasen solcher Vorstellungen rückgekoppelt.

Für Alexander Kluge etwa sind ernst zu nehmende Projekte weiterhin „die Fortbewegungsform von Selbstbewusstsein bei den Menschen“, „sind im Grunde Vorgriffe, Ausbrüche in die Ferne“, „Grundformen kühner Erfahrung“. Das Lesebuch Projekte versammelt solche derzeit kursierenden Argumentationen, Defoes Essay, den, wie er betonte, „jeder nach Belieben fortführen mag“, macht geschichtliche Hintergründe präsent. Was bei ihm sehr gegenwärtig, wie aus Fernsehnachrichten stammend klingt, könnte geläufige Vorstellungen davon, was unter Gegenwart und Gegenwartsbezügen verstanden wird, erweitern. Waren in den Zeiten nach ihm wie auch immer angebahnte Ordnungsvorstellungen das Prägende, scheint sich derzeit deren Auflösen in enorm beschleunigte, einander überlagernde, konkurrierende, aktivierende, blockierende Projektsituationen anzubahnen mit denen auch fest gefügte Organisationen ihre verbliebene Beweglichkeit demonstrieren. Manfred Faßler konstatiert dazu im genannten Band mit sichtlich schwindendem Vertrauen in Politik, in Strukturen und Institutionen und von dorther erwartbare Kontinuitäten: „Knowledge follows Project“ / „Form follows Project“ – und spricht bereits von „nach-gesellschaftlichen Projekt-Welten“, in denen sich im Kräftespiel von Markt – Marke – Macht – Medien projektähnliche Formationen und wechselnde, oft nur kurzlebige Föderationen als eigentliche Bewegungsmomente herausstellen. Für Dirk Baecker wiederum ist die Realität längst von „parasitären Strukturen“ geprägt, denn „Projekte leben von Institutionen und Netzwerken, die Netzwerke und Institutionen leben davon, dass gewisse Dinge in Projektform realisiert werden.“ Für dadurch geförderte Wissenstransfers sei die Anschlussfähigkeit entscheidend und „welches Projekt man anschließend machen kann“. Die herrschende Willkür dabei konfrontiert mit gesellschaftlichen Fragen nach Kontinuität, nach Langfristigem, ob nun bezogen auf Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur oder internationale Beziehungen.

Dass Robinson Crusoe (geb. 1632) – „my head began to be full of projects and undertakings beyond my reach“ – und Daniel Defoe (ca.1660-1731) Zeitgenossen von kulturell weithin ausstrahlenden und wirkungsvollen Persönlichkeiten gewesen sind, entgrenzt die mit dessen Namen verbundene Isoliertheit: John Locke (1632-1704), Christopher Wren (1632-1723), Jan van Delft (1632-1675), dem Entdecker der Bakterien Anton van Leeuwenhoek (1632-1723), Baruch Spinoza (1634-1677), Isaac Newton (1642-1727), Antonio Stradivari (1644-1737), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), Feministinnen wie Aphra Behn (1640-1689) oder Mary Astell (1666-1731), Edmond Halley (1656-1742), Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656-1723), Henry Purcell (1659-1695), Jonathan Swift (1667-1745), dem Mediziner und Chemiker Herman Boerhaave (1668-1738), Giambattista Vico (1668-1744), Tomaso Albinoni (1671-1751), Antonio Vivaldi (1678-1741), Vitus Bering (1681-1741), René Réaumur (1683-1757), Johann Sebastian Bach (1685-1750), Georg Friedrich Händel (1685-1759), Daniel Fahrenheit (1686-1736), Montesquieu (1689-1755), Voltaire (1694-1778) oder David Hume (1711-1776).

Auf die eine oder andere Art sind sie alle, wie auch tausende anonym Agierende, in Projekte – also in von Routine abweichende Vorhaben, für die damals dieser Begriff gebräuchlich wurde – involviert gewesen. Bis in breite Volksschichten hinein lösten sich überkommene Gewissheiten auf. Das Bild von der Erde, der Welt, vom Universum begann durch Entdeckungen und auflebende Wissenschaften ein neues zu werden. Die Reformation hatte Gesellschaften gespaltet, die Enteignung der Kirchengüter drastische Umverteilungsprozesse in Gang gesetzt. „Im Jahre 1700“, resümiert Bertrand Russell mit erstaunlich optimistischem, tendenziell erfreuliche Perspektiven unterstellendem Unterton, „war die Anschauungsweise der Gebildeten schon völlig modern, 1600 jedoch, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, noch in hohem Maße mittelalterlich.“

Auch wenn ein solch deutliches Abgrenzen von Altem und Neuem wegen zeitlicher Verflechtungen des Geschehens und der Gedankenwelten inzwischen fragwürdig erscheint, ist die damit angesprochene Phase der frühen Aufklärung, des frühen Liberalismus, eines sich konstituierenden Individualismus – also etwa die Lebenszeit Daniel Defoes – auch aus heutiger Sicht eine vieles ausprägende Zeitspanne. Als Reservoir für Rückgriffe, einschließlich westlicher Fundamentalismen, dient sie unwillkürlich immer wieder. Allein schon die damals möglich werdende verwirrende Berufsvielfalt von Daniel Defoe, dieses exemplarischen citizen of the modern world, wirkt auf heute bezogen einerseits wie eine provokante Zuspitzung neuerlich offensiv geforderter Flexibilität und Verwendbarkeit, andererseits als Exempel dafür, wie sehr solche Projektleben von beruflicher und sozialer Kontinuität, Glaubwürdigkeit und hinreichenden Sicherheiten abhängig bleiben.

Als Geschäftsmann, Spekulant, Ziegeleibesitzer, Journalist, Regierungsberater, Geheimagent, Zeitungsherausgeber, Historiker, Schriftsteller repräsentiert er eine ständige Bereitschaft neu zu beginnen, in Parallelexistenzen zu leben, Beziehungsnetze auszunutzen, Generalistisches mit Spezialisierung in Balance zu halten. Als Angehöriger einer benachteiligten Minderheit, als Moralist, Rebell, Oppositioneller, Vorkämpfer für Toleranz, Popularisierer rationalen politisch-ökonomischen Denkens, als zwischen den Parteien pendelnder Reformer, ist er tief in einen widersprüchlichen, auf Realitäten reagierenden Aktivismus und in ständig neue Projekte verstrickt gewesen. Als Bankrotteur, Schuldner und Autoritäten beleidigender Kritiker mehrmals in Haft, hat er die Risiken exponierter Lebensweisen drastisch zu spüren bekommen, sich aber stets wieder neue Wirkungsbereiche erschlossen, sich von Projekt zu Projekt retten können. Daraus resultierende Imageprobleme hatten bis heute nachwirkende Folgen für die Wertschätzung, ohne dass deswegen Selbststilisierungen erkennbar geworden wären. Was für gewöhnlich an Vielfältigkeit geschätzt wird, aber den Rahmen und die Sicherheit eines Hauptberufs braucht, um realisierbar und verständlich zu bleiben, überlagert sich bei Defoe so, als ob er, wie ein Gentleman, der sich das leisten kann, solche Einteilungen und Berufsbindungen völlig negiert hätte, um Freiheiten des Dilettierens zu beanspruchen. Sein in England selbst für spätere Autoren nicht unbedingt ehrenrühriges Agieren als Geheimagent wiederum aktualisiert Fragen, aus welchen konkreten Gründen Derartiges unter anderen Umständen verwerflich erscheint.

Immerhin hatte sich Defoe gerade wegen seiner Eigenständigkeit vorerst als Publizist einen Namen gemacht; seit den späten Werken steht er plötzlich als jemand anderer da, als ein dem fortwährenden Wechsel zwischen Anonymität und verschiedenen Identitäten Entkommener. Ohne seine insgesamt über 300 ihm gesichert zuschreibbaren separaten Publikationen (John Robert Moore kommt sogar auf 550), die mit dem Essaybuch über Projekte ansetzen, hätten sich von seiner Vielfalt und seinem literarischen Potenzial kaum nennenswerte Spuren erhalten und somit auch keine Belege für die nur selten evident werdende Möglichkeit, dass Quantität unter Umständen in Qualität umschlagen kann.

 

Joyce D. Kennedy, Michael Seidel, Maximillian E. Novak (Hg.): The Stoke Newington Daniel Defoe Edition. An Essay Upon Projects by Daniel Defoe, New York 1999, S. XV, XXI, XXXXII

John Robert Moore: Daniel Defoe. Citizen of the Modern World (1958), Chicago-London 1970, S. 283

Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 2000, S. 116

Francis Bacon: Ilse Vickers: Defoe and the New Sciences, Cambridge 1996

Keith Thomas: Vergangenheit, Zukunft, Lebensalter. Zeitvorstellungen im England der frühen Neuzeit, Berlin 1988, S. 68ff.

Paula Backscheider: Daniel Defoe. His Life, Baltimore-London 1989, S. 70; Werkverzeichnis: S. 617ff.

Daniel Defoe: Robinson Crusoe (London 1719), London 1988, S. 58

1600, 1700: Betrand Russell: Die Philosophie des Abendlandes (A History of Western Philosophy, 1946), Wien 1975, S. 546

Defoe-Zitate: Ein Essay über Projekte, diese Ausgabe, Seite 171, 190, 97, 213, 217, 229

Konflikte der Defoeforschung: P. N. Furbank, W. R. Owens: The Canonisation of Daniel Defoe, New Haven-London, 1988

 

 
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© Christian Reder 2006