Burghart Schmidt
Vom Zahlenumweg zu den Eigenschaften?
Über ein Buch Christian Reders: Wörter und Zahlen.
Das Alphabet als Code.
Oktober 2000
Textfassung des Vortrags zur Buchpräsentation 14.3.2000
an der Universität für angewandte Kunst Wien.
Zunächst einmal ein kleines Zurück im Fluß
der Angelegenheit. Ich stimme den eröffnenden Worten
des Rektors der Universität für angewandte Kunst
Wien Gerald Bast sehr zu, weil auch ich mir vorgenommen
habe, wann immer ich in der nächsten Zeit in Österreich
spreche, ein paar Sätze zur Lage zu sagen; am besten
dann, wenn es etwas mit dem übereinstimmt, worum es
schließlich gehen soll. Hier nun geht es tatsächlich
um Themen eines Experimentierens mit Genauigkeit. Und Genauigkeit
wird auch dauernd in Rechtfertigungen des offiziellen politischen
Österreich eingefordert, denen zufolge Vergleiche nur
angestellt werden dürfen, wenn ganz konkrete Ähnlichkeiten,
Verwandtschaften aufgezeigt werden können. Sonst solle
man mit politischen Vergleichen nicht kommen. Das sagen
selbst viele, die mit dem offiziellen politischen Österreich
keineswegs übereinstimmen, sich aber vorbereitend schon
mit ihm abgefunden haben. Auch sie betonen häufig,
daß es nicht hinreiche im politischen Vergleich, auf
Züge, Strukturen, Intentionen usw. hinzuweisen, die
mit verdammt schlechten Erfahrungen der Geschichte und der
Vergangenheit zu tun haben. Als ob nicht, wären die
Naziverhältnisse in ganzer Übereinstimmung da,
wie die bieder klugen Logiker verlangen, alles Warnen und
aller Widerstand zu spät käme. Sobald es jedoch
um die eigene Rechtfertigung geht, fällt das unheimlich
leicht, das Thema etwas fehlender Genauigkeit. Ursula Stenzel
versuchte in Straßburg Österreich zu vertreten
mit dem Ruf, es würde ja behandelt wie 1919 in St.
Germain. Solche Vergleiche stammen wohl aus dem nicht umgewälzten
Schulunterricht im Österreich der vergangenen Jahrzehnte,
wo der Geschichtsunterricht - wie ich immer gehört
habe - mit 1918 aufhörte. Peng. Damit kann man nur
noch 1919 gerade zeitgeschichtlich vergleichen. Da meine
ich, liegen die himmelweiten Unterschiede auf der Hand,
auch hinsichtlich der österreichischen Verteidigungsdiskussionen
im Offiziellen. Es handelt sich ja um keine Einmischung
der EU, sondern um eine Nichteinmischung, über die
man sich erregt. Gut, gleichviel.
Ich wollte damit das Thema Genauigkeit und Vergleiche ansteuern,
das nun inder Tat wesentlich das Buch von Christian Reder
durchzieht. Indem es Sprache und Mathematik zusammenbringen
möchte, bedient es sich eines Verfahrens, das oft erstaunliche,
mächtige Einsichten vermittelt, mit Rückgriffen
auf Etymologie - ohne Heideggersche Absichten dabei. Mit
Heideggerschen Absichten meine ich jene, nach denen die
investierte Herkunftsbedeutung einmal eine reiche Wahrheit
gewesen wäre und in der Folge alles andere nur Verarmung
geworden sei. Damit hat dieses Buch nichts zu tun. Die etymologischen
Erinnerungen sind aber trotzdem umwerfend. Zahl hat zu tun
- Wörter und Zahlen³ - mit dem sprachlichen
Erzählen, tale³ im Englischen, das sagen
uns wenigstens die offiziellen etymologischen Forschungsergebnisse;
beides, tale³ und Zahl³, gehen auf
Kerbung zurück. Deswegen hängt auch Tal³
damit zusammen. Erinnerungszeichen, Kerbungen einsetzen,
als Erinnerungshilfsmittel. Daher kommt also Zahl, das erinnernde
Erzählen hat sich aber ebenso solcher Strukturen bedient.
Auch im Deutschen steckt ja in Erzählung Zahl³,
nacheinander aufzählen³, es kommt also zu
einem Zusammenfall von Zahl und Erzählung. Die vorgegebene
Enge der Methode, die einem zunächst so spielerisch,
kindlich, naiv vorkommt, gewinnt rasch ihre Hintergründe.
Ich habe das richtig durchgelebt, in meiner Studienzeit,
die teilweise bei Max Bense in Stuttgart stattfand. Da kam
es immer mal wieder auf, daß wir von solchen Zahlenspielereien
fasziniert waren. Das ist ja dann ganz schön, das sieht
mathematisch aus. Und in diesem Sinn spricht auch dieses
Buch öfter davon, daß man sich durch Mathematik
Präzisions- und Genauigkeitsschein ausborgen könne,
und nachher ist es nur eine andere Beschreibung, die man
wieder durch andere ersetzen könnte. Bei solchen Mathematisierungen
von Sprachprozessen konnte jedoch an der Schule von Max
Bense und in anderen semiotischen Forschungen Erstaunliches
herausgebracht werden, etwa, daß es spezifische Zuordnungen
von Mengen der fünfsilbigen, dreisilbigen, viersilbigen,
zweisilbigen, einsilbigen Wörter in Texten einzelner
Autoren gibt, die je nach Alter der Autoren wechseln können,
also im Verlauf von Erfahrungsprozessen, aber für bestimmte
Phasen ganz spezifisch sind. Aus der Anzahl fünfsilbiger
Wörter, zweisilbiger, dreisilbiger Wörter konnten
Proportionsformeln aufgestellt werden, die es erlaubt haben,
Texte zu identifizieren, sie Autoren zuzuschreiben oder
den Schreibphasen von Autoren. Sicher erweist sich auch
in der lebendigen Sprache eine mathematisierbare Struktur,
wenn solche Abzählbarkeiten angewendet werden. Da hat
das Spielerische³ dann also einen Ernst gefunden,
der nachträglich zeigte, daß darin eben bestimmte
Notwendigkeiten waren, obwohl es zuerst in der Untersuchung
ein Zufallsspiel zu sein schien, wenn bloße Wortmengen
nach ihren Silbenzahlen verglichen werden. Aber wie gesagt,
der Prozeß hatte sich, um ins Zahlhafte zu kommen
beim Sprachlichen, an die Silbenzahl von Wörtern gehalten.
Der Ansatz Christian Reders erfolgt nun über die Zuordnung
von Ziffern zu Buchstaben in der Reihenfolge des Alphabets.
Von den Silben auf die Buchstaben zurückzugehen, das
ist sehr wohl auch schon viel früher passiert und das
Buch hat ein ganzes Kapitel darüber, ein Kapitel über
die Zusammenhänge von Kabbala und Alchemie. Darin wird
dargestellt, wie schon die kabbalistische Bewegung innerhalb
der jüdischen Religion auf Zahlenwerte der Buchstaben
ging und so einen Zusammenhang zu stiften suchte zwischen
den Möglichkeiten, das Mensch - Welt - Verhältnis
zu bestimmen, das ja auf der Schiene des Sprachlichen oder
auch des Mathematischen läuft, in einem
Ineinander. Das Manöver von Christian Reder, den 26
Buchstaben-Zeichen des lateinischen Alphabets die 10 Grundziffern
hinzuzufügen, entspricht also gleichsam einem kabbalistischen
Vorgehen und erlaubt, summiert von 36 Elementen zu sprechen,
die Ziffern eingeschlossen. Im hebräischen Alphabet
mit 22 Buchstaben plus 10 Ziffern gibt es, als Variante,
nur 32 solcher Elemente. Aber das liegt an der Art des Alphabets,
das zugrundegelegt wird. Jedenfalls läßt sich
so dieses Manöver durchführen. Wenn man dem tiefer
nachgeht, dann stecken dahinter natürlich schriftkritische
Ansätze in Sachen einer Buchreligion, bei der die kritische
Distanz durch die Einsicht entstand, daß, menschlich
notwendig, Abschriftfehler passieren. Das gilt noch bis
heute. Es soll mir keiner kommen und sagen, daß ein
Buch, auch wenn es nur 50 Seiten hat, ganz druckfehlerfrei
wäre. Irgendwo haut immer ein Fehler rein, darauf kann
man sich verlassen. Dessen war man sich bewußt innerhalb
der jüdischen Theologie und daraus entstand eben eine
textkritische Wendung, die über solche Manöver
eines Mathematisierens der Schrift - und darauf kommt es
ja an - sich bemühte, derartige Abschriftfehler wieder
rückgängig zu machen. Das war ein Ansatz, ein
Motiv. Es ging aber viel weiter. Es ging wirklich auf Intentionen
einer Welterklärung durch eine mathematisierte Schriftlichkeit.
Die Buchstaben wurden tatsächlich, im Sinn von Zahlwerten,
als Kräfte gedacht, die Zahlwerte selber als Kräfte
usw. Das wollte ich als den einen Hintergrund, den das Buch
auch selber kräftig aufgreift, darlegen und Sie auf
dieses Kapitel insbesondere verweisen. Wie das alles weiterwirkt,
das kann in den Texten verfolgt werden, auch wenn Reder
im Namen unserer Aufklärung manchmal eher vorsichtig
sagt, das sei eben Historie. Es läßt sich nämlich
heute durchaus sagen, daß das Symbolisieren der Kabbala
und das Symbolisieren der Alchemie so dick in den Voraussetzungen
unserer formalisierenden und mathematisierenden Naturwissenschaften
steckt, wie man es sich besser gar nicht denken kann. Doch
erneut diesen Ansatz zu nehmen, eigenständig, wie Reder
ihn jetzt frisch und frei macht, mit der Zuordnung von Ziffern
zu Buchstaben, das hat etwas von der distanzierenden Eingriffsweise
aus der Kabbala.
Bei einem weiteren Hintergrund, den das Buch sehr berührt,
merkt man, wie wenig trocken eine Mathematik ist, wenn sie
in Übersetzerspiele zu anderem einbezogen wird. Das
ist bekanntlich die mathematische Theorie von der Musik,
wenn also Musik nicht im Schopenhauerschen Sinn vor allem
aus dem Affekthaften her aufgefaßt wird, sondern aus
dem, was auch ein Romantiker wie Schelling vertrat, wenn
er sagte, Architektur sei gefrorene Musik³. Damit
meinte er die Maßverhältnisse in der Architektur
und er meinte damit Musik als tönende Mathematik aus
Maßverhältnissen. Töne werden so zu mathematischen
Identitäten und Differenzen, die man auch jederzeit
interpretativ herausziehen kann, während in der Schopenhauerschen
Theorie und über seine Willensphilosophie viel mehr
das Stimmungshafte, das den Willen Ansprechende und ähnliches
gemeint ist, etwas, was auseinanderklafft und in Wirklichkeit
doch an einer anderen Quelle sehr wohl zusammengekommen
sei. Vor dem Anbruch des 19. Jahrhunderts, kurz vor dem
18. Jahrhundert, im 17. Jahrhundert, mitten im Barock, gab
es den Versuch von Baruch de Spinoza, eine Psychologie more
geometrico³ zu entfalten. Der Titel dieses Unternehmens
im Buchniederschlag heißt Ethik³, darunter
kommt more geometrico demonstrata³ (nach den
Ordnungsregeln der Geometrie dargelegt); aber ein zentraler
Teil befaßt sich mit dem Verhältnis Ethik und
Affektlehre, also mit der Psychologie der Moral, könnte
man sagen. Und hier wird voll davon ausgegangen, daß
das Affekthafte, das Emotionale, eine Angelegenheit des
Berechnens, des Kalkulierens, also der mathematischen Maßverhältnisse
sein könnte. Das sind so die Hintergründe des
hier zu besprechenden Unternehmens, das daher ganz schöne
Traditionen aufweisen kann, auch wenn es nicht ausdrücklich
historisch gemeint ist, im Sinn eines Werkes, das historische
Bewegungen des Denkens und der menschlichen Kultur nachvollzieht.
Was mir aber nun vor allem entscheidend ist an diesem Buch,
läuft auf den Titel hinaus, den ich dieser Besprechung
gegeben habe: Vom Zahlenumweg zu den Eigenschaften? Heißt
nämlich Mathematisierung tatsächlich, eine Exaktheitstheorie
zu finden, die etwas an der Struktur beweisen kann, aber
eventuell an ihrem Gegenstandsbereich scheitern würde,
weil sie im Exaktifizieren des Vergleichens zugleich Inhalte
aussparen muß, mehr Inhalte aussparen muß, immer
mehr Inhalte aussparen muß? Christian Reder weist
hunderte von Wörtern aus, die gleiche Wertzahlen haben,
oder Zahlwerte, nach seiner Art der Berechnung, und die
uns trotzdem entweder auseinander zu liegen oder mindestens
zu differieren scheinen und nicht in eine exakte Gleichung
zu setzen sind, in eine exakte Gleichungsfunktion, außer
um den Preis, daß so und so viel Differierendes dabei
abhanden käme, ausgeblendet würde. Gerade das
aber empfand ich als das Faszinierende am Buch, weil es
durchgängig, von Seite zu Seite, ständig auch
mit den Rückbezügen auf die Differenzierung arbeitet.
Es belehrt uns genauso über exakte Zusammenlegbarkeiten
zwischen Gen und God (Code 26, wie Z, der letzte Buchstabe
des Alphabets), zwischen Mensch und Gott (Code 62) und über
ihre Differenzen, wie das auseinandergeht. Also weder das
eine noch das andere müssen Sie vermissen, Identifizierungslust
nicht, bis zum äußersten gehende Genauigkeit
nicht und nicht das präzise Verweisen auf Differenzen.
Dieses Buch, das so sehr auf die Mathematisierbarkeit auch
des Sprachlichen drängt, ist also ganz direkt in Zusammenhang
damit zu bringen, was mir wissenstheoretisch immer verbindlich
war: die Einleitung von Theodor W. Adorno zum Autoritären
Charakter³. Dieses Werk entstand als Produkt einer
Forschergemeinschaft, also nicht nur von Adorno allein,
aber die methodologische Einleitung hat er verfaßt
und darin setzte er sich noch einmal auseinander mit dem
Idealtypus bei Max Weber. In Hinblick auf sozialhistorische
Forschung hieß Idealtypus bei Max Weber, daß
man sich angesichts immer unzulänglicher, und doch
überfordernder Erfahrungen mit geschichtlichem Material
so etwas wie ein Überschlagsbild von einer geschichtlichen
Periode in einer Region verschaffen müsse, sonst habe
man keine Anweisung für das, wonach man eigentlich
suchen sollte und würde im Material ersticken, in der
Materialfülle. Und im Arbeiten mit diesem Idealtypus
käme es nun einmal darauf an, daß er wie eine
Hypothese zu behandeln sei - davon ist Max Weber voll überzeugt
- nämlich Falsifizieren, Falsifizieren, Falsifizieren
oder Variieren, Variieren, Variieren. Im Fall der Falsifikation
ist immer ein Ersatz für den Idealtypus zu finden.
Man muß einen anderen nehmen, der wiederum nur hypothetischen
Charakter hat, oder man muß die Variationen weiter
verfolgen, ganz nach dem Modell der Naturwissenschaften.
Es geht Max Weber darum, wie Adorno festhält, sich
schließlich entweder doch zu einem Idealtypus durchzuschlagen
oder einen Idealtypus so durchzuvariieren, bis er sich im
Einklang mit dem derzeitig verfügbaren historischen
Material verstehen läßt. Damit unterstellt ihm
Adorno wieder den Primat der Identität in der Logik.
Adorno hingegen fordert ebenfalls, daß man Idealtypen
bilden müsse, da man ohne sie nicht vorankäme
und sie als heuristisches Mittel brauche, also Hypothesenbildung
usw.; dies aber nicht darum, um irgendwann einmal einen
noch so kompliziert gewordenen Idealtypus zu bewähren,
sondern um daran erst den Begriff, das Verständnis
von all dem zu fassen, was nicht in ihn paßt, was
nicht mit ihm übereinstimmt, was nicht mit ihm in Einklang
zu bringen ist. Was gegen ihn revoltiert, was sich gegen
ihn sperrt, deutlicher hervortreten zu lassen, das sei der
Sinn solcher Bildungen von Idealtypen. Und wegen der Art
und Weise, wie Christian Reder sich pointiert auf die Forschungsfelder
von heute einläßt, einschließlich der Diskussion
von Dekonstruktion im Sinne Derridas, samt der Gegner, die
auf Derrida geschossen haben, brauchen Sie sich bei diesem
Buch keine Sorge zu machen, daß es Sie auf den Leim
eines Primats von Identität führt.
Das Spiel mit Differenzen stellt von selbst seine Fragen.
Zuerst meinte ich an einer Stelle, Reder hätte sich
verrechnet, und drei Seiten später wurde mir klar,
nein, ich hatte nicht aufgepaßt - auch Ihnen wird
das oft passieren. Gerade das macht den Spaß am Buch
aus, spielen Sie das durch. Bisweilen könnten sie dabei
an den Punkt geraten, an dem ich heute angetroffen wurde.
Ich hatte ein neunjähriges Mädchen gefragt, ob
es bis 2000 zählen könne, und daraufhin sagte
es nein. Aber du kannst doch bis 100 zählen? Sie zustimmend,
ja, ja, aber ich bin ganz sicher, daß ich nicht bis
2000 zählen kann, weil das zu lange dauert. Abwehr:
Das dauert zu lange. In diesem Sinn wird auch im Buch manche
Falle gestellt. Es provoziert zu Überlegungsgängen,
die sich manchmal gegen eine Überprüfung sperren,
bloß weil sie lange dauern würden. Trotzdem hätten
Sie selbst dann nicht das Unbehagen des notorischen Abzählens
bis 2000, sondern würden sich den Überraschungen
aussetzen, die das ständige Umschlagen des Übersetzens
zwischen Schrift und Mathematik, zwischen Mathematik und
Schrift bietet. Es kommt noch eine weitere Art des Übersetzens
hinzu, die Sie bei der Lektüre nie vergessen dürfen,
das Übersetzen durch den Unterschied hindurch - und
das Buch macht sehr darauf aufmerksam - zwischen lebendigem
Sprechen und der Schrift. Als Parallellektüre ist daher
sowohl Walter Benjamin zu empfehlen, der zum ersten Mal
auf diese Differenz einen ganz wesentlichen Akzent legte,
allerdings dann später auch Derrida. Das reicht, muß
aber nicht sein. Das Nötige zum Verständnis liefert
Ihnen auch Reder, vor allem dahingehend, daß man bei
der Beschäftigung mit Sprache immer scharf aufpassen
muß, um die Unterschiede zwischen lebendiger Rede
und der Schrift im Auge zu behalten. Und dann ist da noch
die Schwierigkeit mit der Traditionsgeschichte. Reder entscheidet
sie sehr belegt dahingehend, daß als Kommunikationssystem
offensichtlich das System des Mathematischen, des Rechnens,
der Zahlen einem Schriftsystem vorangegangen ist, wohl nicht
aber einem Sprachsystem. Solche Fragen verlaufen sich im
Dunkel unseres Quellenmangels. Zur lebendigen Rede fehlen
uns ja alle Tonbänder. Also wann und wo und wie, das
ist ganz schwer zu ermitteln, nur durch Rückschlüsse
aus der Ethnologie etwa. Insofern stehen Sie hier vor einem
Thema, das Sie nie in die Langeweile der Strafe jagt, mal
bis 2000 zählen zu müssen, wo es einem doch schon
unangenehm ist, einer Gymnastikanleitung zu folgen, die
einem vorschreibt, bis 15 zu zählen. Also lassen Sie
sich bei ersten Ansätzen nicht kopfscheu machen und
spielen Sie munter mit in einem Buch, das allerdings manchmal
Vorbehalte zum Thema Spiel durchleuchten läßt.
Christian Reder betont, daß es ihm eher um Konzentrationsübungen,
um Genauigkeit, um Erforschung von Regelungssystemen und
Bedeutungsstrukturen gegangen ist. In seiner Distanz zum
Spiel stecken jedoch Umkehrungen, Gegenfragen. Gewöhnlich
distanziert man sich eventuell im theoretischen Bereich
vom Unernst des Spiels, hier viel mehr von seinem Ernst,
nämlich der Regelgebundenheit. Das Buch plädiert
für Spiele, die sich selbst die Regel geben. Ein erwachsener
Spielbegriff hingegen ist davon bestimmt, daß es um
durchgeregelte Spiele geht. Der Fußballspieler muß
sich im Prinzip an die Regel halten, auch ein Schachspieler,
obwohl es gerade bei ihm auf der einen Seite stark um den
Sinn für die Exaktheit des Mathematischen geht, auf
der anderen um Sprachlichkeit. Edgar Allan Poe hat in The
Murders in the Rue Morgue³ Spieltypen charakterisiert
und diese Stelle der Weltliteratur ist für mich immer
noch hinreißend. Sie unterscheidet zwischen dem Typ
des Schachspiels und dem Typ des Pokers. Da gibt es nämlich
einen wesentlichen Unterschied. Im Schachspiel wird offensichtlich
die Regel eingehalten, durchgehalten, durchgehalten, und
man lauert auf die Unaufmerksamkeit des Gegners. Oder man
hat eine Strategie, diesen zu provozieren und ihm keine
Wahl zu lassen. Beim Pokerspiel hingegen soll die Spielregel
gar nicht in entscheidende Funktion kommen; denn sonst hätte
man es nicht mit richtigen Pokerspielern zu tun. Eigentlich
soll ein Pokerspieler so spielen, daß die anderen
nicht mehr sehen wollen, was in den Karten ist, weil das
für sie zu riskant wird, zu überprüfen, ob
regelrecht gespielt wurde. Es geht darum, die anderen hinauszuspielen,
durch ständiges Bluffen. Wenn das gelingt, vermeidet
der Spieler ein Aufdecken der Karten und damit kommen die
Regeln des Spiels gar nicht mehr zum Zug. Das ist also die
Regel des Nichtzulassens der Regel. Sie eröffnet zentrale
Chancen. Poe geht davon aus, daß das Spiel nicht über
die Spielregel läuft, sondern über die Psychologie
der Partner, über den Ausdruck ihrer psychischen Gestimmtheit.
Auch bei den Innerhalb-der-Regel-Spielen sind Sie damit
schon einen Schritt weiter, bei einem relativ freien Spiel,
das sich mindestens selbst befreien will, und in vielen
Kinderspielen ist das ja auch vorgeprägt, weil die
Kinder eigene Regeln entwickeln wollen oder es nach einer
Weile zu Regeländerungen kommt. Obwohl vom Spiel kaum
die Rede ist, durchziehen solche Überlegungen das ganze
Buch. Es werden immer neue Spiele angesetzt, in neuen Spielfeldern.
Deswegen meine ich schon, daß das Buch voll von Spielgeist
ist, auch wenn man mit diesem Begriff vorsichtig umgehen
muß.
Mit eigenen Überlegungen bin ich zu der Diskussion
im Buch hineingeschneit, wo es um das Verhältnis von
Paradoxem und Dialektik geht. Mit Paradoxem ist gemeint
derartiges, daß plötzlich Gen und God in einen
Zusammenhang kommen. Trotz des Anscheins völliger Zufälligkeit
dabei ergeben solche Zusammentreffen interpretative Impulse;
so fern, wie es scheint, liegen die bezeichneten Dinge³
nicht auseinander. Dialektik jedoch meint einen Zusammenstoß,
der in Lösungen führt, wenn auch nur in vorübergehende.
Das Paradoxe ist einfach die Konfrontation. Und dazu habe
ich in emanzipatorischem Sinn einmal gemeint, daß
ich der Dialektik den Primat vor der Paradoxie gebe und
die Paradoxie nur als genießbar empfinde, wenn sie
dialektische Möglichkeiten übrig läßt
und nicht das letzte Wort behielte. In diesem Sinn ist natürlich
auch dieses umfangreiche Buch von Christian Reder nicht
das letzte Wort dazu und es liefert auch mit der letzten
Seite nicht die letzte Zahl. Denn jede Modellbildung sich
selbst regelnder Spiele im Spielen hält die Frage nach
dem Weltbild offen oder die nach einer prinzipiellen Welterklärung.
Ironische Metaphysik! Damit schließt das Buch.
P. S. I: Mit meinen Bezügen zum Spiel wollte ich auch
ausdrücken, daß dieses Buch nicht die Zuverlässigkeit
und Präzision des Mathematischen will, sondern - im
Sinn des angeführten Adorno-Modells - das Bewußtsein
aufreißen möchte für alles, das in diese
Exaktifizierungen nicht paßt. Am Riesenproblem der
Null zeigt sich das auch im Mathematischen. Man stritt ja
darüber, ob das neue Jahrtausend zum letzten Sylvester
angefangen hätte, oder es erst nächsten Sylvester
so weit sein wird. Der Katholizismus hat das ganz schlau
gemacht, indem er das ganze jetzige Jahr mit der Null zum
Heiligen Jahr erklärt.
P. S. II: Wenn es auch sicher so ist, daß es gegenüber
der sogenannten menschunabhängigen Welt so etwas gibt
wie die Zahl als ein Machwerk des Menschen, so scheint doch
im Menschen eine stärkere Verankerung dessen vorhanden
zu sein, als daß man das Zahlwerk als reines Machwerk
abtun könnte. Beim Reflektieren darüber bin ich
im Zug der Lektüre auch auf ganz anderes, auf Themen
wie Mnemotechnik und Assoziationstechnik gestoßen.
Da habe ich es plötzlich ernst genommen, ob es nicht
so einen Assoziationszwang in uns gibt, gemäß
den Zahlenverhältnissen. Wenn erkannt wird, daß
Gen und God nach den Buchstabenziffern den selben Zahlenwert
haben, kann das auch dazu führen, daß man einer
solchen Suche verfällt. Das müßte genauer
verfolgt werden. Es könnte heißen, daß
Mnemotechniken und Assoziationstechniken unseres Gehirns
dafür die Auslöser-Strukturen bereitstellen.