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Falter Verlag
   

"Die Frau Mitzi"

"Wie alles anfing"
"In Stammlokalen"

alle in: Wien, wie es ißt...
Falter Verlag, Wien 1983

Texte zum Sozialverhalten

 

 

 

 

Die Frau Mitzi
Koranda, Gösser Bierhaus, 1., Wollzeile 38

Mitternacht ist schon eine zeitlang vorbei, die Ober und die Frauen aus der Küche sind längst gegangen. Wie sooft hat sich eine einzige Tischrunde noch nicht aufgelöst, weil sich die Frau Mitzi sowieso immer noch irgendeine Beschäftigung findet und solange sie es erlaubt, können ihre Gäste auch bleiben. Seid's eh noch da, bis ich wiederkomm', ruft sie herüber und nimmt ihre Mira an die Leine: Wißt's eh, sie hört nix mehr und siecht nix mehr, sechzehn Jahr' ist's halt schon alt, aber lieb ist's, net? Komm', gemma gassi. Für zwanzig Minuten hüten die Stammgäste das Lokal und nachher hat sie noch immer nichts gegen eine weitere Abschiedsrunde. Ich frage sie über die Schank hinweg, wielange das schon wieder her sei, daß wir ihren Siebzigsten gefeiert haben. Fünf Jahr' sind das schon wieder, aber siehst eh, ich bin noch jeden Tag da, wie immer, von neun bis um drei, dann ist Zimmerstund', um sechs komm' ich wieder und vor eins bin ich nie im Bett. 1927 bin ich ins Haus gekommen, das ist jetzt 56 Jahr' her, daß ich da bin, und ich hab' ja immer gleich oben gewohnt und deswegen ist es ja klar, daß ich immer die Letzte bin. Das war von Anfang an so, zuerst wie's noch der "Sommer" war und auch dann, wie's der Herr Koranda übernommen hat - das war im 62-er Jahr. Und immer war ich für die kalte Küche da, für die Salate und so. Wir war'n ja einmal praktisch weltberühmt, wie das Simpi noch das Simpl war, na das war'n Gäst' damals und bummvoll war's immer. Wo sie eigentlich her sei, frage ich, und frage mich damit zugleich selbst, warum ich das erst jetzt tue, wo wir uns doch schon so viele Jahre kennen. Ich bin aus dem Burgenland, aus Maria Loretto und daher zu kommen, das war ja damals was. Ich war ein Waisenkind, die Großeltern haben mich aufgezogen und wie sie gestorben sind, bin ich zu einer Tant' gekommen und die hat mir dann diese Stelle hier besorgt. Das war echt ein Glück, in der schlechten Zeit damals, da sind wir ja alle weg aus dem Burgenland, wenn's gegangen ist. Und seither leb' ich da, zum Heiraten bin ich nie gekommen, aber alle mögen mich da und deswegen tu' ich das alles auch sehr gern. Wie ich als a Ganzer heiß? Na das sag' ich dir auch noch: Mitzi Schmiedbauer. Und sogar ein Foto kriegst, weilst eins willst, eins auf dem man mich kennt.

 

 
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Wie alles anfing
Szenenausschnitt: Innenstadt

Eingehen wird jedes Lokal einmal. In die Geschichte eingehen wird es auch, soferne es mit Leuten zu tun bekam, von denen eben dieses später behauptet wird - egal, ob es sich dabei um öffentliches oder bloß privates Erinnern handelt. Lokalgeschichte ist immer auch Lokalgeschichte.

Adolf Loos hat lapidar gefordert, daß ein Ding solange ästhetisch halten solle, als es physisch hält. Seine Kärntner Bar wird demnächst fünfundsiebzig und in den Kellern unter ihr begann 1951 ziemlich formlos und mit billigsten Mitteln eine andere Ära bekanntgewordener Treffpunkte. im sechs mal acht Meter großen Strohkoffer des Art Clubs, dem kurzlebigen Stammlokal heutiger Kunstprofessoren, Staatskünstler und ihrer damaligen Freunde (u. a. Bertoni, Brauer, Fuchs, Gütersloh, Hausner, Hollegha, Hundertwasser, Hutter, Lassnig, Lehmden, Mikl, Moldovan, Rainer, Unger). Tagsüber war der mit Schilfmatten ausgekleidete Raum eine schlecht besuchte Galerie, abends der überfüllte Schauplatz des Neubeginnens. Joe Zawinul oder Friedrich Gulda haben dort gespielt (natürlich auch Uzzi Förster), Jean Cocteau bekräftigte Parallelen zu St. Germain des Pres. Das Ganze hielt sich aber psychisch nicht sehr lang und die Übersiedlung ins puristisch gestylte Dom-Café in der Singerstraße brachte statt neuem Aufbruch das Ende. Eine gedruckte Erinnerung setzte unlängst eine Art endgültigen Schlußpunkt (Ausstellungskatalog des 20er Hauses: Der Art Club in Österreich, 1981).

Die Legende ist geblieben genauso wie die damals von den lebendigeren Wiener Kreisen wiederaufgenommene Tradition, nach der es primär ums Zusammensitzen geht, um Männer und Männer, um Männer und Frauen und ums dazu nötige Trinken. Bei der auswärts käuflichen Gastlichkeit spielte das Essen lange Zeit keine Rolle, erst recht spät hat es sich als gelegentliche Erweiterung avantgardistischer Möglichkeiten durchgesetzt. Die Burenwurst und die Gulaschsuppe genügten, solange anderes wichtiger war, wie vor allem der Jazz und das Zusammentreffen mit anderen Menschen. Der Tunnel (heute das Scotch am Parkring) war dafür damals ein wichtiger Ort, dann die Adebar in der Annagasse (inzwischen längst ein Wienerwald), das Tabarin (jetzt die Tenne) oder das Domino in der Krugerstraße. Von der Musik her waren auch noch die Wendeltreppe wichtig (unter dem ehemaligen Cafe Siller / heute Mac Donald's in der Mariahilfer Straße), die Hängematte und am Anfang natürlich auch Fatty's Saloon am Petersplatz. Der Jazz Freddy im 7. Bezirk, das Jazzland am Kai und die Jazz Gitti konnten Erinnerungen an die ersten Existentialistenkeller am Leben erhalten, indem sie am Rand des übrigen Geschehens unbeirrt weitertaten.

Von den vielen Cafés hat sich das Hawelka früh für hiesige Minoritäten geöffnet und ist dadurch nie in die Gefahr gekommen, vom Sog des damals einsetzenden Cafésterbens erfaßt zu werden. Das alte Café Stambul am Fleischmarkt, der noch die Anwesenheit des Pressehauses spürte, war ein beliebter Aufenthaltsort. Und sogar Politiker hatten noch ihr Stammcafé, wie etwa Bruno Pittermann das Café Resch, weit draußen in Meidling (inzwischen auch ein Wienerwald). In der Schönlaterngasse kündigten das Steffi, das Café Sport und das Abbazia an, daß aus dieser Gegend einmal etwas werden würde. Im Café Bazar auf der Wollzeile (heute das Stambulia) wurde das Ende der Duffle-Coat-Zeit erkennbar. Die zweite Generation junger Wilder ging von Schwarz, Rollkragenpullover, engen Röcken und Ballerinaschuhen langsam auf Tweed über und bevorzugte vorübergehend Espressos, wie eben das Bazar, die Aida am Stephansplatz und bei der Oper, das Europe am Graben, das Briex am Kärntner Ring.

Die wieder zu Geld gekommenen Bürgersleute gingen unterdessen sonntags ins Hotel Regina, in den Gösserkeller in der Elisabethstraße, in den Rathauskeller oder ins Deutsche Haus am Stephansplatz. Der Stadtkrug (angeblich ein Lieblingslokal Hitlers und anderer NS-Größen) setzte seine Karriere als beliebtes Nobelrestaurant ungebrochen fort. Und wer bei den Drei Husaren einen guten Tisch bekam, der war eben wer.

Für ein erschwingliches Essen waren das Weinhaus Deutsch in der Naglergasse berühmt (das später dann zum Budva wurde) - gebackener Emmentaler mit Erdäpfelsalat kostete dort Fünfschillingfünfzig - und das Dalmatia auf der Tuchlauben (Ecke Kleeblattgasse). Das OK des Otto Kaserer visavis des Cafe Pöchhacker (jetzt Schöps) bot ähnliches, bevor es umgestaltet und teilweise von IKEA besetzt wurde. Für eine trinkfreudige Eßkultur haben sich hauptsächlich Jugoslawen, Rumänen, Ungarn und Griechen Verdienste erworben und sie waren auch die Pioniere beim Hinausschieben der Sperrstunde. Das alte Beograd in der Singerstraße (längst eine Billa-Filiale), das Abbazia, das alte Bukarest, das Ilona Stüberl oder das Hellas waren erste Zielpunkte innerstädtischer Gruppenreisen, bei denen es auch ums Essen ging. Mit 100 Schilling war zu zweit schon ein ganz schöner Abend drinnen und meistens zahlte irgendwer noch ein paar Runden oder jenen alles, die nichts verdienten. Im Weißen Rauchfangkehrer gab es billige Tagesgerichte und der zahlungsschwache Gast wurde nicht geschnitten. Die Drei Hacken in der Singerstraße waren in den 60er Jahren wegen Normalität, Preisen und Schanigarten ein beliebter Versammlungsort im Zentrum. Auch der alte Figlmüller war eine solche Möglichkeit. Das Göttweiger bot sich eher für Treffen zu zweit an, weil dort andere Stammgäste erfreulicherweise die Ausbreitung neuer Cliquen blockierten. Die Kombination aus Niedergang und Aufwärtsentwicklung bei dem Alltag dienenden Eßlokalen verstärkte die Monopolstellung des Koranda (früher Sommer) in der Wollzeile. Dem Grünen Anker wurde durch die Nähe der wichtigen Kunstgalerien eine Sonderstellung aufgezwungen, die seinen Besitzer oft unglücklich machte. Die Überfälle von Vernissagebesuchern sind inzwischen abgeebbt und lebloser geworden.

In der Annagasse und sonstwo entstanden etwas verjüngte Edens und Splendids vom Typ "Playboy" oder Atrium" und zogen Publikum aus Döbling und Hietzing in die Stadt. Als Reaktion darauf wanderte die Musik wiedereinmal hinaus in die Vororte. Das San Remo in der Neubaugasse (später Camera Obscura) brachte einen Durchbruch. Charly Ratzer, Padhi Frieberger & Co. spielten dort. Das Voom Voom in der Josefstadt war eine zeitlang wichtig. Mit dem Vanilla in der Strauchgasse, das dann zum Ronacher übersiedelte, gab es auch im ersten Bezirk wieder derartiges. Später folgten der Spiegel und das Montevideo in der Annagasse.

Die politische Bewegung erfaßte auch die Lokalszene. Vom Hawelka spaltete sich das radikalere Cafe Savoy ab (heute ein Chinese), das dem dort entlaufenen langjährigen Ober, dem Herrn Theo, zu verdanken war. Er scheiterte damit in Solidarität zu vielen seiner Stammgäste. Ein zweiter Hawelka-Ober, der Herr Heinz, ging die andere, noblere Richtung (Krüger's Café) und war damit kommerziell erfolgreich, wie sollte es auch anders sein.

Und damit waren eh schon die 70er Jahre da, an die sich inzwischen jedes Kind erinnert. Das Kleine Café nahm einiges der Café-Sport- und Café-Savoy-Tradition wieder auf, ohne sich der Qualität zu verschließen. Aus ihm wurde schwesterlich die Wunderbar geboren. Oswald & Kalb begann, auf manische Weise die Bedürfnisse nach Speisen und Getränken zu befriedigen und dann waren plötzlich Dutzende legitime und illegitime Kinder da und auch die weltoffene Nähe zur voll erschlossenen Düsseldorfer Altstadt. Aber Quantität soll ja in Qualität umschlagen, hat es einmal geheißen.

 

 
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In Stammlokalen

Schon das richtige Hineingehen erfordert langjährige Übung. Ein paar unkonzentrierte Augenblicke verhauen den ganzen Abend. Regen und Kälte machen alles leichter, da einem das Mantelaufhängen manchmal zu einer unauffälligen Übersicht verhilft, immer aber zu einem Zeitgewinn. Normalerweise geht jedoch alles sehr schnell und meistens gleich ums Ganze. Nur die Kunst des Sehens vor dem Gesehenwerden hilft einem weiter. Aus den Augenwinkeln heraus müssen alle Tische erfaßt werden, und der Instinkt muß blitzschnell befehlen, welchen man ansteuert. Ein zu früher offener Blick wird sehr leicht eingefangen und dann ist auch schon der Zwang zum Gruß und zu ein paar Worten da und vielleicht auch die Einladung Platz zu nehmen. Die Freiheit der Wahl ist damit beim Teufel, weil ja weiter hinten noch eine mehr versprechende Runde locken könnte. Ein späteres Wechseln ist immer eine mühsame Sache, weil keines der Rituale so richtig für diesen Vorgang geschaffen ist. Wer einmal weit und scheinbar gedankenverloren in den Raum vorgedrungen ist, kann sich jedenfalls auf überlegenere Weise den sich anbietenden Möglichkeiten ausliefern. Ohne Peinlichkeit lassen sich dann Augenbrauen, Kinn oder sogar die Hände grüßend nach dahin und dorthin heben und plötzlich begleitet einen die Selbstverständlichkeit zu einem bestimmten Tisch, so als wäre alles ausgemacht. Wer es geschafft hat, ohne auffälliges Zögern seinen Platz für diesen Abend zu finden, ließ keine Unsicherheit in seiner Einschätzung der gerade aktuellen Rangordnung erkennen und dies nötigt auch den quasi Übersehenen Respekt ab. Dem Perfektionisten ist von all dem nicht das geringste anzumerken, weil es sich hinter freundlicher Bescheidenheit verbirgt.

Für mehrere aufeinander übergreifende Gruppierungen sind daher übersichtliche, helle Lokale als Treffpunkt naheliegend. Beim Vorhandensein mehrerer Räume und schlechter Beleuchtung lassen sich Gequältheiten kaum vermeiden, soferne es nicht bereits allzu geschliffen zugeht. Ist dem zum Essen vorgesehenen Bereich eine Stehbar vorgelagert, wird das Procedere anscheinend unkomplizierter; eine Anwärmphase macht mutiger, Gerüchte über Tischkonstellationen liefern Entscheidungshilfen. Ein wunschgemäßes Vordringen ins Innere des Lokals wird jedoch nur mit zusätzlichen Verhaltensadaptionen gelingen. Der Blick um vorhandene Ecken muß bis zur Meisterschaft kultiviert sein. Hat sich endlich die Wahl des Sitzplatzes ergeben, werden umherstreifende Neuankömmlinge zu einem ständigen Hin- und Wegschauen zwingen, mit dem ein Entstehen völlig unkontrollierter Tischrunden bekämpft werden soll. Intelligente Wirte installieren deswegen meist einen großen Stammtisch, an dem eine dosierte Wahllosigkeit stattfinden kann, und ansonsten eher kleinere Tische, deren Verteidigung den Abgesonderten leichter fällt.

Gasthäuser sind für den Fremden geschaffen worden, aber in Stammlokalen wird dieser von den einander Bekannten verdrängt. Sie geben den Ton an und zwingen Fremde solange zum Zusammenrücken, bis sie eine Übersiedlung anbieten oder sich in irgendein anderes Schicksal fügen. Vereinzelt entwickeln sich aus solchen Bemühungen um einen geselligen Eßplatz sogar tatsächlich neue Kontakte. Beim nächsten Zusammentreffen nickt man einander zu und diese neue Gewohnheit wird dann oft über Jahre hinweg beibehalten. Das alles gilt natürlich nur für das überfüllte Lokal. In einem hinreichend leeren sieht die Welt ganz anders aus. Dem ersten einer möglichen Tischrunde kommt dort eine besonders wichtige soziale Rolle zu, vor der sich viele drücken und deshalb lieber später kommen. Wer sich auf sie einläßt, wird Stammtischen fernbleiben und sich einen Platz etwas abseits vom üblichen Revier seiner Kumpanen suchen, da ihm andernfalls jedes Recht genommen wäre, jemand Zugehörigen abzuweisen. Damit signalisiert er einen gewissen Willen zu eigener Entscheidung und wer sich auskennt, wird dies bemerken. Oft ist es aber angebracht, das Wissen um solche Zeichen durch ergänzende Handlungen zu verstärken, wie Zeitunglesen, ein ostentatives Zerstreutsein oder ein bedauerndes Mienen- und Händespiel. Es geht ja darum, vorerst nicht sozusagen Jedermann an seinen Tisch zu lassen. Erst wenn tatsächlich eine Person seines Beliebens erscheint, wird der Gründerzeittyp erfreut aufschauen und damit versuchen, den nach ihm zweiten Grundstein zu einer vielversprechenden Tischrunde zu legen.

Wer sich die Verhaltensweisen eines erfahrenen Lokalmenschen angeeignet hat, für den ist all dies weit weniger anstrengend, als es hier klingen mag. Und wenn es Pannen gibt, und die gibt's oft, dann bietet der nächste Abend bestimmt eine Chance dafür, selbst weniger Fehler zu machen. Das Essen findet so zwischendurch statt und irgendwann rund um Mitternacht ist auch meistens die Stimmung ganz gut. Aber Ereignisse sind eben nicht Sache jedes ganz gewöhnlichen Tages.

Der Experte sagt zu all dem "fließende Sozialisation". Durch das Zusammensitzen in Gasthäusern entwickeln sich Bekannt- und Freundschaften, in der Regel langsam, fallweise auch eruptiv. Gleichgeschlechtlich halten sie meistens lange. Formalitäten des Telefonierens, des sich Treffens, des sich gegenseitig Einladens entfallen zugunsten beeinflußbarer Zufälligkeiten. Vieles wird öffentlich. Um gute Gasthäuser entstehen neue Großfamilien.

 

 
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© Christian Reder 1983/2001