Sie waren einfach nicht da, die Menschen, die Heranwachsende
aus dem verbindenden Schweigen herausgeholt hätten. Das ist
mir damals normal erschienen, weil es als normal hingestellt
worden ist. Im privaten Umgang, in den Schulen, an der Universität,
sind - anders als anderswo - die längste Zeit nie konträre
Stimmen laut geworden. Abweichungen waren nur autodidaktisch
möglich oder bei nicht in solcher Weise gebundenem sozialen
Hintergrund. Derartiges immer wieder zu konstatieren, als
eine Grunderfahrung, hat Energien von freieren Feldern ferngehalten.
Was sich als Bewußtsein bezeichnen ließe war eingezäunt worden.
Mit dem ersten eigenen Reagieren auf das Wiederholen unerträglicher
Standpunkte hat sich das langsam geändert. Diese rebellischen
Haltungen sind, so gesehen, also auch bloß eine Reaktion gewesen,
eine Reaktion auf das damals ständig erlebte Verhalten. Autoritäre
Prägungen haben sich neue Formen gefunden. Impulse erfreulicher
Entwicklungen sind aus anderen Richtungen gekommen. Das mag,
als kurzgefaßter Einstieg zu einer biographisch determinierten,
von Atmosphären abhängigen Sicht der Dinge einseitig klingen,
wie ein fiktiver Common sense. Evident ist jedoch, daß an
'unverdächtigen', zur Verteidigung der Gegenseite nominierbaren
Zeugen weiterhin kein Mangel herrscht.
Tagebücher eines einflußreichen 'Onkels', aus denen hier
zitiert wird, machen das deutlich. Die Aktualisierung derartiger
Haltungen, die wiederkehrenden Ausdrucksweisen und Denkmuster
nehmen solchen Rückgriffen etwas von ihrer Gestrigkeit. Idyllisch
in seinem Bauernhaus im Salzkammergut lebend, ist er, als
es soweit war, in eine naheliegende Kaserne einberufen worden,
das spätere KZ Ebensee, eines der grausamsten Nebenlager von
Mauthausen. Von dort ging es weiter, 'mit unbekanntem Ziel'.
Erst zu Kriegsende erwähnt er diesen Ort wieder. Für ihn war
das irgendein Lager, mit dem er weiter nichts zu tun gehabt
hat. Bemerkenswert wurde es erst aus Angst vor Plünderungen
durch befreite polnische und russische Häftlinge. Nur die
Franzosen, als 'Elite', hätten sich selbst unter solchen Umständen
zivilisiert verhalten, schreibt er. Die meisten Befreiten
kamen ihm 'heiter vor, wie Auferstandene'. Besonders vermerkt
wird, daß ein farbiger Amerikaner ein Mädchen vergewaltigt
habe. Von den Konzentrations- und Vernichtungslagern in den
besetzten Ostgebieten, die für ihn 'Randstaaten' waren, sagt
er mehrfach, mit der ihm eigenen dichterischen Freiheit, daß
sie 'Schinderhütten' gewesen sind, unerklärliche, mysteriöse
'Tabustätten schauerlicher Art'. Vom organisierten Massenmord
gewußt hat er nach eigenen Angaben ab 1942; in meiner engeren
Familie ist mir dafür das Jahr 1944 genannt worden. Zur gleichen
Zeit notiert er: 'Sterilisierung und Tötung von Irren', 'die
Dezimierung der Juden (führt) zur Verbreitung jüdischer Eigenschaften
in der Welt, in der alttestamentarische Züge sich ausbreiten'.
Betont hat er, der Ästhet, ständig die 'Häßlichkeit' der Zustände,
'den Schmutz der Praxis, die untersten Triumphe der Ökonomie'.
Wichtiger werden rasch die aktuellen Schrecken bei der Vertreibung
der Sudetendeutschen, der eigenen Leute also, mit 'Einzelheiten,
die alles unterbieten, was ich in unserer an solchen Schrecken
doch überreichen Zeit seit 1917 vernommen habe'.
Dieser 'Onkel' ist erfunden, was er sagt ist es nicht; zitiert
wird Ernst Jünger, weiterhin eine erste Adresse für dieses
nachwirkende geistige Klima. Aussagen und Tonfall seiner Tagebücher
hätten im Umfeld, in das ich geraten bin und bei irgendwelchen
anderen gebildeten, bürgerlichen, privilegierten (etc., etc.)
Familien durchaus dazugepaßt, sozusagen als verschärfte, eher
Thomas Mann als Arthur Schnitzler ablösende Form, eigene Meinungen
aufgewertet zu finden. Mir kommt das alles sehr bekannt vor,
wie eine Präzisierung. Berichte aus dem Jenseits sind das
keine. Dabei ist von ihm kaum die Rede gewesen, wahrscheinlich
wegen seines Nihilismus und seiner Sprachqualität. Geurteilt
wurde ohnehin nach einheitlich-kritischen Standards. Die Ähnlichkeit
mit seinen Auffassungen ist hinter Idealisierungen verborgen
geblieben. In der Vermischung mit Privatem und durch Konkretisierung
zugehöriger Orte wird im Detail manches genauer, greifbarer,
angreifbarer, inklusive der Präsenz von Klischees. Ernst Jüngers
privater Ort ist Kirchhorst in der Nähe von Bergen-Belsen
gewesen, das in den eingangs benutzten Zitaten zur Provokation
regionaler Nähe durch Ebensee / Mauthausen ersetzt worden
ist. In Bergen-Belsen hat für ihn der 2. Weltkrieg begonnen.
Das hat offensichtlich weder sein Bewußtsein noch das von
Kommentatoren besonders berührt. Für eine andere Symbolfigur,
Anne Frank, war es der Endpunkt. Ihm ist es erst nach der
Befreiung bedrohlich erschienen. Das wirklich Entsetzliche
habe sich im Osten und nicht in Deutschland abgespielt, so
die mitschwingende, bereits dem Kalten Krieg dienliche Verschleierung.
Als sechs überlebende Juden auf seinem Hof erschienen sind,
hat er sich veranlaßt gesehen, über einen ihm vorgehaltenen
Satz nachzudenken. 'Die Zahl der Leidenden ist bedeutungslos'
wird interpretiert und ergänzt: 'Nur der Anblick des Einzelnen,
des Nächsten kann uns das Leid der Welt aufschließen'; Schmerz
kann 'nur Sinn gewinnen, wenn es Menschen gegeben hat, die
aus der Zahl in die Bedeutung eintraten. Das allein überhöht
die Katastrophe und führt sie über die leere Umdrehung hinaus,
über den Wirbel, dem immer neue Rachescharen zuströmen'.1
Milieu: katholisch, deutschnational
Unter Erwachsenen, wie ich sie aus meiner Wiener Umgebung
der 50er-Jahre und danach in Erinnerung habe, sind selbst
solche Nuancierungen die Ausnahme gewesen. Sympathien gegenüber
den meisten Wahlonkeln und ihren Frauen hat sowas nicht beeinträchtigt.
Mitbekommen haben Jugendliche ja nicht so sehr Argumentationen,
sondern Gefühle, Andeutungen und einen Fluß unverständlicher
Einzelheiten. Erst schrittweise wurde deutlich, daß viele
tatsächlich überzeugt waren, die politisch interessanten Zeiten
seien vorbei. Schuld daran und an nicht gewollten Unmenschlichkeiten
sind andere und die unglücklichen Umstände gewesen. Dem Gefühl,
überlegen und höchst integer zu sein, hat das alles nicht
geschadet. Man gehörte zu den Anständigen und Fleißigen und
denen war klar, daß jetzt rundum Korruption herrschte. Zur
NS-Korruption wurden nur verschämt Bezüge hergestellt. Wer
an 'Arisierungen' beteiligt war, für den hatte alles seine,
rechtlich gedeckte, Ordnung gehabt. Was noch zurückgegeben
werden konnte ist schließlich zurückgegeben worden. Im übrigen
war Krieg. Die Beschäftigung mit einer rigiden Sexualmoral
hat mehr Kraft gekostet als die Revision eigener Standpunkte.
Von einer derartigen Innensicht dürften auch andere solche,
ansonsten eher unauffällige Familiengeschichten geprägt sein.
Eine 'Überhöhung durch Einzelne' ist nur in früheren Zeiten
oder durch Interpreten für möglich gehalten worden, sei es
künstlerisch oder politisch. Zeitgenössisches hat niemanden
wirklich interessiert. Es ist Bestätigung gesucht worden.
Den eigenen Kindern Selbstvertrauen zu vermitteln, hat meistens
nicht funktioniert; unter den gegebenen Umständen war das
gut so. Für Spezialisten, und zur Verdeutlichung der Argumentation,
einige Namen aus diesen Kreisen, manche davon haben sogar
geschichtliche Relevanz: Emil Oswald, eine der Ausnahmen,
ist von den Männern der weltläufigste gewesen; als junger
Offizier verwickelt in die Restaurationsversuche Kaiser Karls
in Ungarn, Monarchist, Liberaler, Linkstendenzen, Beschützer
seiner jüdischen Frau, eineinhalb Jahre im Konzentrationslager,
dann bis Kriegsende beschäftigt von meinem Vater, führendes
Mitglied des österreichischen Widerstandes, Freund des Kommunisten
Ernst Fischer, Mitbegründer der ÖVP, schließlich Direktor
der Urheberrechtsgesellschaft AKM, Lieferant der ersten Jazzplatten.
Ebenfalls aus einer anderen Welt schien Ljuba Welitsch zu
kommen, herzlich, direkt, viel eigenwilliger als es einem
sonst vorgeführt wurde; privat oder als 'Salome' in der Oper
hat sie sowas wie erste Vorstellungen von Leben, von Intensität
ausgelöst. Wegen einer nicht akzeptierten Ehe ist der Kontakt
plötzlich abgebrochen. Im Prinzip war es eine reine Männergesellschaft;
von jenen, die befreundet blieben, sind fast alle mehr oder
minder in NS-Parteizusammenhänge eingebunden gewesen. Einige
waren Schüler von Othmar Spann ('Der wahre Staat'), von Heinrich
Srbik ('Deutsche Einheit'), einige Mitglieder des reformkatholischen
Bundes 'Neuland' (wie Monsignore Mauer, Gründer der Galerie
nächst St. Stephan, oder Otto Schulmeister, langjähriger 'Die
Presse'-Chefredakteur, zu denen es keine regelmäßige Verbindung
mehr gegeben hat), also sich durchaus der Intelligenz zugehörig
fühlend. Der Vater, Chef der großen Holzfirma J. & C. Reder,
seit 1934 illegaler Nazi, im Krieg Wehrwirtschaftsführer (der
Anschluß: sein glücklichster Tag), Taras Borodajkewycz (Professor
an der Hochschule für Welthandel, mit seinen antisemitischen
Vorlesungen Auslöser der Demonstrationen, die zum Tod des
Antifaschisten Ernst Kirchweger geführt haben; ein Echo seiner
Texte findet sich noch in den Bekennerschreiben zu den Briefbomben
der 90er-Jahre; publizistisch bekämpft haben ihn vor allem
die Studenten Heinz Fischer, später Nationalratspräsident,
und Ferdinand Lacina, später Finanzminister), Helmut Wobisch
(Geschäftsführer der Wiener Philharmoniker, Verbindungsmann
zur Wiener Musikwelt und der dort versammelten Borniertheit),
Isidor Amreich (renommierter Gynäkologe, mein erster Zugang
zu einer wirklichen Bibliothek, mit allen Karl May- und Tarzan-Bänden),
Anton Böhm (Neuland-Führer, prominenter Katholik, NS-Mitglied,
im Krieg im Außenministerium in Berlin, Sympathisant des Widerstandes
des 20. Juli, dann Chefredakteur des rechtskatholischen 'Rheinischen
Merkur' in Köln). Hermann Neubacher, erster NS-Bürgermeister
Wiens, war manchmal Gast. Auch Josef Klaus, später Bundeskanzler,
gehörte früher zu diesem Bekanntenkreis; bis Kriegsbeginn
hat er eine Zeitlang in der Firma meines Vaters gearbeitet
(die schließlich, wie viele andere in der Branche, nach dem
Wirtschaftswunder in Konkurs gegangen ist). Weitere dieser
alten Freunde waren Wilhelm Wolf, kurzfristig Außenminister
der Regierung Seyß-Inquart; von Heydrich hatte er, zurückgekehrt
aus dem gerade besetzten Prag, schockiert berichtet, er habe
'in die Augen des Teufels geblickt', sein tödlicher Autounfall
bald darauf ist, so hat es immer geheißen, wahrscheinlich
ein Attentat, jedenfalls aber für einen solchen Idealisten
ein Glück gewesen; oder der Historiker Franco Valsecchi, der
seine 'den deutschen Freunden' gewidmete Geschichte der faschistischen
Revolution ('Das moderne Italien'), mit dem Bekenntnis enden
ließ, die Wege Roms und Berlins verbinde 'die Poesie eines
titanischen Bemühens, die Welt zu erneuern'. Die Liste ließe
sich fortsetzen. Soldat war kaum einer von ihnen. Im Zivilleben
unverzichtbar zu sein, hat gegenseitige Wertschätzung produziert.
Gleichförmigkeiten ergeben sich auch aus der Nähe von Begeisterung
und Enttäuschung. Sich als Überlebende zu fühlen hat Solidaritäten
bestärkt. Große Wahlmöglichkeiten habe es keine gegeben, auch
nicht später, unter demokratischeren Verhältnissen. Bürgertum,
im Sinn halbwegs durchgehaltener Verantwortlichkeit, ist das
nicht mehr (oder noch nicht) gewesen, sowas ist eher gespielt
worden. Die Beziehungen stammten einfach aus der Jugend und
aus kaum revidierten studentischen Prägungen. Der wegen der
Massaker in Marzabotto in Italien inhaftierte 'letzte Kriegsgefangene',
der SS-Major Walter Reder, war ein entfernter Verwandter;
persönlich gekannt hat ihn niemand von uns. Eugen Kogon ('Der
SS-Staat'), selbst lange im KZ, hatte einmal zu diesen Jugendfreunden
gehört; nach dem Krieg gab es keine Kontakte mehr mit ihm.2
Neo-Nazis sind schließlich kein zentrales Thema mehr gewesen.
Zugehörige Ansichten haben ihre weitverzweigte Wirkungsgeschichte
getrennt davon entfaltet. Tiefgreifende persönliche Konflikte
hat es auch ohne neue Gruppenbildungen gegeben. Was jeweils
als Verrat eingestuft wurde, hat kein Außenstehender begreifen
können. Es blieb auch unbeantwortet, wie Katholiken mit den
angekündigten und dann praktizierten Vorstellungen von Menschenrechten
zurechtgekommen sind. Die zunehmende Entmischung herzeigbarer
und weniger herzeigbarer Personen brachte eine gewisse Normalisierung.
Treue zu einmal verfestigten Standpunkten hat sich anders
geäußert, klimatisch, in der Abwesenheit von Gegenpositionen.
Selbst das wiederholt sich ununterbrochen, als stereotype
Gruppendynamik, unabhängig von Inhalten. Zur 2. Republik gab
es ein sehr distanziertes, oft aggressiv-ablehnendes Verhältnis;
davon scheint sich einiges vererbt zu haben, auch wenn die
Motive später ganz andere waren. Nur von Künstlern durfte
eine solche Kritik nicht kommen. Der 'normale' österreichische
Antisemitismus ist von den Ereignissen unberührt geblieben.
Auf die Jüngeren übertragen hat sich das nicht so ohne weiteres,
auch nicht, daß solche ehemalige Nationalsozialisten mit Sozialistischem,
und auch Liberal-Libertinäres hat als solches gegolten, nichts
zu tun haben wollten. Dessen fallweises Eingehen auf ihre
Themen haben sie für eine Hinwendung zur Vernunft gehalten.
Dazu Ernst Jünger, mit Worten diese Art sich laufend neu konstituierender
Wirklichkeit vorwegnehmend: 'Die Bewegung von der extremen
Linken zur Rechten bringt mehr Realität, mehr Kenntnis der
politischen Grundprinzipien mit sich als die umgekehrte Wendung,
bei der die Phrasen schwieriger abzustreifen sind.' Trotzdem
war der Krieg mit Rußland, das absurder Weise für die Schutzmacht
aller eher linken Ideen gehalten wurde, - neben 'der Sache
mit den Juden', der 'schlechten Behandlung' der Polen, der
Ukrainer - als Anfang vom Ende eingeschätzt worden. Ohne solche
'Fehler' hätte es den ersehnten großen, überlegenen, autoritären
Staat geben können, als das neue, von einem Deutsch-Österreicher
geschaffene Reich, aus dem ein ideales christliches Römisches
Reich deutscher Nation werden sollte. Das ist als die eigentliche
Mission hingestellt worden, um sich als Deutscher endlich
vollwertig, also überlegen, vorzukommen. Der Angriffskrieg
war eine Verteidigung. Deswegen hat auch die nur leicht desillusionierte
Übertragung auf Amerika so gut funktioniert. Zur Entlastung
ist die eklatante Modernität des NS-Systems von sonderbar
agrarischen Vorstellungen überlagert geblieben, mit der von
oben beschützten Idylle als zentraler Fiktion. Im folkloristischen
Selbstbild Österreichs hat sich davon, einschließlich der
bis Waldheim dauernden anti-urbanen Schweigsamkeit, mehr erhalten
als anderswo. Geschwiegen wird auch jetzt noch genug. Diverse
Nahverhältnisse machen offenkundig, daß es primär um den Machterhalt
von Aufsteigern gegangen ist, die diesen Aufstieg von den
politischen Umständen, denen er zu verdanken war, abgekoppelt
haben. Die extrem erlebte Unvereinbarkeit von Moral und Politik
hat sogar das Gefühl bestärkt, weiterhin einer moralischen
Elite anzugehören. Die gängige Ablehnung von Parteifunktionären
dürfte mit dieser Selbsterfahrung zu tun haben. Nochmals einer
Partei beizutreten war undenkbar. Der Zugang zu neuen Möglichkeiten
hat sich mit den alten Verbindungen ohnehin sichern lassen,
nur die Bezugssfelder haben sich langsam verschoben. Von jenen,
die wieder weiter ins öffentliche Leben, in die Medien, vorgedrungen
sind, kamen auch keine substantiell anderen Beiträge (schon
gar nicht von Gerd Bacher, Hans Dichand & Co., selbst Bruno
Kreisky hat allzu oft dazupassende Standpunkte eingenommen).
Privat war der Ton durchwegs radikaler, als öffentlich erkennbar
wurde. Für den wachsenden Wohlstand ist das alles hingenommen
worden. Der Vorrang der Ökonomie hat sich sozusagen von selbst
ergeben. Ergeben hat sich auch, als Abbild allgemeiner Befindlichkeiten,
daß bei vielen Nutznießern dieser Entwicklungen Phasen liberal
erscheinender Läuterungsprozesse in zunehmendem Alter wieder
von hervorbrechender Beschränktheit abgelöst worden sind,
mit der 'Kronen Zeitung' als täglichem Konzentrat solcher
Ressentiments. Aus privilegierten Leben hat eben auch unter
den neuen Umständen nichts anderes mehr werden können. Der
Bankrott von Erziehung, Bildung, Disziplin, Religiosität wurde
nie als solcher empfunden. Entsetzen oder Trauer ist nicht
spürbar geworden. Jede öffentliche Distanzierung galt als
Opportunismus. Die Beschuldigungen wurden einfach nicht verstanden.
Schon den miterlebten Unmenschlichkeiten gegenüber muß es
daher ein eklatantes Ausmaß an Gleichgültigkeit gegeben haben.
Die Mehrheit und die hier beschriebene Minderheit haben sich
darin nicht unterschieden. Auschwitz ist als Unfall, als Auswuchs
gesehen und zur Aufrechnung von Untaten benutzt worden. Die
Nürnberger ('Rassen'-) Gesetze waren schon ganz am Anfang
für die sonst so strapazierten Gewissen keine Belastung. Den
Opfern ist eine Mitschuld zugeschoben worden, weil ihre Ansichten
nicht dazugepaßt haben, weil sogar in der Abstammung ein radikalisierter
Sinn gesucht worden ist. Ihre Aussonderung, wohin auch immer,
hat der Stärkung des Eigenen gedient, verstanden als Reinigung
von Fremdem, von Minderheiten, von Konkurrenz, als ethnische
Hygiene. Einheit, Vollkommenheit, Perfektion wären anders
nicht denkbar gewesen. Abschieben von Verantwortung nach oben
hat, wie gewohnt, damals und später moralisch entlastet. Es
ging ja durchgehend um 'Gefolgschaft', selbst Werkskantinen
haben noch lange 'Gefolgschaftsraum' geheißen. Sogar die Zustände
an Universitäten mit ihren Abhängigkeiten und Zitierkartellen
erinnern daran. Die Ideale standen so hoch über der Praxis,
daß die Wirklichkeit unwirklich, unwichtig erschienen ist.
Weil zwar Entsetzliches geschehen, aber 'das Gute' beabsichtigt
war, mußten die Intentionen nicht in Frage gestellt werden.
Nur bei der Umsetzung sei eben vieles falsch gelaufen. Sogar
das Leiden der Täter, und jener, die sie unterstützt haben,
ist als Opfer für die Gemeinschaft gesehen worden. Es wurde
weit stärker betont als das der eigentlichen Opfer, die also
selbst im Nachhinein noch zum Material solcher Überhöhungen
gemacht worden sind. Vom System war das so vorgesehen: Jeder
Überlebenswille, jede Abweichung hätte andere - und das Ganze
- gefährdet; Corporate identity in ihrer Extremform. Die allgemein
geforderte Todesbereitschaft hat halbwegs einordenbare Formen
des Tötens und Sterbens als notwendig, als sinnvoll erscheinen
lassen. Der Totenkopf der SS war Symbol dafür, jenseitsbezogen.
Viele Täter und Opfer waren tätowiert. Parteinummern und KZ-Nummern
folgten einer parallelen Logik. Aus der Kirche auszutreten
war in den mir bekannten Kreisen undenkbar. Gegen drohende
Parteiausschlüsse wurden bis zuletzt alle Hebel in Bewegung
gesetzt. In den Schlußphasen ist Zyankali die potentielle
Droge schlechthin gewesen. Später haben die Worte gefehlt.
Die pathetische Intensität solcher quasi-religiöser Ergriffenheit,
mit der zugehörigen Sucht zur Unterwerfung, ist in der Erinnerung
immer wieder hochgekommen. Das Bedürfnis nach analogen Erlebnissen
wirkt auch losgelöst davon weiter. Genaueres über derartige
Zusammenhänge wollte von den hier einbezogenen Beteiligten
keiner mehr wissen. Jede Sebsterforschung ist abgeblockt worden.
Wegen solcher Eindeutigkeiten sind zuerst zunehmend ein Druck
und dann Trennungen entstanden. Für Gespräche über 'das Thema'
wäre früher Zeit gewesen. Das Warten auf Antworten hat irgendwann
beiden Seiten nichts mehr bringen können. Herausgekommen ist
aggressive Spontaneität, parallel dazu Langsamkeit.
Inzwischen sind die meisten der Genannten tot; in Nachrufen
ist ihr Mitwirken und Mitwissen ausgespart geblieben. Ihnen
und anderen mehr Verständnis entgegenzubringen, scheint angebracht
zu sein, wenn damit nicht Unterschiede relativiert würden.
Die stattfindende Aufweichung der Fronten erzeugt aber nicht
differenzierende Konsensfelder, sondern kryptische Austauschverhältnisse:
'Auschwitz war nicht unmenschlich, weil es von Menschen gemacht
war.' Scharfen Denkern gefallen solche Wortfigurationen. Diverse
Nebenbedeutungen werden damit schnell nebensächlich. Entschuldigungen
bekommen ein neues Umfeld. Gleichzeitig bedeutet Anklagen
zunehmend, sich bloß bequem der Opfer, und zwar der eigentlichen
Opfer, zu bedienen. Selbstverständliches dauernd zu betonen,
verdreht sich zur Demonstration eigener Entrüstung. Sie zu
unterdrücken erweitert aber den Spielraum anderer. Mit solchen
Skrupeln, bis hin zur Rede vom 'Holocaust-Business', lassen
sich Desinteresse und Gleichgültigkeit, als Varianten von
Freiheit, begründen. Gleich gültig wird vieles, wenn genügend
Distanz behauptet werden kann. Die komplexen medialen Mechanismen
für die Bildung von Lobbies - die gerade Diskriminierte, Unterdrückte,
Verfolgte brauchen würden, ohne eine Hierarchie von Quantitäten
- schaffen durch Professionalisierung und deren vieles ausschließende
Regeln zusätzliche Formen von Gleichgültigkeit. Was nicht
geschäftsmäßig betrieben wird hat kaum Erfolgsaussichten.
Emotionalisierungen ergeben bloß kurzfristige Schübe. Hinreichend
zivilisierte Zustände brauchen Kontinuität, aber nicht jene,
die es so leicht hat, das von sich zu behaupten. Angerichtet
ist jedenfalls selbst in täternahen Familien genug geworden,
das wird noch Jahrzehnte später immer wieder spürbar, ob daraus
nun Entfernung und Sprachlosigkeit oder neuerliche, in anderer
Weise wiederkehrende Annäherungen an übewunden geglaubte Muster
entstanden sind.
Personen und Räume
Vom Schweigen der Menschen, der Opfer ohnedies, aber auch
der Täter und ihres Rückhalts, führt das zum Schweigen von
Räumen. Es läßt sich anders entschlüsseln, weil die Faktenlage
auch in Details aus eigenem rekonstruierbar ist.3 Damit verbindet
sich Öffentliches mit Privatem, Distanzen verringern sich.
Die Topographie ist statischer als Persönliches, wenn es um
die Feststellung ihrer Einbeziehung in bestimmte Ereignisse
geht. Wo sich Hitler in Wien überall eingemietet hatte, ist
inzwischen genau bekannt. Wo Mozart gewohnt hat, darauf wird
ostentativ hingewiesen. Die Art der Prominenz - und ein Echo
von Wertigkeiten - macht den Unterschied. Privates hat mit
anderem Privatem vorerst nichts zu tun. Selbst das Erinnern
an das nicht Erinnerbare wird räumlich auf einige wenige Punkte
konzentriert.
Erst die Vergangenheit unbedeutender Orte verdeutlicht, wie
das Geschehen mit dem Normalen und dem was heute als solches
erfahren wird, verknüpft gewesen ist. Weil sie anders auf
einen wirken, gerade wenn kein unmittelbares Erleben oder
Überleben Erinnerungen prägt, wird daher hier, mit der Tendenz
zum Exemplarischen, auf die dichten Netze solcher örtlichen
Beziehungen eingegangen, als weitere Ebene zu biographisch
determinierten Bezügen. Plötzlich ergeben sich aus zusammenhanglosen
Details vorher nicht bewußte Berührungspunkte. Zeit wird nicht
mehr als geschichtliche Distanzierung erfahren, eher als Begleiterscheinung
einer Entfremdung von Kontinuität. Kausalitäten haben ganz
wo anders ihre Schnittstellen, an Oberflächen ergeben sich
dennoch latente Zusammenhänge. Solche Erfahrungen flankieren
jeden Konsens der Empörung, der Wut, der Scham, der Verständnislosigkeit,
dem der 'Museumsbesuch' in Mauthausen, als Dekoration des
Besseren, entspricht. Sich Hilflosigkeit einzugestehen, wäre
dabei oft angebrachter. Ein tatsächliches Teilnehmen am Vergangenen,
geschweige denn ein Verstehen, kann niemand sich wünschen.
Die Abgrenzung von Verstehen und Akzeptieren ist viel zu fließend.
Trauer, Mitgefühl reduzieren sich sprachlich auf Beileid,
auf ein Finden richtiger Worte, auf geeignete symbolische
Formen. Persönlich nicht Erfahrenes bleibt abstrakt. Jede
behauptete Verbindung erscheint als künstliche Konstruktion.
Schwankungen zwischen Distanz und Berührtsein erzeugen Phasen
der Abwendung, der Entlastung. Berichte vom Leiden anderer
oder gar ein 'Betroffenheitskult' (Cora Stephan)4 machen niemanden
zum glaubhaft mitfühlenden, analysierenden, aufmerksamen Subjekt.
Solche Dinge alle auf sich zu beziehen, wäre nur eine neuerliche
Fiktion von Totalität. Plausibler ist es, sich mit solchem
Wissen in Gegenrichtungen zu bewegen, von sich weg, weg von
Wiederholungsrastern. Daß die hier einbezogenen Sachverhalte
mit einzelnen Personen, oder eben dem Autor, verknüpft sind,
ergibt keine eigenen Bedeutungen; es sind - auch in übertragenem
Sinn - eher die Räume, in denen sie sich bewegen oder bewegt
haben, die beim Nachforschen ein Echo des Geschehens erzeugen.
Dessen dauernde Präsenz könnte niemand aushalten. Vielleicht
geht es bloß darum, dabei auftauchende Fakten und Linien zwischen
Geschehenem, Nötigem, Möglichem nicht aus den Augen zu verlieren.
Trümmerhaufen sind solche Dinge ohnedies. Es geht um Schweigen,
um Zuhören. Etwas abzubilden wäre verfehlt. Über 'die zähe
Überlebensfähigkeit der immateriellen Strukturen, die in den
Köpfen der Menschen gleichsam überwintert' haben, wie Hans
Magnus Enzensbeger das nennt5 und über zugehörige materielle
Strukturen etwas zu berichten, kann nur ein Versuch sein,
als vorsichtige Offenlegung einander überlagernder Spuren,
auf die jeder oder jede immer noch stoßen kann.
Lemberg
In Lemberg zum Beispiel, das mir nur als da und dort wiederkehrender
Name ein Begriff ist, hat im Krieg derselbe Künstler, von
dem die Kapuzinergruft in Wien bei ihrer Renovierung mit neuen
Wandgemälden versorgt worden war, als weitere Auftragsarbeit
das Offizierskasino mit einer Maria Theresia dekoriert. Offenbar
sollten mitteleuropäisch-multikulturelle Traditionen ins Spiel
gebracht werden, gerade als ihre endgültige Zerstörung bereits
voll in Gang war. Durch die Aufzeichnungen seiner damaligen
Frau sind die Begleitumstände überliefert; er selbst blieb
schweigsam, beschäftigt mit seiner 'an deutschen Mystikern
orientierten Frömmigkeit'. Sie war ihn bloß besuchen gewesen
und über das dabei miterlebte, vor aller Augen stattfindende
Morden, über die Selbstverständlichkeit von befehlenden und
ausführenden Tätern und das öffentliche Reden darüber, hat
auch sie erst viel später etwas publiziert. Schweigen und
Sprachlosigkeit sind also unabhängig von der jeweiligen Position
eine um sich greifende Erscheinung gewesen. Auf den Einladungen
für die Künstler aus Wien jedenfalls, haben sie, die für Lemberg
Beauftragten, so wie heute irgendwo anders, die freundlichen
dortigen Machthaber kennengelernt, also den Gouverneur Galiziens
Otto Wächter (jeder wußte, 'er hatte was mit dem Dollfußmord
zu tun') und sein Umfeld: 'Leute, die es verstanden zu kommandieren'.
Dessen Vorgesetzter Hans Frank, Hitlers langjähriger Anwalt,
anfangs Justizminister, dann zuständig für das Generalgouvernement
in Polen, einer der radikalsten NS-Führer, wird nicht namentlich
genannt, ist aber als Figur präsent. Das Gesprächsklima dürfte
ein interessiertes gewesen sein, gerade in Kreisen, die zum
höchsten NS-Führungsapparat zählten, mit seinen - laut Joachim
C. Fest - zahlreichen 'verhinderten, nicht zum Zuge gekommenen
oder gescheiterten Halbkünstlern', wie Hitler, Rosenberg,
Speer (Architektur), wie Goebbels, Schirach, Frank (Literatur).6
Frank ist bekanntlich in Nürnberg als Hauptkriegsverbrecher
hingerichtet worden (mit den Österreichern Seyss-Inquart und
Kaltenbrunner). Der Österreicher Otto Wächter, ebenfalls den
Intellektuellen der Zeit zuzuordnen, war vor 1938 im Führungsstab
der illegalen Nazis, dann Polizeipräsident in Wien, schließlich
hoher SS-Führer und Franks Stellvertreter in Lemberg - der
Stadt, die zugleich zentraler persönlicher Erfahrungsraum
Simon Wiesenthals gewesen ist. Wächter hat das Kriegsende
nur kurz überlebt, getarnt als Priester, im Sterben betreut
vom berüchtigten österreichischen Bischof Hudal, der von Rom
aus für derartige Fälle, inklusive Eichmann und Mengele, als
Fluchthelfer tätig gewesen ist.7 Details des Entsetzlichen
und solche, inzwischen hinlänglich zugängliche Fakten, sollen
hier nicht weiter ausgeführt werden. Daß sich zu eigenen Lebensbereichen
beklemmende Bezüge ergeben, wenn Schichten privater Orte freigelegt
werden, vergegenwärtigt, über Alltäglichkeit, was sonst, Jahrzehnte
später, manchmal schon völlig fern erscheint.
Wien
Die Jahre des Infernos im heute ukrainischen Lwów (Lemberg)
zum Beispiel, das vom 1. Juli 1941 bis zum 28. Juli 1944 von
Deutschland besetzt gewesen ist, in einen geschichtlichen,
auf Wien bezogenen Kontext zu stellen, macht einem vielleicht
bewußt, daß Georg Trakls letztes Gedicht 'Grodek' heißt und
Ludwig Wittgenstein im 1. Weltkrieg in Galizien Soldat war.
Mit erweitertem Blickwinkel wird man darauf stoßen, daß Martin
Buber oder Sacher-Masoch in Lemberg aufgewachsen sind, Zbigniew
Herbert dort geboren wurde, daß Joseph Roth, Salcia Landmann,
Karl Radek oder Stanislaw Lem aus der Gegend stammen.8 Nur
hatte sowas plötzlich jede Bedeutung verloren.
Für das Morden in Lemberg, in Galizien, ist Otto Wächter
ein Hauptverantwortlicher gewesen. Für sein Privatleben hat
er in Wien eine Villa auf der Hohen Warte gehabt, unweit vom
Gauleiter und Reichsstatthalter Baldur von Schirach und dem
Haus der emigrierten Alma Mahler-Werfel. Dort haben die Frau
und die Kinder gelebt, er ist zu Besuch gekommen. Sie war
'arisiert' und ihm zur Verfügung gestellt worden, die Beschlagnahmeverfügung
der Gestapo ist im Grundbuch penibel vermerkt. Vorher hat
sie den Eigentümern der Ankerbrot-Werke gehört, einem der,
mit seinem Standort in Favoriten und einer starker Prägung
durch die Arbeiterbewegung, dominierenden Wiener Unternehmen.
Gegründet wurden sie 1891 von den Brüdern Heinrich und Fritz
Mendl. Fritz Mendl hat sich dann das Haus auf der Hohen Warte
gekauft. Er, seine Frau und ein Sohn starben noch vor dem
2. Weltkrieg. Drei Töchter sind nach Australien und Neuseeland
ausgewandert, eine davon ist erst 1938, mit dem letzten Zug,
entkommen. Nur der Sohn Otto Mendl blieb vorerst in Wien.
Um seiner Gefährdung als prominenter Verfolgter zu entgehen
ist er ins für ihn anonymere Berlin gezogen. Als ausgebildeter
Pilot wollte er bei der Luftwaffe Zugang zu einem Flugzeug
erhalten, um mit Frau und Kind doch noch fliehen zu können.
Am Kurfürstendamm ist er von einem Wiener erkannt und der
Gestapo gemeldet worden; er ist in Rußland, so hat es geheißen,
bei Arbeitseinsätzen der Organisation Todt umgekommen. Genaueres
hat die Familie nie erfahren. Seinem Sohn ist es gelungen,
in Wien, mit Hilfe der Familie Tarbuk, als Lehrling in deren
Betrieb in Favoriten zu überleben. Er ist seither in der Sozialarbeit
tätig. Im Gespräch mit einem Enkel, Thomas Mendl, der sich,
als zweite Generation nach dem Krieg, wieder intensiver mit
der Familiengeschichte befaßt, bestätigt sich, wie das alles,
oft über Umwege, weiterwirkt und wie gering das Interesse
an solchen Schicksalen gewesen ist. Gleich nach dem Anschluß
hatte ein Plakat stolz verkündet: 'Die Ankerbrotfabrik A.
G. hat ab 15. März 1938 eine rein arische Leitung und beschäftigt
1600 arische Mitarbeiter.' Gauleiter Bürckel hat sie dann
einach verschenkt, an die Interessens- und Schutzgemeinschaft
des Wiener Bäckerhandwerks, im Zuge der Verhandlungen um eine
Brotpreissenkung. Das Unternehmen und das Haus wurden verschiedenen
Erben schließlich zurückgegeben. Von der Kunstsammlung und
der Einrichtung ist nichts mehr vorhanden gewesen. Die anderen
Angehörigen sind nicht zurückgekehrt. Die Ankerbrot-Werke
blieben noch bis 1970 in Besitz von Bettina Mendl. Mit dem
Namen der Gründer sind sie kaum noch verbunden worden. Die
in Wien lebenden Familienmitglieder hatten damit nichts mehr
zu tun. Der weitläufige Park mußte schon früh an die Stadt
Wien verkauft werden, die dort eine große Gemeindebauanlage
errichtet hat. Ein Teil des Hauses wurde vermietet.9 Dort
haben meine Eltern fast 30 Jahre lang gelebt und wir drei
Geschwister, bevor wir ausgezogen sind. Von den Bewohnern
während des Krieges ist uns nie etwas bekannt gewesen. Der
Name Wächter war den Erwachsenen durchaus geläufig. Kontinuität
hat sich auch ohne Kenntnis solcher Einzelheiten ergeben.
Der Bezug zwischen Lemberg und der Hohen Warte ist mir erst
viel später bekannt geworden, durch Linde Wächter, die seit
Jahren als Künstlerin in Frankreich lebt. Sie hat einmal Fotos
gesehen und das Identische mit eigenen Familienfotos erkannt.
Erinnern kann sie sich selbst nicht mehr, dafür war sie damals
zu jung. Inzwischen hat sich die Nachbarschaft neuerlich stark
verändert. Unsere ehemaligen Räume hat ein ein Fotograph übernommen.
Gegenüber wohnt die Vermögensverwalterin der KPÖ. Zur Villa
des Bundespräsidenten ist es nicht weit.
Ein solches Zusammentreffen von Biographien, Nachkommen,
Bekanntschaften und Wohnungen allein kann noch nicht als auffällig
dichte Ablagerung von Zeitgeschichte verstanden werden. Da
aber Dorothea Zeemann, deren Berichte aus Lemberg hier einen
der Ansatzpunkte bilden,10 von den 30er- bis in die 50er-Jahre
in derselben Dachwohnung in der Wiener Innenstadt gelebt hat,
in der ich mit meiner eigenen Familie seit den 60er-Jahren
wohne, ergibt sich eine Anhäufung von Tatsachen, die zu bestätigen
scheinen, daß sich existentielle Situationen, also sogar Wohnen,
nicht von vorangegangenen Konstellationen ablösen. Ihre biographischen
Texte haben mich vermuten lassen, daß es sich dabei um unsere
heutige Wohnung handelt. Später haben wir uns kennengelernt
und der Sachverhalt ist bestätigt worden. Wichtig ist das
keinem von uns gewesen. Sie wollte sich den jetzigen Zustand
gerne noch einmal ansehen, dazu ist es aber nicht mehr gekommen.
Die Liste solcher Rekonstruktionen setzt sich fort, wenn
ich unsere Nachkriegswohnung hinter der Universität mit dem
benachbarten Neuen Institutsgebäude in Zusammenhang bringe,
das an der Stelle der Wehrmachtskommandantur, zugleich das
Festungskommando Wien, errichtet worden ist. Dort ist Major
Karl Biedermann verhaftet worden, der dann wegen Vorbereitung
von Widerstandsaktionen in Floridsdorf am Spitz öffentlich
gehängt worden ist. 1934 hatte er die Angriffe auf den Karl
Marx-Hof in Wien geleitet, gestorben ist er mit der Aufschrift:
'Ich habe mit den Bolschewiken paktiert!'. Mit der Witwe Biedermanns
ist meine Mutter bekannt gewesen. Ihr Bruder, mein ungarischer
Lieblingsonkel, war bei diesem Rückzug entlang der Donau dabei,
verwundet, verlegt von einem Lazarett ins nächste. In die
Waffen-SS geraten war er durch das Angebot einer schnellen
Kriegsmatura am Deutschen Gymnasium in Budapest. Über seine
Kriegserlebnisse in Rußland hat er nie wieder ein Wort gesprochen.
Schließlich wurde er Ökonomieprofessor (K. L. Herczeg: Zukunft
der Weltwirtschaft) und ist, erst Mitte dreißig, bei Unruhen
in Burma, wo er zuletzt tätig war, erschossen worden. Die
damalige Wohnung meiner Eltern wiederum, in der ich ein paar
Monate als Säugling verbracht habe, war beim Augarten. Erste
Eintragung eines Prominenten im Gästebuch: der Schriftsteller
Edwin Erich Dwinger, der mit Bruno Brehm oder Hans Sedlmayer
für das künstlerische Umfeld dieser Gruppierungen bestimmend
gewesen ist. Ein paar Häuser weiter: eine ehemalige jüdische
Schule, die damals als Sammellager für Judentransporte gedient
hat und Sitz des Befehlsbabers der Sicherheitspolizei und
des Sicherheitsdienstes für Ungarn war, zuständig für die
Überwachung des Arbeitseinsatzes ungarischer Juden. Das ist
mir einmal in einem Buch aufgefallen, familiär wurde das nie
beachtet. Die Filter für Wahrnehmung und Erinnerung sind offenbar
zu selektiv. Eine mir viel wichtigere Wohnung, in die ich
als Student zu meiner Frau gezogen bin, ebenfalls im 2. Bezirk,
ist im zaghaft wieder besiedelten alten jüdischen Viertel
gewesen. Erst seit kurzem weiß ich, daß genau dort, beim alten
Dianabad, damals Stephanie Straße 1, einmal Theodor Herzl
gewohnt hat, zur Zeit seiner Heirat mit Julie Naschauer, als
er noch umtriebiger Journalist und Bühnenautor (erste Burgtheateraufführung)
gewesen ist.11 Solche kleine Parallelen des Privaten bewirken
immerhin einen neuen Blick auf sonst nicht beachtete Biographien;
beide sind jung gestorben, der Sohn und eine Tochter begingen
Selbstmord, die andere Tochter starb im KZ-Theresienstadt;
auch deren Sohn, der einzige Enkel, hat sich umgebracht. 1949
ist Herzls Grab vom Döblinger Friedhof in Wien nach Jerusalem
verlegt worden.
Budapest
Eine neuere Konstellation, Jahrzehnte später, hat dazu geführt,
daß ich eine kleine Zweitwohnung in Budapest habe, zu der
es ohne das zufällige Angebot von Freunden nie gekommen wäre.
Sie liegt am Kleinen Ring in der Elisabethstadt (Erszébetváros)
im Haus neben der großen Synagoge. Manchmal sind die Gesänge
des Kantors zu hören, der drei Türen daneben wohnt. Eingenommen
hat mich die Gegend mitten im Zentrum, das vergleichsweise
Normale, Unaufgeräumte, Ungeordnete, die anderen Gesichter.
Eine Aufenthaltsmöglichkeit im nächstliegenden Ausland ist
plötzlich verlockend erschienen, als Verdoppelung meines Stadtraumes,
als Umgebensein von einer fremden Sprache. Geschichte oder
Herkunft waren vorerst eher nebensächlich, obwohl ich im Schreckensjahr
1944 in Budapest geboren wurde. Offenbar wollte ich etwas
haben, das ich bisher noch nicht hatte, eine andere Art von
Nähe; es ging um irgendeinen Ersatz, also sozusagen um Kitsch.
Die verfallenden Häuser rundum und die orientalisierende Architektur
lassen einen manchmal glauben, in irgendeinem fiktiven Land
zu sein. Daß da das jüdische Viertel war, ist trotzdem auf
Schritt und Tritt zu merken. Warum mir gerade eine solche,
andere, davon besonders belastete Umgebung trotzdem anziehend
erscheint, selbst wenn Kindheitserinnerungen an Besuche bei
den Großeltern ausgeblendet bleiben, hat sich erst schrittweise
zu erkennen gegeben; es dürfte die noch sooft sichtbare Zerstörtheit
sein. An ihr läßt sich ablesen, was anderswo verborgen wurde,
die mentale Zerstörung, das Verschwinden von Erfreulichem
und Furchtbarem. Die Glätte ist erst im Kommen.
Das zeigt sich zum Beispiel daran, wie eigenartig sich Budapest
von den Denkmälern der jüngeren Geschichte getrennt hat. Sie
stehen jetzt auf einer belanglosen Wiese weit draußen, in
einem trostlosen, postmodern dekorierten Erlebnispark. Nur
an der großen Synagoge erinnert noch eine winzige Tafel und
ein kürzlich errichtetes Denkmal im Hof daran, daß das Ghetto
im von Deutschen und Ungarn terrorisierten Budapest nach wochenlangen
Kämpfen um die Stadt von der Roten Armee befreit worden ist;
das darauf genannte Datum: 18. Jänner 1945, neun Tage bevor
Auschwitz erreicht wurde. Auf einem berühmten Foto von Jewgenij
Chaldej, der das, wie auch später in Wien und Berlin ('Die
Sowjetfahne auf dem Reichstag') dokumentiert hat, schaut ein
mit gelben Sternen markiertes Paar eindringlich auf die Ankommenden.12
Es geht mitten auf der Straße, die sonst fast menschenleer
ist. Im Zuge der antisemitischen Säuberungen hat der Fotograph
bald darauf seine Stellung verloren, erst nach der Wende,
kurz vor seinem Tod, sind seine Arbeiten international wieder
beachtet worden. Bei der Buchpräsentation in Wien haben wir
uns kennengelernt.
Als sich bei solchen Nachforschungen herausgestellt hat,
daß ich unmittelbar neben dem nicht mehr existierenden Geburtshaus
von Theodor Herzl wohnen würde,13 hat sich das Muster für
einen solchen Text über Strukturebenen eigener Lebens- und
Wohnsituationen wie von selbst ergeben. Die Entdeckung nicht
so ohne weiteres erkennbarer Bedeutungen und Beziehungen verstärkt
offenbar das Gefühl von Berührung, von vagem, trotzdem abgesonderten
Eingebundensein. Sich anhand solcher Funde damit zu beschäftigen,
inwieweit das reine Fiktion ist, erzeugt etwas; manchmal vielleicht
sogar Ironie, eine halbwegs erträgliche Ironie. Das Mitleid
mit der eigenen Entfremdung versachlicht sich. Die Tatsachen
selbst sind keine Fiktion. Herzls Geburtshaus läßt sich nur
über Bücher auffinden; jahrzehntelang ist es unerwähnt geblieben.
Eine Hinweistafel gibt es nur im Stiegenhaus des später auf
diesem Areal an die Synagoge angebauten Jüdischen Museums.
Dabei sind dem ideellen Gründer des 'Judenstaates' - sein
gleichnamiges, kaum mehr als 100 Seiten starkes Buch erschien
1896 - Synagogen fremde Orte geblieben, erst in Paris hat
er wieder bewußt einmal eine aufgesucht.14 Sein Name ist eine
Übersetzung aus dem Hebräischen, lev heißt Herz. Als er achtzehn
war, ist die Familie nach Wien übersiedelt. Die zunehmende
Magyarisierung scheint dazu beigetragen zu haben. Sie wollten
weiter primär deutsch sprechen, ohne deswegen benachteiligt
zu werden. Im Roman 'Altneuland' wird ein anderes Neuland
beschrieben, als das, von dem schon die Rede war. Er ist seit
Jahren nicht mehr erhältlich. Ausgerechnet dort, wo Theodor
Herzl geboren worden ist, war das Haupttor des Ghettos, das
vor Kriegsende im Zuge der großen Deportationen eingerichtet
wurde. Auf einem von der Jewish Agency herausgegebenen Stadtplan
ist die Situation von 1944 minutiös verzeichnet, sogar dazu
ist es erst fünfzig Jahre danach gekommen.15 Vom Dachgeschoß
sind die Türme der nahen Synagoge in der Rumbach utca (von
Otto Wagner, 1872 ) zu sehen, zur orthodoxen Synagoge in der
Kazinczy utca (von Béla und Sándor Löffler, 1913) sind es
nur wenige Schritte. Beide sind in sehr schlechtem Zustand,
nur die Hauptsynagoge, die größte Europas, genannt der Dohány-Tempel
(von Ludwig Förster, 1859, der auch die Große Wiener Synagoge
in der Tempelgasse entworfen hat, die 1938 zerstört wurde),
ist bisher restauriert worden.
Selbst unscheinbare Orte des Schreckens, wie die Straßenzüge
und Höfe dahinter, in denen es noch knapp vor der Befreiung
ein wildes Morden gegeben hat, haben ihre traurige Anziehungskraft.
Mit Äußerlichkeiten läßt sich das nicht begründen. Wirkungen
werden von Unsichtbarem erzeugt. Man sieht, was man weiß,
was man entdeckt, was einem gezeigt wird, zum Beispiel, daß
der Hof hinter der großen Synagoge jetzt auch dem Gedenken
an Raoul Wallenberg dient, dem schwedischen Diplomaten, der
tausende Juden gerettet hat. Am Tag vor der Befreiung ist
er das letzte Mal in Budapest gesehen worden und dann als
Häftling der Befreier umgekommen. Die Nähe solcher Stätten
zu scheuen, würde die Beschäftigung mit derartigen Dimensionen
des Bösen vom Konkreten fernhalten. Der Vorsatz, das radikal
Fremde und das damals Normale der Taten und der Täter in Zusammenhang
mit dem Jetzt wahrzunehmen, wirft einen zurück auf die Unvorhersehbarkeit
realer Wiederholungen. In diesem Durcheinander taucht die
Vorstellung auf, daß es unbetretbare Räume geben müßte. Trotzem
ist die Existenz von Tabus ein Tabu. Nirgends wird daran erinnert,
daß Haß und Rache sich auf Seite der Opfer so in Grenzen gehalten
haben. Daß die Schoah ein europäischer Tatbestand ist, einschließlich
der orthodoxen Vorstellung, sie sei nur als Strafgericht Gottes
zu begreifen, oder nur über Erzählungen darstellbar, wie in
Lanzmanns Film,16 verschwindet immer wieder unter diversen
Wahrnehmungsschwellen. Zugehörige Bildwelten verschieben sich.
Funktionen des Vergessens geben sich oft erst sehr viel später
zu erkennen. Ob Eisenbahnschienen und rostige Güterwaggons
wenigstens manchmal noch den Zweck, zu dem sie damals benutzt
worden sind, vergegenwärtigen, ist offenbar von gespeicherten
Impulsen und Bildreflexen abhängig, die spontan bewußt werden.
Angehaltene Bewegung verlängert solche Momente. Konkrete Details
sind eine andere Form dieser Momente.
Daß gerade in Budapest oder Wien keine besonderen Zufälle
notwendig sind, um mit 'Erinnerungen an das Töten' konfrontiert
zu werden, macht diese zusammengetragenen Fakten zu einem
ins Persönliche hereinwirkenden Konglomerat verlassener, devastierter,
unauffälliger Umgebungen, die Schauplätze gewesen sind, wobei
dieser Wortsinn - das Schauen, der Platz - dabei seine eigenen
Dimensionen erhält. Das Subjektive daran ist determiniert
durch Objekte.
'Ich', schreibt Imre Kertész17 in einem Aufsatz dazu, 'lebe
in einem anderen Haus, in einer anderen Stadt als der, in
welcher meine Nachbarn leben'. Bilder der Erinnerung hätten
mit der Gegenwart eines Ortes nichts mehr zu tun. Erzählen
darüber könne ihm bloß noch sein Gedächtnis. Die Gleichgültigkeit,
mit der er inzwischen da und dort vorbeigeht, überrasche ihn
nur noch manchmal. Mit den Orten, die für sein Leben entscheidend
gewesen sind, beschäftigt er sich in seinen Texten, etwa mit
der Gegend, in der er als Fünfzehnjähriger auf dem Weg zum
Arbeitsdienst in der Shell-Raffinerie in Csepel, im Süden
der Stadt, aus dem Autobus geholt und nach Auschwitz deportiert
worden ist. Budapest selbst ist für ihn 'eine Stadt ohne Gedächtnis',
ist 'nicht länger geistiger Schauplatz, nichteinmal mehr im
Sinne negativer Inspiration'. Er lebe dort als Auswanderer,
'der es immer nur hinausschiebt, sich seine Reisedokumente
zu beschaffen'. Daß ihm zunehmend vorgehalten werde, er 'schriebe
nur über ein einziges Thema (nämlich Auschwitz) und sei somit
nicht repräsentativ für das Land (nämlich Ungarn)', könnte
ihm wo anders auch passieren. Mit dem Vorwurf, er hätte an
Tiefe verloren, kann er genauso wenig anfangen. Es wird damit
unterstellt, für eine solche Tiefe wäre dieses und jenes tatsächlich
notwendig gewesen. 'Ich habe nie daran gedacht, daß ich Jude
bin, ausgenommen die Momente der Bedrohung', sagt er dazu
im 'Galeerentagebuch'. Sein Vater ist auf einem der mörderischen
Gewaltmärsche ungarischer Juden auf heute österreichisches
Gebiet erschossen worden, in der Nähe von Sopron; so wie der
Dichter Miklós Radnóti in der Nähe von Györ. Zu 'ungarischen
Juden' sind diese Menschen letztlich per Dekret gemacht worden,
selbst sprachlich wirkt vieles davon weiter. Sich solcher
Namen zu erinnern verbindet möglicherweise doch den Einzelfall
mit dem Anonymen. Nur an die Masse zu denken, entspräche dem
Denken der Täter.
Wie Gedächtnisse funktionieren und funktionieren werden,
ohne bloß auf Formalismen zu reagieren, ist angesichts solcher
Bezüge ein kategorisches, aber auch ein medienanalytisches
Thema. Das forcierte Bild des Konsumenten, der in einer sich
vergröbernden, schematisierten öffentlichen Sphäre keine Chance
hat, 'Bürger' zu sein, gleicht in vielen Aspekten dem Antisemiten.
In Adornos Text über die 'Aufarbeitung der Vergangenheit',
die Ursachen beseitigen müßte, wird der Antisemit dadurch
definiert, 'daß er überhaupt keine Erfahrung machen kann,
daß er sich nicht ansprechen läßt'.18 Er ist aber kein Typus
mit einem Gegentypus, wie dadurch unterstellt wird. Die Gefährdung
bleibt eine allgemein-strukturelle und eine subjektive. Das
ist weiterhin auf viele Felder übertragbar; auch wenn die
Bücher von Victor Klemperer, Aleksandar Tisma, Heimrad Bäcker,
Josef Skvorecky, Primo Levy, Jorge Semprun oder Imre Kertész
überall erhältlich sind. Von geschichtlicher Gegenwart läßt
sich das alles nicht abtrennen. Die immer noch übliche Ausgrenzung
des Geschehens als barbarischer Ausbruch unterwirft sich selbst
wieder einer atavistischen Faszination des Bösen. Die auf
tatsächliche Vernichtung ausgerichtete Variante des Antisemitismus
ist ein genuin modernes, singuläres, antihumanistisch-technologisches
Ereignis, 'das überhaupt erst in einem modernen Stadium der
Entwicklung auftreten konnte' (Zygmunt Baumann).19
Akira Kurosawa (1910 - 1998) hat, um mit einem anderen kulturellen
Hintergrund zu schließen, in seiner Autobiographie Hiroshima
und Nagasaki mit keinem Wort erwähnt; erst spät wurde das
zum Thema eines seiner Filme. 'In der Kriegszeit ähnelten
wir alle Taubstummen', schreibt er und stellt auf seine Person
bezogen klar: 'Ich habe dem japanischen Militarismus keinerlei
Widerstand entgegengesetzt. Leider muß ich eingestehen, daß
ich nicht den Mut hatte, Widerstand zu leisten; ich schmuggelte
mich durch, indem ich mich, falls nötig, einschmeichelte oder
die Zensur umging. Dafür schäme ich mich ...'; als Konsequenz
daraus ist ihm besonders vorrangig erschienen, 'das Ich als
einen positiven Wert zu etablieren', seinen ersten Film nach
dem Krieg hat er diesem Thema ge-widmet: 'Waga seishun ni
kui nashi' ('Ich bereue meine Jugend nicht').20
Dieses zweifelnde, skeptische Ich, das bei ihm nicht mit
Mitleid rechnet, sich aber wenigstens einen gewissen Blick
bewahren sollte, kommt, so ließe sich fortsetzen, ohne Beschäftigung
mit dem anderen Menschen, mit Bildern von ihm, mit seiner
Unendlichkeit, nicht aus, etwa im Sinne des Denkens über soziale
Beziehungen, über Gerechtigkeit und Pluralismus bei Emmanuel
Lévinas. Im Hebräischen ergibt sich dafür ein spezieller Bezug,
das Wort für Verantwortung (achariout) schließt den anderen
(acher) mit ein. Emmanuel Lévinas (1905 - 1995) übrigens ist
in einem Lager in der Lüneburger Heide, unweit von Bergen-Belsen,
gefangen gewesen und hat wegen der Ermordung seiner gesamten
in Litauen verbliebenen Familie beschlossen, nie wieder nach
Deutschland zurückzukehren. Seine Überlegungen zu den Dimensionen,
was es heißt, dem anderen Menschen zu begegnen, hat Jaques
Derrida präzisiert, indem er den essentiellen Unterschied
betont, der im Problem liegt, den anderen Menschen überhaupt
zu konstituieren. Das lasse sich nicht der Begegnung entgegensetzen.
Anwesenheit und Abwesenheit des eigenen und des anderen Ich
jedenfalls hat viel mit Spurensuche und Spurensicherung zu
tun. Bei Lévinas heißt das: 'Die Spur des Anderen'. 'Er kommt
immer aus einer Vergangenheit, die nie meine Gegenwart war.'
21
Mit der inzwischenen gewonnenen Distanz gelte es daher umso
mehr - so Agnes Heller, als wieder von Budapest aus wirkende
Stimme - im Blick zurück auf dieses 'Jahrhundert der Katastrophe',
dieses 'Jahrhundert der Praxis', das Gewesene vor einer bestimmten
Art seiner Überlieferung zu retten und das Schweigen der Opfer
zu verteidigen, 'gegen die empörend billige Sentimentalität,
angesichts der akademischen Haarspalterei, gegen politische
Machinationen und auch angesichts zu lauter Lamentation. Ferner
können die Trauernden die Ruinen der menschenverschuldeten
Apokalypse immer wieder bloßlegen, sich von den neuen Trümmern,
die immerfort über ihnen aufgehäuft werden, befreien ... '
22
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Caroline & Robert O.
Eine Geschichte für
Spätsozialisten (Robert Owen)
Falter, Wien, 44/1988 |
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Ungarisches
Lexikon
Falter, Wien, 22/1988
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Notizen über das Betreten
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Falter, Wien, 14/1988 |
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Gespräch mit dem Ökonomen Eduard März
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Kämpfe und Wendungen Der
ungarische Aufstand (zum 30. Jahrestag)
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Angesichts der gegenwärtigen
moralischen und politischen Defizite glauben nicht
wenige Christen, vor allem junge, das Christentum
sei einfach Moral und Politik ein Spezialfall
der Moral. Die mystische Dimension wird vernachlässigt
oder gar diskreditiert. Auf diese Weise verwandelt
sich aber Christentum in eine moralische Leistungsgesellschaft.
Kein Wunder, daß manche Leute aus solchen christlichen
Milieus vor Jahren weitergewandert sind in der
Einbahnstraße des Radikalismus.
Im Gespräch mit Bischof Egon Kapellari.
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Schönes, altes Haus
Gespräch mit Bischof
Egon Kapellari (mit Ch. Ankowitsch)
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Im Gespräch mit Erhard Eppler
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die strukturelle Verflechtung der Lebensdaten
von Karl Marx (5. Mai 1818 - 14. März 1883) mit
dem 20. Jahrhundert, wenn auch deren Deutlichkeit
offenbar langsam verblaßt: 1918 (100. Geburtstag),
1933 (50. Todestag), 1938 (120. Geburtstag), 1968
(150. Geburtstag), 1983 (100. Todestag).
Verbindungen zwischen Tat und Sache.
Essay. Stadtbuch Wien 1983 |
Verbindungen
zwischen Tat und Sache
in: Stadtbuch Wien 1983
Falter Verlag, Wien 1983 |
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Twilight of Socialism
Drei Biografien zu
Österreichs Zeitgeschichte
Falter, Wien, Nr. 20/1983
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