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www.ChristianReder.net: Publikationen: Schichten privater Orte
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Böhlau Verlag
   

Schichten privater Orte.
Verbindungen zwischen unzusammenhängenden Räumen

In: Bernhard Schneider / Richard Jochum (Hg.): Erinnerungen an das Töten. Genozid reflexiv.
Böhlau Verlag Wien - Köln - Weimar 1999

Eine Topologie des Erinnerns bzw. des Vergessens, die sich mit Mustern und Voraussetzungen befaßt, nach denen kollektive Regeln und Formen von 'Gedenken' kreiert werden, sowie mit der Frage, ob es eine 'Gedenkkultur' gibt, die sich selbst noch einmal kommuniziert, beobachtet, reflektiert und verändert.

Mit Beiträgen von Israel W. Charny, Mirjam Karoly, Mihran Dabag, Mike Austin, Jody Narandran Kollapen, Wulf D. Hund, Harald Wilfing, Sibylle Moser, Albert Kraler Vladimir Wakounig, Dan Bar-On, Franz Schuh, Annegret Ehmann, Christina von Braun, Gero Fischer, Gerlinde Haid, Ursula Hemetek, Shimon Samuels, Christian Reder, Suzanne Plog-Bontemps, Gabi Dolff-Bonekämpfer, Daniel Mintz, James E. Young, Jochen Gerz.

 

 

Sie waren einfach nicht da, die Menschen, die Heranwachsende aus dem verbindenden Schweigen herausgeholt hätten. Das ist mir damals normal erschienen, weil es als normal hingestellt worden ist. Im privaten Umgang, in den Schulen, an der Universität, sind - anders als anderswo - die längste Zeit nie konträre Stimmen laut geworden. Abweichungen waren nur autodidaktisch möglich oder bei nicht in solcher Weise gebundenem sozialen Hintergrund. Derartiges immer wieder zu konstatieren, als eine Grunderfahrung, hat Energien von freieren Feldern ferngehalten. Was sich als Bewußtsein bezeichnen ließe war eingezäunt worden. Mit dem ersten eigenen Reagieren auf das Wiederholen unerträglicher Standpunkte hat sich das langsam geändert. Diese rebellischen Haltungen sind, so gesehen, also auch bloß eine Reaktion gewesen, eine Reaktion auf das damals ständig erlebte Verhalten. Autoritäre Prägungen haben sich neue Formen gefunden. Impulse erfreulicher Entwicklungen sind aus anderen Richtungen gekommen. Das mag, als kurzgefaßter Einstieg zu einer biographisch determinierten, von Atmosphären abhängigen Sicht der Dinge einseitig klingen, wie ein fiktiver Common sense. Evident ist jedoch, daß an 'unverdächtigen', zur Verteidigung der Gegenseite nominierbaren Zeugen weiterhin kein Mangel herrscht.

Tagebücher eines einflußreichen 'Onkels', aus denen hier zitiert wird, machen das deutlich. Die Aktualisierung derartiger Haltungen, die wiederkehrenden Ausdrucksweisen und Denkmuster nehmen solchen Rückgriffen etwas von ihrer Gestrigkeit. Idyllisch in seinem Bauernhaus im Salzkammergut lebend, ist er, als es soweit war, in eine naheliegende Kaserne einberufen worden, das spätere KZ Ebensee, eines der grausamsten Nebenlager von Mauthausen. Von dort ging es weiter, 'mit unbekanntem Ziel'. Erst zu Kriegsende erwähnt er diesen Ort wieder. Für ihn war das irgendein Lager, mit dem er weiter nichts zu tun gehabt hat. Bemerkenswert wurde es erst aus Angst vor Plünderungen durch befreite polnische und russische Häftlinge. Nur die Franzosen, als 'Elite', hätten sich selbst unter solchen Umständen zivilisiert verhalten, schreibt er. Die meisten Befreiten kamen ihm 'heiter vor, wie Auferstandene'. Besonders vermerkt wird, daß ein farbiger Amerikaner ein Mädchen vergewaltigt habe. Von den Konzentrations- und Vernichtungslagern in den besetzten Ostgebieten, die für ihn 'Randstaaten' waren, sagt er mehrfach, mit der ihm eigenen dichterischen Freiheit, daß sie 'Schinderhütten' gewesen sind, unerklärliche, mysteriöse 'Tabustätten schauerlicher Art'. Vom organisierten Massenmord gewußt hat er nach eigenen Angaben ab 1942; in meiner engeren Familie ist mir dafür das Jahr 1944 genannt worden. Zur gleichen Zeit notiert er: 'Sterilisierung und Tötung von Irren', 'die Dezimierung der Juden (führt) zur Verbreitung jüdischer Eigenschaften in der Welt, in der alttestamentarische Züge sich ausbreiten'. Betont hat er, der Ästhet, ständig die 'Häßlichkeit' der Zustände, 'den Schmutz der Praxis, die untersten Triumphe der Ökonomie'. Wichtiger werden rasch die aktuellen Schrecken bei der Vertreibung der Sudetendeutschen, der eigenen Leute also, mit 'Einzelheiten, die alles unterbieten, was ich in unserer an solchen Schrecken doch überreichen Zeit seit 1917 vernommen habe'.

Dieser 'Onkel' ist erfunden, was er sagt ist es nicht; zitiert wird Ernst Jünger, weiterhin eine erste Adresse für dieses nachwirkende geistige Klima. Aussagen und Tonfall seiner Tagebücher hätten im Umfeld, in das ich geraten bin und bei irgendwelchen anderen gebildeten, bürgerlichen, privilegierten (etc., etc.) Familien durchaus dazugepaßt, sozusagen als verschärfte, eher Thomas Mann als Arthur Schnitzler ablösende Form, eigene Meinungen aufgewertet zu finden. Mir kommt das alles sehr bekannt vor, wie eine Präzisierung. Berichte aus dem Jenseits sind das keine. Dabei ist von ihm kaum die Rede gewesen, wahrscheinlich wegen seines Nihilismus und seiner Sprachqualität. Geurteilt wurde ohnehin nach einheitlich-kritischen Standards. Die Ähnlichkeit mit seinen Auffassungen ist hinter Idealisierungen verborgen geblieben. In der Vermischung mit Privatem und durch Konkretisierung zugehöriger Orte wird im Detail manches genauer, greifbarer, angreifbarer, inklusive der Präsenz von Klischees. Ernst Jüngers privater Ort ist Kirchhorst in der Nähe von Bergen-Belsen gewesen, das in den eingangs benutzten Zitaten zur Provokation regionaler Nähe durch Ebensee / Mauthausen ersetzt worden ist. In Bergen-Belsen hat für ihn der 2. Weltkrieg begonnen. Das hat offensichtlich weder sein Bewußtsein noch das von Kommentatoren besonders berührt. Für eine andere Symbolfigur, Anne Frank, war es der Endpunkt. Ihm ist es erst nach der Befreiung bedrohlich erschienen. Das wirklich Entsetzliche habe sich im Osten und nicht in Deutschland abgespielt, so die mitschwingende, bereits dem Kalten Krieg dienliche Verschleierung. Als sechs überlebende Juden auf seinem Hof erschienen sind, hat er sich veranlaßt gesehen, über einen ihm vorgehaltenen Satz nachzudenken. 'Die Zahl der Leidenden ist bedeutungslos' wird interpretiert und ergänzt: 'Nur der Anblick des Einzelnen, des Nächsten kann uns das Leid der Welt aufschließen'; Schmerz kann 'nur Sinn gewinnen, wenn es Menschen gegeben hat, die aus der Zahl in die Bedeutung eintraten. Das allein überhöht die Katastrophe und führt sie über die leere Umdrehung hinaus, über den Wirbel, dem immer neue Rachescharen zuströmen'.1

Milieu: katholisch, deutschnational

Unter Erwachsenen, wie ich sie aus meiner Wiener Umgebung der 50er-Jahre und danach in Erinnerung habe, sind selbst solche Nuancierungen die Ausnahme gewesen. Sympathien gegenüber den meisten Wahlonkeln und ihren Frauen hat sowas nicht beeinträchtigt. Mitbekommen haben Jugendliche ja nicht so sehr Argumentationen, sondern Gefühle, Andeutungen und einen Fluß unverständlicher Einzelheiten. Erst schrittweise wurde deutlich, daß viele tatsächlich überzeugt waren, die politisch interessanten Zeiten seien vorbei. Schuld daran und an nicht gewollten Unmenschlichkeiten sind andere und die unglücklichen Umstände gewesen. Dem Gefühl, überlegen und höchst integer zu sein, hat das alles nicht geschadet. Man gehörte zu den Anständigen und Fleißigen und denen war klar, daß jetzt rundum Korruption herrschte. Zur NS-Korruption wurden nur verschämt Bezüge hergestellt. Wer an 'Arisierungen' beteiligt war, für den hatte alles seine, rechtlich gedeckte, Ordnung gehabt. Was noch zurückgegeben werden konnte ist schließlich zurückgegeben worden. Im übrigen war Krieg. Die Beschäftigung mit einer rigiden Sexualmoral hat mehr Kraft gekostet als die Revision eigener Standpunkte. Von einer derartigen Innensicht dürften auch andere solche, ansonsten eher unauffällige Familiengeschichten geprägt sein. Eine 'Überhöhung durch Einzelne' ist nur in früheren Zeiten oder durch Interpreten für möglich gehalten worden, sei es künstlerisch oder politisch. Zeitgenössisches hat niemanden wirklich interessiert. Es ist Bestätigung gesucht worden. Den eigenen Kindern Selbstvertrauen zu vermitteln, hat meistens nicht funktioniert; unter den gegebenen Umständen war das gut so. Für Spezialisten, und zur Verdeutlichung der Argumentation, einige Namen aus diesen Kreisen, manche davon haben sogar geschichtliche Relevanz: Emil Oswald, eine der Ausnahmen, ist von den Männern der weltläufigste gewesen; als junger Offizier verwickelt in die Restaurationsversuche Kaiser Karls in Ungarn, Monarchist, Liberaler, Linkstendenzen, Beschützer seiner jüdischen Frau, eineinhalb Jahre im Konzentrationslager, dann bis Kriegsende beschäftigt von meinem Vater, führendes Mitglied des österreichischen Widerstandes, Freund des Kommunisten Ernst Fischer, Mitbegründer der ÖVP, schließlich Direktor der Urheberrechtsgesellschaft AKM, Lieferant der ersten Jazzplatten. Ebenfalls aus einer anderen Welt schien Ljuba Welitsch zu kommen, herzlich, direkt, viel eigenwilliger als es einem sonst vorgeführt wurde; privat oder als 'Salome' in der Oper hat sie sowas wie erste Vorstellungen von Leben, von Intensität ausgelöst. Wegen einer nicht akzeptierten Ehe ist der Kontakt plötzlich abgebrochen. Im Prinzip war es eine reine Männergesellschaft; von jenen, die befreundet blieben, sind fast alle mehr oder minder in NS-Parteizusammenhänge eingebunden gewesen. Einige waren Schüler von Othmar Spann ('Der wahre Staat'), von Heinrich Srbik ('Deutsche Einheit'), einige Mitglieder des reformkatholischen Bundes 'Neuland' (wie Monsignore Mauer, Gründer der Galerie nächst St. Stephan, oder Otto Schulmeister, langjähriger 'Die Presse'-Chefredakteur, zu denen es keine regelmäßige Verbindung mehr gegeben hat), also sich durchaus der Intelligenz zugehörig fühlend. Der Vater, Chef der großen Holzfirma J. & C. Reder, seit 1934 illegaler Nazi, im Krieg Wehrwirtschaftsführer (der Anschluß: sein glücklichster Tag), Taras Borodajkewycz (Professor an der Hochschule für Welthandel, mit seinen antisemitischen Vorlesungen Auslöser der Demonstrationen, die zum Tod des Antifaschisten Ernst Kirchweger geführt haben; ein Echo seiner Texte findet sich noch in den Bekennerschreiben zu den Briefbomben der 90er-Jahre; publizistisch bekämpft haben ihn vor allem die Studenten Heinz Fischer, später Nationalratspräsident, und Ferdinand Lacina, später Finanzminister), Helmut Wobisch (Geschäftsführer der Wiener Philharmoniker, Verbindungsmann zur Wiener Musikwelt und der dort versammelten Borniertheit), Isidor Amreich (renommierter Gynäkologe, mein erster Zugang zu einer wirklichen Bibliothek, mit allen Karl May- und Tarzan-Bänden), Anton Böhm (Neuland-Führer, prominenter Katholik, NS-Mitglied, im Krieg im Außenministerium in Berlin, Sympathisant des Widerstandes des 20. Juli, dann Chefredakteur des rechtskatholischen 'Rheinischen Merkur' in Köln). Hermann Neubacher, erster NS-Bürgermeister Wiens, war manchmal Gast. Auch Josef Klaus, später Bundeskanzler, gehörte früher zu diesem Bekanntenkreis; bis Kriegsbeginn hat er eine Zeitlang in der Firma meines Vaters gearbeitet (die schließlich, wie viele andere in der Branche, nach dem Wirtschaftswunder in Konkurs gegangen ist). Weitere dieser alten Freunde waren Wilhelm Wolf, kurzfristig Außenminister der Regierung Seyß-Inquart; von Heydrich hatte er, zurückgekehrt aus dem gerade besetzten Prag, schockiert berichtet, er habe 'in die Augen des Teufels geblickt', sein tödlicher Autounfall bald darauf ist, so hat es immer geheißen, wahrscheinlich ein Attentat, jedenfalls aber für einen solchen Idealisten ein Glück gewesen; oder der Historiker Franco Valsecchi, der seine 'den deutschen Freunden' gewidmete Geschichte der faschistischen Revolution ('Das moderne Italien'), mit dem Bekenntnis enden ließ, die Wege Roms und Berlins verbinde 'die Poesie eines titanischen Bemühens, die Welt zu erneuern'. Die Liste ließe sich fortsetzen. Soldat war kaum einer von ihnen. Im Zivilleben unverzichtbar zu sein, hat gegenseitige Wertschätzung produziert. Gleichförmigkeiten ergeben sich auch aus der Nähe von Begeisterung und Enttäuschung. Sich als Überlebende zu fühlen hat Solidaritäten bestärkt. Große Wahlmöglichkeiten habe es keine gegeben, auch nicht später, unter demokratischeren Verhältnissen. Bürgertum, im Sinn halbwegs durchgehaltener Verantwortlichkeit, ist das nicht mehr (oder noch nicht) gewesen, sowas ist eher gespielt worden. Die Beziehungen stammten einfach aus der Jugend und aus kaum revidierten studentischen Prägungen. Der wegen der Massaker in Marzabotto in Italien inhaftierte 'letzte Kriegsgefangene', der SS-Major Walter Reder, war ein entfernter Verwandter; persönlich gekannt hat ihn niemand von uns. Eugen Kogon ('Der SS-Staat'), selbst lange im KZ, hatte einmal zu diesen Jugendfreunden gehört; nach dem Krieg gab es keine Kontakte mehr mit ihm.2

Neo-Nazis sind schließlich kein zentrales Thema mehr gewesen. Zugehörige Ansichten haben ihre weitverzweigte Wirkungsgeschichte getrennt davon entfaltet. Tiefgreifende persönliche Konflikte hat es auch ohne neue Gruppenbildungen gegeben. Was jeweils als Verrat eingestuft wurde, hat kein Außenstehender begreifen können. Es blieb auch unbeantwortet, wie Katholiken mit den angekündigten und dann praktizierten Vorstellungen von Menschenrechten zurechtgekommen sind. Die zunehmende Entmischung herzeigbarer und weniger herzeigbarer Personen brachte eine gewisse Normalisierung. Treue zu einmal verfestigten Standpunkten hat sich anders geäußert, klimatisch, in der Abwesenheit von Gegenpositionen. Selbst das wiederholt sich ununterbrochen, als stereotype Gruppendynamik, unabhängig von Inhalten. Zur 2. Republik gab es ein sehr distanziertes, oft aggressiv-ablehnendes Verhältnis; davon scheint sich einiges vererbt zu haben, auch wenn die Motive später ganz andere waren. Nur von Künstlern durfte eine solche Kritik nicht kommen. Der 'normale' österreichische Antisemitismus ist von den Ereignissen unberührt geblieben. Auf die Jüngeren übertragen hat sich das nicht so ohne weiteres, auch nicht, daß solche ehemalige Nationalsozialisten mit Sozialistischem, und auch Liberal-Libertinäres hat als solches gegolten, nichts zu tun haben wollten. Dessen fallweises Eingehen auf ihre Themen haben sie für eine Hinwendung zur Vernunft gehalten. Dazu Ernst Jünger, mit Worten diese Art sich laufend neu konstituierender Wirklichkeit vorwegnehmend: 'Die Bewegung von der extremen Linken zur Rechten bringt mehr Realität, mehr Kenntnis der politischen Grundprinzipien mit sich als die umgekehrte Wendung, bei der die Phrasen schwieriger abzustreifen sind.' Trotzdem war der Krieg mit Rußland, das absurder Weise für die Schutzmacht aller eher linken Ideen gehalten wurde, - neben 'der Sache mit den Juden', der 'schlechten Behandlung' der Polen, der Ukrainer - als Anfang vom Ende eingeschätzt worden. Ohne solche 'Fehler' hätte es den ersehnten großen, überlegenen, autoritären Staat geben können, als das neue, von einem Deutsch-Österreicher geschaffene Reich, aus dem ein ideales christliches Römisches Reich deutscher Nation werden sollte. Das ist als die eigentliche Mission hingestellt worden, um sich als Deutscher endlich vollwertig, also überlegen, vorzukommen. Der Angriffskrieg war eine Verteidigung. Deswegen hat auch die nur leicht desillusionierte Übertragung auf Amerika so gut funktioniert. Zur Entlastung ist die eklatante Modernität des NS-Systems von sonderbar agrarischen Vorstellungen überlagert geblieben, mit der von oben beschützten Idylle als zentraler Fiktion. Im folkloristischen Selbstbild Österreichs hat sich davon, einschließlich der bis Waldheim dauernden anti-urbanen Schweigsamkeit, mehr erhalten als anderswo. Geschwiegen wird auch jetzt noch genug. Diverse Nahverhältnisse machen offenkundig, daß es primär um den Machterhalt von Aufsteigern gegangen ist, die diesen Aufstieg von den politischen Umständen, denen er zu verdanken war, abgekoppelt haben. Die extrem erlebte Unvereinbarkeit von Moral und Politik hat sogar das Gefühl bestärkt, weiterhin einer moralischen Elite anzugehören. Die gängige Ablehnung von Parteifunktionären dürfte mit dieser Selbsterfahrung zu tun haben. Nochmals einer Partei beizutreten war undenkbar. Der Zugang zu neuen Möglichkeiten hat sich mit den alten Verbindungen ohnehin sichern lassen, nur die Bezugssfelder haben sich langsam verschoben. Von jenen, die wieder weiter ins öffentliche Leben, in die Medien, vorgedrungen sind, kamen auch keine substantiell anderen Beiträge (schon gar nicht von Gerd Bacher, Hans Dichand & Co., selbst Bruno Kreisky hat allzu oft dazupassende Standpunkte eingenommen). Privat war der Ton durchwegs radikaler, als öffentlich erkennbar wurde. Für den wachsenden Wohlstand ist das alles hingenommen worden. Der Vorrang der Ökonomie hat sich sozusagen von selbst ergeben. Ergeben hat sich auch, als Abbild allgemeiner Befindlichkeiten, daß bei vielen Nutznießern dieser Entwicklungen Phasen liberal erscheinender Läuterungsprozesse in zunehmendem Alter wieder von hervorbrechender Beschränktheit abgelöst worden sind, mit der 'Kronen Zeitung' als täglichem Konzentrat solcher Ressentiments. Aus privilegierten Leben hat eben auch unter den neuen Umständen nichts anderes mehr werden können. Der Bankrott von Erziehung, Bildung, Disziplin, Religiosität wurde nie als solcher empfunden. Entsetzen oder Trauer ist nicht spürbar geworden. Jede öffentliche Distanzierung galt als Opportunismus. Die Beschuldigungen wurden einfach nicht verstanden. Schon den miterlebten Unmenschlichkeiten gegenüber muß es daher ein eklatantes Ausmaß an Gleichgültigkeit gegeben haben. Die Mehrheit und die hier beschriebene Minderheit haben sich darin nicht unterschieden. Auschwitz ist als Unfall, als Auswuchs gesehen und zur Aufrechnung von Untaten benutzt worden. Die Nürnberger ('Rassen'-) Gesetze waren schon ganz am Anfang für die sonst so strapazierten Gewissen keine Belastung. Den Opfern ist eine Mitschuld zugeschoben worden, weil ihre Ansichten nicht dazugepaßt haben, weil sogar in der Abstammung ein radikalisierter Sinn gesucht worden ist. Ihre Aussonderung, wohin auch immer, hat der Stärkung des Eigenen gedient, verstanden als Reinigung von Fremdem, von Minderheiten, von Konkurrenz, als ethnische Hygiene. Einheit, Vollkommenheit, Perfektion wären anders nicht denkbar gewesen. Abschieben von Verantwortung nach oben hat, wie gewohnt, damals und später moralisch entlastet. Es ging ja durchgehend um 'Gefolgschaft', selbst Werkskantinen haben noch lange 'Gefolgschaftsraum' geheißen. Sogar die Zustände an Universitäten mit ihren Abhängigkeiten und Zitierkartellen erinnern daran. Die Ideale standen so hoch über der Praxis, daß die Wirklichkeit unwirklich, unwichtig erschienen ist. Weil zwar Entsetzliches geschehen, aber 'das Gute' beabsichtigt war, mußten die Intentionen nicht in Frage gestellt werden. Nur bei der Umsetzung sei eben vieles falsch gelaufen. Sogar das Leiden der Täter, und jener, die sie unterstützt haben, ist als Opfer für die Gemeinschaft gesehen worden. Es wurde weit stärker betont als das der eigentlichen Opfer, die also selbst im Nachhinein noch zum Material solcher Überhöhungen gemacht worden sind. Vom System war das so vorgesehen: Jeder Überlebenswille, jede Abweichung hätte andere - und das Ganze - gefährdet; Corporate identity in ihrer Extremform. Die allgemein geforderte Todesbereitschaft hat halbwegs einordenbare Formen des Tötens und Sterbens als notwendig, als sinnvoll erscheinen lassen. Der Totenkopf der SS war Symbol dafür, jenseitsbezogen. Viele Täter und Opfer waren tätowiert. Parteinummern und KZ-Nummern folgten einer parallelen Logik. Aus der Kirche auszutreten war in den mir bekannten Kreisen undenkbar. Gegen drohende Parteiausschlüsse wurden bis zuletzt alle Hebel in Bewegung gesetzt. In den Schlußphasen ist Zyankali die potentielle Droge schlechthin gewesen. Später haben die Worte gefehlt. Die pathetische Intensität solcher quasi-religiöser Ergriffenheit, mit der zugehörigen Sucht zur Unterwerfung, ist in der Erinnerung immer wieder hochgekommen. Das Bedürfnis nach analogen Erlebnissen wirkt auch losgelöst davon weiter. Genaueres über derartige Zusammenhänge wollte von den hier einbezogenen Beteiligten keiner mehr wissen. Jede Sebsterforschung ist abgeblockt worden. Wegen solcher Eindeutigkeiten sind zuerst zunehmend ein Druck und dann Trennungen entstanden. Für Gespräche über 'das Thema' wäre früher Zeit gewesen. Das Warten auf Antworten hat irgendwann beiden Seiten nichts mehr bringen können. Herausgekommen ist aggressive Spontaneität, parallel dazu Langsamkeit.

Inzwischen sind die meisten der Genannten tot; in Nachrufen ist ihr Mitwirken und Mitwissen ausgespart geblieben. Ihnen und anderen mehr Verständnis entgegenzubringen, scheint angebracht zu sein, wenn damit nicht Unterschiede relativiert würden. Die stattfindende Aufweichung der Fronten erzeugt aber nicht differenzierende Konsensfelder, sondern kryptische Austauschverhältnisse: 'Auschwitz war nicht unmenschlich, weil es von Menschen gemacht war.' Scharfen Denkern gefallen solche Wortfigurationen. Diverse Nebenbedeutungen werden damit schnell nebensächlich. Entschuldigungen bekommen ein neues Umfeld. Gleichzeitig bedeutet Anklagen zunehmend, sich bloß bequem der Opfer, und zwar der eigentlichen Opfer, zu bedienen. Selbstverständliches dauernd zu betonen, verdreht sich zur Demonstration eigener Entrüstung. Sie zu unterdrücken erweitert aber den Spielraum anderer. Mit solchen Skrupeln, bis hin zur Rede vom 'Holocaust-Business', lassen sich Desinteresse und Gleichgültigkeit, als Varianten von Freiheit, begründen. Gleich gültig wird vieles, wenn genügend Distanz behauptet werden kann. Die komplexen medialen Mechanismen für die Bildung von Lobbies - die gerade Diskriminierte, Unterdrückte, Verfolgte brauchen würden, ohne eine Hierarchie von Quantitäten - schaffen durch Professionalisierung und deren vieles ausschließende Regeln zusätzliche Formen von Gleichgültigkeit. Was nicht geschäftsmäßig betrieben wird hat kaum Erfolgsaussichten. Emotionalisierungen ergeben bloß kurzfristige Schübe. Hinreichend zivilisierte Zustände brauchen Kontinuität, aber nicht jene, die es so leicht hat, das von sich zu behaupten. Angerichtet ist jedenfalls selbst in täternahen Familien genug geworden, das wird noch Jahrzehnte später immer wieder spürbar, ob daraus nun Entfernung und Sprachlosigkeit oder neuerliche, in anderer Weise wiederkehrende Annäherungen an übewunden geglaubte Muster entstanden sind.

Personen und Räume

Vom Schweigen der Menschen, der Opfer ohnedies, aber auch der Täter und ihres Rückhalts, führt das zum Schweigen von Räumen. Es läßt sich anders entschlüsseln, weil die Faktenlage auch in Details aus eigenem rekonstruierbar ist.3 Damit verbindet sich Öffentliches mit Privatem, Distanzen verringern sich. Die Topographie ist statischer als Persönliches, wenn es um die Feststellung ihrer Einbeziehung in bestimmte Ereignisse geht. Wo sich Hitler in Wien überall eingemietet hatte, ist inzwischen genau bekannt. Wo Mozart gewohnt hat, darauf wird ostentativ hingewiesen. Die Art der Prominenz - und ein Echo von Wertigkeiten - macht den Unterschied. Privates hat mit anderem Privatem vorerst nichts zu tun. Selbst das Erinnern an das nicht Erinnerbare wird räumlich auf einige wenige Punkte konzentriert.

Erst die Vergangenheit unbedeutender Orte verdeutlicht, wie das Geschehen mit dem Normalen und dem was heute als solches erfahren wird, verknüpft gewesen ist. Weil sie anders auf einen wirken, gerade wenn kein unmittelbares Erleben oder Überleben Erinnerungen prägt, wird daher hier, mit der Tendenz zum Exemplarischen, auf die dichten Netze solcher örtlichen Beziehungen eingegangen, als weitere Ebene zu biographisch determinierten Bezügen. Plötzlich ergeben sich aus zusammenhanglosen Details vorher nicht bewußte Berührungspunkte. Zeit wird nicht mehr als geschichtliche Distanzierung erfahren, eher als Begleiterscheinung einer Entfremdung von Kontinuität. Kausalitäten haben ganz wo anders ihre Schnittstellen, an Oberflächen ergeben sich dennoch latente Zusammenhänge. Solche Erfahrungen flankieren jeden Konsens der Empörung, der Wut, der Scham, der Verständnislosigkeit, dem der 'Museumsbesuch' in Mauthausen, als Dekoration des Besseren, entspricht. Sich Hilflosigkeit einzugestehen, wäre dabei oft angebrachter. Ein tatsächliches Teilnehmen am Vergangenen, geschweige denn ein Verstehen, kann niemand sich wünschen. Die Abgrenzung von Verstehen und Akzeptieren ist viel zu fließend. Trauer, Mitgefühl reduzieren sich sprachlich auf Beileid, auf ein Finden richtiger Worte, auf geeignete symbolische Formen. Persönlich nicht Erfahrenes bleibt abstrakt. Jede behauptete Verbindung erscheint als künstliche Konstruktion. Schwankungen zwischen Distanz und Berührtsein erzeugen Phasen der Abwendung, der Entlastung. Berichte vom Leiden anderer oder gar ein 'Betroffenheitskult' (Cora Stephan)4 machen niemanden zum glaubhaft mitfühlenden, analysierenden, aufmerksamen Subjekt. Solche Dinge alle auf sich zu beziehen, wäre nur eine neuerliche Fiktion von Totalität. Plausibler ist es, sich mit solchem Wissen in Gegenrichtungen zu bewegen, von sich weg, weg von Wiederholungsrastern. Daß die hier einbezogenen Sachverhalte mit einzelnen Personen, oder eben dem Autor, verknüpft sind, ergibt keine eigenen Bedeutungen; es sind - auch in übertragenem Sinn - eher die Räume, in denen sie sich bewegen oder bewegt haben, die beim Nachforschen ein Echo des Geschehens erzeugen. Dessen dauernde Präsenz könnte niemand aushalten. Vielleicht geht es bloß darum, dabei auftauchende Fakten und Linien zwischen Geschehenem, Nötigem, Möglichem nicht aus den Augen zu verlieren. Trümmerhaufen sind solche Dinge ohnedies. Es geht um Schweigen, um Zuhören. Etwas abzubilden wäre verfehlt. Über 'die zähe Überlebensfähigkeit der immateriellen Strukturen, die in den Köpfen der Menschen gleichsam überwintert' haben, wie Hans Magnus Enzensbeger das nennt5 und über zugehörige materielle Strukturen etwas zu berichten, kann nur ein Versuch sein, als vorsichtige Offenlegung einander überlagernder Spuren, auf die jeder oder jede immer noch stoßen kann.

Lemberg

In Lemberg zum Beispiel, das mir nur als da und dort wiederkehrender Name ein Begriff ist, hat im Krieg derselbe Künstler, von dem die Kapuzinergruft in Wien bei ihrer Renovierung mit neuen Wandgemälden versorgt worden war, als weitere Auftragsarbeit das Offizierskasino mit einer Maria Theresia dekoriert. Offenbar sollten mitteleuropäisch-multikulturelle Traditionen ins Spiel gebracht werden, gerade als ihre endgültige Zerstörung bereits voll in Gang war. Durch die Aufzeichnungen seiner damaligen Frau sind die Begleitumstände überliefert; er selbst blieb schweigsam, beschäftigt mit seiner 'an deutschen Mystikern orientierten Frömmigkeit'. Sie war ihn bloß besuchen gewesen und über das dabei miterlebte, vor aller Augen stattfindende Morden, über die Selbstverständlichkeit von befehlenden und ausführenden Tätern und das öffentliche Reden darüber, hat auch sie erst viel später etwas publiziert. Schweigen und Sprachlosigkeit sind also unabhängig von der jeweiligen Position eine um sich greifende Erscheinung gewesen. Auf den Einladungen für die Künstler aus Wien jedenfalls, haben sie, die für Lemberg Beauftragten, so wie heute irgendwo anders, die freundlichen dortigen Machthaber kennengelernt, also den Gouverneur Galiziens Otto Wächter (jeder wußte, 'er hatte was mit dem Dollfußmord zu tun') und sein Umfeld: 'Leute, die es verstanden zu kommandieren'. Dessen Vorgesetzter Hans Frank, Hitlers langjähriger Anwalt, anfangs Justizminister, dann zuständig für das Generalgouvernement in Polen, einer der radikalsten NS-Führer, wird nicht namentlich genannt, ist aber als Figur präsent. Das Gesprächsklima dürfte ein interessiertes gewesen sein, gerade in Kreisen, die zum höchsten NS-Führungsapparat zählten, mit seinen - laut Joachim C. Fest - zahlreichen 'verhinderten, nicht zum Zuge gekommenen oder gescheiterten Halbkünstlern', wie Hitler, Rosenberg, Speer (Architektur), wie Goebbels, Schirach, Frank (Literatur).6 Frank ist bekanntlich in Nürnberg als Hauptkriegsverbrecher hingerichtet worden (mit den Österreichern Seyss-Inquart und Kaltenbrunner). Der Österreicher Otto Wächter, ebenfalls den Intellektuellen der Zeit zuzuordnen, war vor 1938 im Führungsstab der illegalen Nazis, dann Polizeipräsident in Wien, schließlich hoher SS-Führer und Franks Stellvertreter in Lemberg - der Stadt, die zugleich zentraler persönlicher Erfahrungsraum Simon Wiesenthals gewesen ist. Wächter hat das Kriegsende nur kurz überlebt, getarnt als Priester, im Sterben betreut vom berüchtigten österreichischen Bischof Hudal, der von Rom aus für derartige Fälle, inklusive Eichmann und Mengele, als Fluchthelfer tätig gewesen ist.7 Details des Entsetzlichen und solche, inzwischen hinlänglich zugängliche Fakten, sollen hier nicht weiter ausgeführt werden. Daß sich zu eigenen Lebensbereichen beklemmende Bezüge ergeben, wenn Schichten privater Orte freigelegt werden, vergegenwärtigt, über Alltäglichkeit, was sonst, Jahrzehnte später, manchmal schon völlig fern erscheint.

Wien

Die Jahre des Infernos im heute ukrainischen Lwów (Lemberg) zum Beispiel, das vom 1. Juli 1941 bis zum 28. Juli 1944 von Deutschland besetzt gewesen ist, in einen geschichtlichen, auf Wien bezogenen Kontext zu stellen, macht einem vielleicht bewußt, daß Georg Trakls letztes Gedicht 'Grodek' heißt und Ludwig Wittgenstein im 1. Weltkrieg in Galizien Soldat war. Mit erweitertem Blickwinkel wird man darauf stoßen, daß Martin Buber oder Sacher-Masoch in Lemberg aufgewachsen sind, Zbigniew Herbert dort geboren wurde, daß Joseph Roth, Salcia Landmann, Karl Radek oder Stanislaw Lem aus der Gegend stammen.8 Nur hatte sowas plötzlich jede Bedeutung verloren.

Für das Morden in Lemberg, in Galizien, ist Otto Wächter ein Hauptverantwortlicher gewesen. Für sein Privatleben hat er in Wien eine Villa auf der Hohen Warte gehabt, unweit vom Gauleiter und Reichsstatthalter Baldur von Schirach und dem Haus der emigrierten Alma Mahler-Werfel. Dort haben die Frau und die Kinder gelebt, er ist zu Besuch gekommen. Sie war 'arisiert' und ihm zur Verfügung gestellt worden, die Beschlagnahmeverfügung der Gestapo ist im Grundbuch penibel vermerkt. Vorher hat sie den Eigentümern der Ankerbrot-Werke gehört, einem der, mit seinem Standort in Favoriten und einer starker Prägung durch die Arbeiterbewegung, dominierenden Wiener Unternehmen. Gegründet wurden sie 1891 von den Brüdern Heinrich und Fritz Mendl. Fritz Mendl hat sich dann das Haus auf der Hohen Warte gekauft. Er, seine Frau und ein Sohn starben noch vor dem 2. Weltkrieg. Drei Töchter sind nach Australien und Neuseeland ausgewandert, eine davon ist erst 1938, mit dem letzten Zug, entkommen. Nur der Sohn Otto Mendl blieb vorerst in Wien. Um seiner Gefährdung als prominenter Verfolgter zu entgehen ist er ins für ihn anonymere Berlin gezogen. Als ausgebildeter Pilot wollte er bei der Luftwaffe Zugang zu einem Flugzeug erhalten, um mit Frau und Kind doch noch fliehen zu können. Am Kurfürstendamm ist er von einem Wiener erkannt und der Gestapo gemeldet worden; er ist in Rußland, so hat es geheißen, bei Arbeitseinsätzen der Organisation Todt umgekommen. Genaueres hat die Familie nie erfahren. Seinem Sohn ist es gelungen, in Wien, mit Hilfe der Familie Tarbuk, als Lehrling in deren Betrieb in Favoriten zu überleben. Er ist seither in der Sozialarbeit tätig. Im Gespräch mit einem Enkel, Thomas Mendl, der sich, als zweite Generation nach dem Krieg, wieder intensiver mit der Familiengeschichte befaßt, bestätigt sich, wie das alles, oft über Umwege, weiterwirkt und wie gering das Interesse an solchen Schicksalen gewesen ist. Gleich nach dem Anschluß hatte ein Plakat stolz verkündet: 'Die Ankerbrotfabrik A. G. hat ab 15. März 1938 eine rein arische Leitung und beschäftigt 1600 arische Mitarbeiter.' Gauleiter Bürckel hat sie dann einach verschenkt, an die Interessens- und Schutzgemeinschaft des Wiener Bäckerhandwerks, im Zuge der Verhandlungen um eine Brotpreissenkung. Das Unternehmen und das Haus wurden verschiedenen Erben schließlich zurückgegeben. Von der Kunstsammlung und der Einrichtung ist nichts mehr vorhanden gewesen. Die anderen Angehörigen sind nicht zurückgekehrt. Die Ankerbrot-Werke blieben noch bis 1970 in Besitz von Bettina Mendl. Mit dem Namen der Gründer sind sie kaum noch verbunden worden. Die in Wien lebenden Familienmitglieder hatten damit nichts mehr zu tun. Der weitläufige Park mußte schon früh an die Stadt Wien verkauft werden, die dort eine große Gemeindebauanlage errichtet hat. Ein Teil des Hauses wurde vermietet.9 Dort haben meine Eltern fast 30 Jahre lang gelebt und wir drei Geschwister, bevor wir ausgezogen sind. Von den Bewohnern während des Krieges ist uns nie etwas bekannt gewesen. Der Name Wächter war den Erwachsenen durchaus geläufig. Kontinuität hat sich auch ohne Kenntnis solcher Einzelheiten ergeben. Der Bezug zwischen Lemberg und der Hohen Warte ist mir erst viel später bekannt geworden, durch Linde Wächter, die seit Jahren als Künstlerin in Frankreich lebt. Sie hat einmal Fotos gesehen und das Identische mit eigenen Familienfotos erkannt. Erinnern kann sie sich selbst nicht mehr, dafür war sie damals zu jung. Inzwischen hat sich die Nachbarschaft neuerlich stark verändert. Unsere ehemaligen Räume hat ein ein Fotograph übernommen. Gegenüber wohnt die Vermögensverwalterin der KPÖ. Zur Villa des Bundespräsidenten ist es nicht weit.

Ein solches Zusammentreffen von Biographien, Nachkommen, Bekanntschaften und Wohnungen allein kann noch nicht als auffällig dichte Ablagerung von Zeitgeschichte verstanden werden. Da aber Dorothea Zeemann, deren Berichte aus Lemberg hier einen der Ansatzpunkte bilden,10 von den 30er- bis in die 50er-Jahre in derselben Dachwohnung in der Wiener Innenstadt gelebt hat, in der ich mit meiner eigenen Familie seit den 60er-Jahren wohne, ergibt sich eine Anhäufung von Tatsachen, die zu bestätigen scheinen, daß sich existentielle Situationen, also sogar Wohnen, nicht von vorangegangenen Konstellationen ablösen. Ihre biographischen Texte haben mich vermuten lassen, daß es sich dabei um unsere heutige Wohnung handelt. Später haben wir uns kennengelernt und der Sachverhalt ist bestätigt worden. Wichtig ist das keinem von uns gewesen. Sie wollte sich den jetzigen Zustand gerne noch einmal ansehen, dazu ist es aber nicht mehr gekommen.

Die Liste solcher Rekonstruktionen setzt sich fort, wenn ich unsere Nachkriegswohnung hinter der Universität mit dem benachbarten Neuen Institutsgebäude in Zusammenhang bringe, das an der Stelle der Wehrmachtskommandantur, zugleich das Festungskommando Wien, errichtet worden ist. Dort ist Major Karl Biedermann verhaftet worden, der dann wegen Vorbereitung von Widerstandsaktionen in Floridsdorf am Spitz öffentlich gehängt worden ist. 1934 hatte er die Angriffe auf den Karl Marx-Hof in Wien geleitet, gestorben ist er mit der Aufschrift: 'Ich habe mit den Bolschewiken paktiert!'. Mit der Witwe Biedermanns ist meine Mutter bekannt gewesen. Ihr Bruder, mein ungarischer Lieblingsonkel, war bei diesem Rückzug entlang der Donau dabei, verwundet, verlegt von einem Lazarett ins nächste. In die Waffen-SS geraten war er durch das Angebot einer schnellen Kriegsmatura am Deutschen Gymnasium in Budapest. Über seine Kriegserlebnisse in Rußland hat er nie wieder ein Wort gesprochen. Schließlich wurde er Ökonomieprofessor (K. L. Herczeg: Zukunft der Weltwirtschaft) und ist, erst Mitte dreißig, bei Unruhen in Burma, wo er zuletzt tätig war, erschossen worden. Die damalige Wohnung meiner Eltern wiederum, in der ich ein paar Monate als Säugling verbracht habe, war beim Augarten. Erste Eintragung eines Prominenten im Gästebuch: der Schriftsteller Edwin Erich Dwinger, der mit Bruno Brehm oder Hans Sedlmayer für das künstlerische Umfeld dieser Gruppierungen bestimmend gewesen ist. Ein paar Häuser weiter: eine ehemalige jüdische Schule, die damals als Sammellager für Judentransporte gedient hat und Sitz des Befehlsbabers der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes für Ungarn war, zuständig für die Überwachung des Arbeitseinsatzes ungarischer Juden. Das ist mir einmal in einem Buch aufgefallen, familiär wurde das nie beachtet. Die Filter für Wahrnehmung und Erinnerung sind offenbar zu selektiv. Eine mir viel wichtigere Wohnung, in die ich als Student zu meiner Frau gezogen bin, ebenfalls im 2. Bezirk, ist im zaghaft wieder besiedelten alten jüdischen Viertel gewesen. Erst seit kurzem weiß ich, daß genau dort, beim alten Dianabad, damals Stephanie Straße 1, einmal Theodor Herzl gewohnt hat, zur Zeit seiner Heirat mit Julie Naschauer, als er noch umtriebiger Journalist und Bühnenautor (erste Burgtheateraufführung) gewesen ist.11 Solche kleine Parallelen des Privaten bewirken immerhin einen neuen Blick auf sonst nicht beachtete Biographien; beide sind jung gestorben, der Sohn und eine Tochter begingen Selbstmord, die andere Tochter starb im KZ-Theresienstadt; auch deren Sohn, der einzige Enkel, hat sich umgebracht. 1949 ist Herzls Grab vom Döblinger Friedhof in Wien nach Jerusalem verlegt worden.

Budapest

Eine neuere Konstellation, Jahrzehnte später, hat dazu geführt, daß ich eine kleine Zweitwohnung in Budapest habe, zu der es ohne das zufällige Angebot von Freunden nie gekommen wäre. Sie liegt am Kleinen Ring in der Elisabethstadt (Erszébetváros) im Haus neben der großen Synagoge. Manchmal sind die Gesänge des Kantors zu hören, der drei Türen daneben wohnt. Eingenommen hat mich die Gegend mitten im Zentrum, das vergleichsweise Normale, Unaufgeräumte, Ungeordnete, die anderen Gesichter. Eine Aufenthaltsmöglichkeit im nächstliegenden Ausland ist plötzlich verlockend erschienen, als Verdoppelung meines Stadtraumes, als Umgebensein von einer fremden Sprache. Geschichte oder Herkunft waren vorerst eher nebensächlich, obwohl ich im Schreckensjahr 1944 in Budapest geboren wurde. Offenbar wollte ich etwas haben, das ich bisher noch nicht hatte, eine andere Art von Nähe; es ging um irgendeinen Ersatz, also sozusagen um Kitsch. Die verfallenden Häuser rundum und die orientalisierende Architektur lassen einen manchmal glauben, in irgendeinem fiktiven Land zu sein. Daß da das jüdische Viertel war, ist trotzdem auf Schritt und Tritt zu merken. Warum mir gerade eine solche, andere, davon besonders belastete Umgebung trotzdem anziehend erscheint, selbst wenn Kindheitserinnerungen an Besuche bei den Großeltern ausgeblendet bleiben, hat sich erst schrittweise zu erkennen gegeben; es dürfte die noch sooft sichtbare Zerstörtheit sein. An ihr läßt sich ablesen, was anderswo verborgen wurde, die mentale Zerstörung, das Verschwinden von Erfreulichem und Furchtbarem. Die Glätte ist erst im Kommen.

Das zeigt sich zum Beispiel daran, wie eigenartig sich Budapest von den Denkmälern der jüngeren Geschichte getrennt hat. Sie stehen jetzt auf einer belanglosen Wiese weit draußen, in einem trostlosen, postmodern dekorierten Erlebnispark. Nur an der großen Synagoge erinnert noch eine winzige Tafel und ein kürzlich errichtetes Denkmal im Hof daran, daß das Ghetto im von Deutschen und Ungarn terrorisierten Budapest nach wochenlangen Kämpfen um die Stadt von der Roten Armee befreit worden ist; das darauf genannte Datum: 18. Jänner 1945, neun Tage bevor Auschwitz erreicht wurde. Auf einem berühmten Foto von Jewgenij Chaldej, der das, wie auch später in Wien und Berlin ('Die Sowjetfahne auf dem Reichstag') dokumentiert hat, schaut ein mit gelben Sternen markiertes Paar eindringlich auf die Ankommenden.12 Es geht mitten auf der Straße, die sonst fast menschenleer ist. Im Zuge der antisemitischen Säuberungen hat der Fotograph bald darauf seine Stellung verloren, erst nach der Wende, kurz vor seinem Tod, sind seine Arbeiten international wieder beachtet worden. Bei der Buchpräsentation in Wien haben wir uns kennengelernt.

Als sich bei solchen Nachforschungen herausgestellt hat, daß ich unmittelbar neben dem nicht mehr existierenden Geburtshaus von Theodor Herzl wohnen würde,13 hat sich das Muster für einen solchen Text über Strukturebenen eigener Lebens- und Wohnsituationen wie von selbst ergeben. Die Entdeckung nicht so ohne weiteres erkennbarer Bedeutungen und Beziehungen verstärkt offenbar das Gefühl von Berührung, von vagem, trotzdem abgesonderten Eingebundensein. Sich anhand solcher Funde damit zu beschäftigen, inwieweit das reine Fiktion ist, erzeugt etwas; manchmal vielleicht sogar Ironie, eine halbwegs erträgliche Ironie. Das Mitleid mit der eigenen Entfremdung versachlicht sich. Die Tatsachen selbst sind keine Fiktion. Herzls Geburtshaus läßt sich nur über Bücher auffinden; jahrzehntelang ist es unerwähnt geblieben. Eine Hinweistafel gibt es nur im Stiegenhaus des später auf diesem Areal an die Synagoge angebauten Jüdischen Museums. Dabei sind dem ideellen Gründer des 'Judenstaates' - sein gleichnamiges, kaum mehr als 100 Seiten starkes Buch erschien 1896 - Synagogen fremde Orte geblieben, erst in Paris hat er wieder bewußt einmal eine aufgesucht.14 Sein Name ist eine Übersetzung aus dem Hebräischen, lev heißt Herz. Als er achtzehn war, ist die Familie nach Wien übersiedelt. Die zunehmende Magyarisierung scheint dazu beigetragen zu haben. Sie wollten weiter primär deutsch sprechen, ohne deswegen benachteiligt zu werden. Im Roman 'Altneuland' wird ein anderes Neuland beschrieben, als das, von dem schon die Rede war. Er ist seit Jahren nicht mehr erhältlich. Ausgerechnet dort, wo Theodor Herzl geboren worden ist, war das Haupttor des Ghettos, das vor Kriegsende im Zuge der großen Deportationen eingerichtet wurde. Auf einem von der Jewish Agency herausgegebenen Stadtplan ist die Situation von 1944 minutiös verzeichnet, sogar dazu ist es erst fünfzig Jahre danach gekommen.15 Vom Dachgeschoß sind die Türme der nahen Synagoge in der Rumbach utca (von Otto Wagner, 1872 ) zu sehen, zur orthodoxen Synagoge in der Kazinczy utca (von Béla und Sándor Löffler, 1913) sind es nur wenige Schritte. Beide sind in sehr schlechtem Zustand, nur die Hauptsynagoge, die größte Europas, genannt der Dohány-Tempel (von Ludwig Förster, 1859, der auch die Große Wiener Synagoge in der Tempelgasse entworfen hat, die 1938 zerstört wurde), ist bisher restauriert worden.

Selbst unscheinbare Orte des Schreckens, wie die Straßenzüge und Höfe dahinter, in denen es noch knapp vor der Befreiung ein wildes Morden gegeben hat, haben ihre traurige Anziehungskraft. Mit Äußerlichkeiten läßt sich das nicht begründen. Wirkungen werden von Unsichtbarem erzeugt. Man sieht, was man weiß, was man entdeckt, was einem gezeigt wird, zum Beispiel, daß der Hof hinter der großen Synagoge jetzt auch dem Gedenken an Raoul Wallenberg dient, dem schwedischen Diplomaten, der tausende Juden gerettet hat. Am Tag vor der Befreiung ist er das letzte Mal in Budapest gesehen worden und dann als Häftling der Befreier umgekommen. Die Nähe solcher Stätten zu scheuen, würde die Beschäftigung mit derartigen Dimensionen des Bösen vom Konkreten fernhalten. Der Vorsatz, das radikal Fremde und das damals Normale der Taten und der Täter in Zusammenhang mit dem Jetzt wahrzunehmen, wirft einen zurück auf die Unvorhersehbarkeit realer Wiederholungen. In diesem Durcheinander taucht die Vorstellung auf, daß es unbetretbare Räume geben müßte. Trotzem ist die Existenz von Tabus ein Tabu. Nirgends wird daran erinnert, daß Haß und Rache sich auf Seite der Opfer so in Grenzen gehalten haben. Daß die Schoah ein europäischer Tatbestand ist, einschließlich der orthodoxen Vorstellung, sie sei nur als Strafgericht Gottes zu begreifen, oder nur über Erzählungen darstellbar, wie in Lanzmanns Film,16 verschwindet immer wieder unter diversen Wahrnehmungsschwellen. Zugehörige Bildwelten verschieben sich. Funktionen des Vergessens geben sich oft erst sehr viel später zu erkennen. Ob Eisenbahnschienen und rostige Güterwaggons wenigstens manchmal noch den Zweck, zu dem sie damals benutzt worden sind, vergegenwärtigen, ist offenbar von gespeicherten Impulsen und Bildreflexen abhängig, die spontan bewußt werden. Angehaltene Bewegung verlängert solche Momente. Konkrete Details sind eine andere Form dieser Momente.

Daß gerade in Budapest oder Wien keine besonderen Zufälle notwendig sind, um mit 'Erinnerungen an das Töten' konfrontiert zu werden, macht diese zusammengetragenen Fakten zu einem ins Persönliche hereinwirkenden Konglomerat verlassener, devastierter, unauffälliger Umgebungen, die Schauplätze gewesen sind, wobei dieser Wortsinn - das Schauen, der Platz - dabei seine eigenen Dimensionen erhält. Das Subjektive daran ist determiniert durch Objekte.

'Ich', schreibt Imre Kertész17 in einem Aufsatz dazu, 'lebe in einem anderen Haus, in einer anderen Stadt als der, in welcher meine Nachbarn leben'. Bilder der Erinnerung hätten mit der Gegenwart eines Ortes nichts mehr zu tun. Erzählen darüber könne ihm bloß noch sein Gedächtnis. Die Gleichgültigkeit, mit der er inzwischen da und dort vorbeigeht, überrasche ihn nur noch manchmal. Mit den Orten, die für sein Leben entscheidend gewesen sind, beschäftigt er sich in seinen Texten, etwa mit der Gegend, in der er als Fünfzehnjähriger auf dem Weg zum Arbeitsdienst in der Shell-Raffinerie in Csepel, im Süden der Stadt, aus dem Autobus geholt und nach Auschwitz deportiert worden ist. Budapest selbst ist für ihn 'eine Stadt ohne Gedächtnis', ist 'nicht länger geistiger Schauplatz, nichteinmal mehr im Sinne negativer Inspiration'. Er lebe dort als Auswanderer, 'der es immer nur hinausschiebt, sich seine Reisedokumente zu beschaffen'. Daß ihm zunehmend vorgehalten werde, er 'schriebe nur über ein einziges Thema (nämlich Auschwitz) und sei somit nicht repräsentativ für das Land (nämlich Ungarn)', könnte ihm wo anders auch passieren. Mit dem Vorwurf, er hätte an Tiefe verloren, kann er genauso wenig anfangen. Es wird damit unterstellt, für eine solche Tiefe wäre dieses und jenes tatsächlich notwendig gewesen. 'Ich habe nie daran gedacht, daß ich Jude bin, ausgenommen die Momente der Bedrohung', sagt er dazu im 'Galeerentagebuch'. Sein Vater ist auf einem der mörderischen Gewaltmärsche ungarischer Juden auf heute österreichisches Gebiet erschossen worden, in der Nähe von Sopron; so wie der Dichter Miklós Radnóti in der Nähe von Györ. Zu 'ungarischen Juden' sind diese Menschen letztlich per Dekret gemacht worden, selbst sprachlich wirkt vieles davon weiter. Sich solcher Namen zu erinnern verbindet möglicherweise doch den Einzelfall mit dem Anonymen. Nur an die Masse zu denken, entspräche dem Denken der Täter.

Wie Gedächtnisse funktionieren und funktionieren werden, ohne bloß auf Formalismen zu reagieren, ist angesichts solcher Bezüge ein kategorisches, aber auch ein medienanalytisches Thema. Das forcierte Bild des Konsumenten, der in einer sich vergröbernden, schematisierten öffentlichen Sphäre keine Chance hat, 'Bürger' zu sein, gleicht in vielen Aspekten dem Antisemiten. In Adornos Text über die 'Aufarbeitung der Vergangenheit', die Ursachen beseitigen müßte, wird der Antisemit dadurch definiert, 'daß er überhaupt keine Erfahrung machen kann, daß er sich nicht ansprechen läßt'.18 Er ist aber kein Typus mit einem Gegentypus, wie dadurch unterstellt wird. Die Gefährdung bleibt eine allgemein-strukturelle und eine subjektive. Das ist weiterhin auf viele Felder übertragbar; auch wenn die Bücher von Victor Klemperer, Aleksandar Tisma, Heimrad Bäcker, Josef Skvorecky, Primo Levy, Jorge Semprun oder Imre Kertész überall erhältlich sind. Von geschichtlicher Gegenwart läßt sich das alles nicht abtrennen. Die immer noch übliche Ausgrenzung des Geschehens als barbarischer Ausbruch unterwirft sich selbst wieder einer atavistischen Faszination des Bösen. Die auf tatsächliche Vernichtung ausgerichtete Variante des Antisemitismus ist ein genuin modernes, singuläres, antihumanistisch-technologisches Ereignis, 'das überhaupt erst in einem modernen Stadium der Entwicklung auftreten konnte' (Zygmunt Baumann).19

Akira Kurosawa (1910 - 1998) hat, um mit einem anderen kulturellen Hintergrund zu schließen, in seiner Autobiographie Hiroshima und Nagasaki mit keinem Wort erwähnt; erst spät wurde das zum Thema eines seiner Filme. 'In der Kriegszeit ähnelten wir alle Taubstummen', schreibt er und stellt auf seine Person bezogen klar: 'Ich habe dem japanischen Militarismus keinerlei Widerstand entgegengesetzt. Leider muß ich eingestehen, daß ich nicht den Mut hatte, Widerstand zu leisten; ich schmuggelte mich durch, indem ich mich, falls nötig, einschmeichelte oder die Zensur umging. Dafür schäme ich mich ...'; als Konsequenz daraus ist ihm besonders vorrangig erschienen, 'das Ich als einen positiven Wert zu etablieren', seinen ersten Film nach dem Krieg hat er diesem Thema ge-widmet: 'Waga seishun ni kui nashi' ('Ich bereue meine Jugend nicht').20

Dieses zweifelnde, skeptische Ich, das bei ihm nicht mit Mitleid rechnet, sich aber wenigstens einen gewissen Blick bewahren sollte, kommt, so ließe sich fortsetzen, ohne Beschäftigung mit dem anderen Menschen, mit Bildern von ihm, mit seiner Unendlichkeit, nicht aus, etwa im Sinne des Denkens über soziale Beziehungen, über Gerechtigkeit und Pluralismus bei Emmanuel Lévinas. Im Hebräischen ergibt sich dafür ein spezieller Bezug, das Wort für Verantwortung (achariout) schließt den anderen (acher) mit ein. Emmanuel Lévinas (1905 - 1995) übrigens ist in einem Lager in der Lüneburger Heide, unweit von Bergen-Belsen, gefangen gewesen und hat wegen der Ermordung seiner gesamten in Litauen verbliebenen Familie beschlossen, nie wieder nach Deutschland zurückzukehren. Seine Überlegungen zu den Dimensionen, was es heißt, dem anderen Menschen zu begegnen, hat Jaques Derrida präzisiert, indem er den essentiellen Unterschied betont, der im Problem liegt, den anderen Menschen überhaupt zu konstituieren. Das lasse sich nicht der Begegnung entgegensetzen. Anwesenheit und Abwesenheit des eigenen und des anderen Ich jedenfalls hat viel mit Spurensuche und Spurensicherung zu tun. Bei Lévinas heißt das: 'Die Spur des Anderen'. 'Er kommt immer aus einer Vergangenheit, die nie meine Gegenwart war.' 21

Mit der inzwischenen gewonnenen Distanz gelte es daher umso mehr - so Agnes Heller, als wieder von Budapest aus wirkende Stimme - im Blick zurück auf dieses 'Jahrhundert der Katastrophe', dieses 'Jahrhundert der Praxis', das Gewesene vor einer bestimmten Art seiner Überlieferung zu retten und das Schweigen der Opfer zu verteidigen, 'gegen die empörend billige Sentimentalität, angesichts der akademischen Haarspalterei, gegen politische Machinationen und auch angesichts zu lauter Lamentation. Ferner können die Trauernden die Ruinen der menschenverschuldeten Apokalypse immer wieder bloßlegen, sich von den neuen Trümmern, die immerfort über ihnen aufgehäuft werden, befreien ... ' 22

 

zum Thema:


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Verbindungen zwischen Tat und Sache. Essay. Stadtbuch Wien 1983

Verbindungen zwischen Tat und Sache
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Falter Verlag, Wien 1983

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Drei Biografien zu Österreichs Zeitgeschichte
Falter, Wien, Nr. 20/1983

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1 Ernst Jünger: Sämtliche Werke, Stuttgart 1979. Band 2+3, Tagebücher II, Seite 77, 315, 320, Tagebücher III, Seite 411, 424, 425, 443, 473

2 Dokumente zu diesem Abschnitt: Anton Lehár: Erinnerungen. Gegenrevolution und Restaurationsversuche in Ungarn 1918-1921. Wien 1973. Radomír Luza: Der Widerstand in Österreich 1938-1945. Wien 1983 (Emil Oswald) / J. Hanns Pichler (Hg.): Othmar Spann oder Die Welt als Ganzes. Wien 1988 / Franz M. Kapfhammer: Neuland. Erlebnis einer Jugendbewegung. Graz 1987 / Franz Reder: Biographische Aufzeichnungen. Wien 1985 (unveröffentlichtes Manuskript) / Taras Borodajkewycz: Wegmarken der Geschichte Österreichs, Wien 1972 / Oliver Rathkolb: Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich. Wien 1991. Seite 131 (Helmut Wobisch) / Anton Pelinka: Am Beispiel Anton Böhm: Politische Legendenbildung um einen Irrenden. Der Standard, Wien, 16. Jänner 1998 / Hermann Neubacher: Sonderauftrag Südost 1940-45. Göttingen 1956 / Josef Klaus: Macht und Ohnmacht in Österreich. Wien 1971. Seite 30 f. / Wilhelm Wolf: Hundert Jahre Österreich. Politik und Dichtung. Salzburg 1940 / Franco Valsecchi: Das moderne Italien, Hamburg 1935 / Chritian S. Ortner: Am Beispiel Walter Reder. Wien 1985 / Eugen Kogon: Der SS-Staat (1945). München 1974

3 Christian Reder: Verbindungen zwischen Tat und Sache. In: Stadtbuch Wien 1983, Wien 1983 / Peter Schubert: Schauplatz Österreich. Topographisches Lexikon zur Zeitgeschichte. Band 1: Wien. Wien 1976 / Herbert Exenberger: Antifaschistischer Stadtführer. Wien 1985 / Wien wirklich. Der Stadtführer. Wien 1992 / Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Gedenken und Mahnen in Wien 1934 - 1945. Wien 1998

4 Cora Stephan: Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte. Reinbek bei Hamburg, 1994

5 Hans Magnus Enzensberger (Hg.): Europa in Ruinen. Augenzeugenberichte aus den Jahren 1944-1948. München 1995. Seite 16 (aus dem Vorwort von H. M. Enzensberger)

6 Joachim C. Fest: Hitler. Der Aufstieg. Der Führer. 2 Bände. Frankfurt / M. 1976. Seite 527

7 Ernst Klee: Der Umgang der Kirche mit dem Holocaust nach 1945. In: Rudolf Steininger (Hg.): Der Umgang mit dem Holocaust. Europa - USA - Israel. Wien 1994. Seite 128 / Maria Sporrer, Herbert Steiner (Hg.): Simon Wiesenthal. Ein unbequemer Zeitgenosse. Wien 1992, Seite 132 f.

8 Verena Dohrn: Reise nach Galizien. Grenzlandschaften des alten Europa. Frankfurt / M. 1993. Seite 50 ff.

9 Gespräch mit Thomas Mendl, Wien, 26. Juni 1998

10 Dorothea Zeemann: Einübung in Katastrophen. Leben von 1913-1945. Frankfurt / M. 1979. Seite 125 ff. / Jungfrau und Reptil. Leben zwischen 1945 und 1972. Frankfurt / M. 1982

11 Julius H. Schoeps: Theodor Herzl. 1860 - 1904. Wien 1995. Seite 25

12 Jewgeni Chaldej: Von Moskau nach Berlin. Berlin 1994, Seite 39 / Erich Klein (Hg.): Die Russen in Wien. Die Befreiung Österreichs. Wien 1995. Seite 13

13 Julius H. Schoeps: Theodor Herzl. 1860 - 1904. Wien 1995. Seite 20

14 Steven Beller: Theodor Herzl. Wien 1996. Seite 45

15 Ágnes Ságvári: Holocaust. Budapest 1944. Stadtplan und Broschüre. Jewish Agency, Budapest 1994

16 Shoah. Dokumentarfilm von Claude Lanzmann. Frankreich 1985

17 Imre Kertész: Stadt ohne Gedächtnis. Die Zeit magazin, Hamburg, Nr. 11 1998 / Roman eines Schicksallosen (1975). Berlin 1996. Seite 47 ff. / Galeerentagebuch. Reinbek bei Hamburg 1997. Seite 54 / Ich - ein anderer. Berlin 1998. Seite 29, 63

18 Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit (1959). In: Kulturkritik und Gesellschaft II. Gesammelte Schriften 10.2, Frankfurt / M. 1997. Seite 571

19 Zygmunt Baumann: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg 1992, Seite 88

20 Akira Kurosawa: So etwas wie eine Autobiographie. München 1986. Seite 172, 173, 174

21 Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. Freiburg im Breisgau 1998./ Bernhard Taureck: Lévinas zur Einführung. Hamburg 1991. Seite 34, 97, 129 / Emmanuel Lévinas: Antlitz und erste Gewalt. In: Spuren, XX, September 1987. Seite 34

22 Agnes Heller: Requiem für ein Jahrhundert. Reden über Gewalt und Destruktivität. Hamburg 1995. Seite 19

 

 
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