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Wörter und Zahlen
Das Alphabet als Code

Springer Wien New York 2000
Sonderausgabe: springer / komet 2001

Grafisches Konzept: Ecke Bonk
Grafik: Richard Ferkl, Asia Sumyk
Essayistische Studie zur Schriftkultur, zu Codes, zu Präzision, zu Wahrnehmung, zu einem 'berechnenden' Denken.

 

Buchpräsentation

 

 

Präsentation des Buches "Wörter und Zahlen. Das Alphabet als Code"

Statements von Gerald Bast, Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien; Christian Reder; Burghart Schmidt, Philosoph; Manfred Fassler, Medienwissenschaftler

Universität für angewandte Kunst, Wien, 14. März 2000

 


Mit Brigitte Kowanz, Manfred Fassler, Rektor Gerald Bast, Burghart Schmidt

 

Burghart Schmidt
Vom Zahlenumweg zu den Eigenschaften?

Über ein Buch Christian Reders: Wörter und Zahlen. Das Alphabet als Code.

Oktober 2000
Textfassung des Vortrags zur Buchpräsentation 14.3.2000 an der Universität für angewandte Kunst Wien.


Zunächst einmal ein kleines Zurück im Fluß der Angelegenheit. Ich stimme den eröffnenden Worten des Rektors der Universität für angewandte Kunst Wien Gerald Bast sehr zu, weil auch ich mir vorgenommen habe, wann immer ich in der nächsten Zeit in Österreich spreche, ein paar Sätze zur Lage zu sagen; am besten dann, wenn es etwas mit dem übereinstimmt, worum es schließlich gehen soll. Hier nun geht es tatsächlich um Themen eines Experimentierens mit Genauigkeit. Und Genauigkeit wird auch dauernd in Rechtfertigungen des offiziellen politischen Österreich eingefordert, denen zufolge Vergleiche nur angestellt werden dürfen, wenn ganz konkrete Ähnlichkeiten, Verwandtschaften aufgezeigt werden können. Sonst solle man mit politischen Vergleichen nicht kommen. Das sagen selbst viele, die mit dem offiziellen politischen Österreich keineswegs übereinstimmen, sich aber vorbereitend schon mit ihm abgefunden haben. Auch sie betonen häufig, daß es nicht hinreiche im politischen Vergleich, auf Züge, Strukturen, Intentionen usw. hinzuweisen, die mit verdammt schlechten Erfahrungen der Geschichte und der Vergangenheit zu tun haben. Als ob nicht, wären die Naziverhältnisse in ganzer Übereinstimmung da, wie die bieder klugen Logiker verlangen, alles Warnen und aller Widerstand zu spät käme. Sobald es jedoch um die eigene Rechtfertigung geht, fällt das unheimlich leicht, das Thema etwas fehlender Genauigkeit. Ursula Stenzel versuchte in Straßburg Österreich zu vertreten mit dem Ruf, es würde ja behandelt wie 1919 in St. Germain. Solche Vergleiche stammen wohl aus dem nicht umgewälzten Schulunterricht im Österreich der vergangenen Jahrzehnte, wo der Geschichtsunterricht - wie ich immer gehört habe - mit 1918 aufhörte. Peng. Damit kann man nur noch 1919 gerade zeitgeschichtlich vergleichen. Da meine ich, liegen die himmelweiten Unterschiede auf der Hand, auch hinsichtlich der österreichischen Verteidigungsdiskussionen im Offiziellen. Es handelt sich ja um keine Einmischung der EU, sondern um eine Nichteinmischung, über die man sich erregt. Gut, gleichviel.

Ich wollte damit das Thema Genauigkeit und Vergleiche ansteuern, das nun inder Tat wesentlich das Buch von Christian Reder durchzieht. Indem es Sprache und Mathematik zusammenbringen möchte, bedient es sich eines Verfahrens, das oft erstaunliche, mächtige Einsichten vermittelt, mit Rückgriffen auf Etymologie - ohne Heideggersche Absichten dabei. Mit Heideggerschen Absichten meine ich jene, nach denen die investierte Herkunftsbedeutung einmal eine reiche Wahrheit gewesen wäre und in der Folge alles andere nur Verarmung geworden sei. Damit hat dieses Buch nichts zu tun. Die etymologischen Erinnerungen sind aber trotzdem umwerfend. Zahl hat zu tun - “Wörter und Zahlen³ - mit dem sprachlichen Erzählen, “tale³ im Englischen, das sagen uns wenigstens die offiziellen etymologischen Forschungsergebnisse; beides, “tale³ und “Zahl³, gehen auf Kerbung zurück. Deswegen hängt auch “Tal³ damit zusammen. Erinnerungszeichen, Kerbungen einsetzen, als Erinnerungshilfsmittel. Daher kommt also Zahl, das erinnernde Erzählen hat sich aber ebenso solcher Strukturen bedient. Auch im Deutschen steckt ja in Erzählung “Zahl³, nacheinander “aufzählen³, es kommt also zu einem Zusammenfall von Zahl und Erzählung. Die vorgegebene Enge der Methode, die einem zunächst so spielerisch, kindlich, naiv vorkommt, gewinnt rasch ihre Hintergründe.

Ich habe das richtig durchgelebt, in meiner Studienzeit, die teilweise bei Max Bense in Stuttgart stattfand. Da kam es immer mal wieder auf, daß wir von solchen Zahlenspielereien fasziniert waren. Das ist ja dann ganz schön, das sieht mathematisch aus. Und in diesem Sinn spricht auch dieses Buch öfter davon, daß man sich durch Mathematik Präzisions- und Genauigkeitsschein ausborgen könne, und nachher ist es nur eine andere Beschreibung, die man wieder durch andere ersetzen könnte. Bei solchen Mathematisierungen von Sprachprozessen konnte jedoch an der Schule von Max Bense und in anderen semiotischen Forschungen Erstaunliches herausgebracht werden, etwa, daß es spezifische Zuordnungen von Mengen der fünfsilbigen, dreisilbigen, viersilbigen, zweisilbigen, einsilbigen Wörter in Texten einzelner Autoren gibt, die je nach Alter der Autoren wechseln können, also im Verlauf von Erfahrungsprozessen, aber für bestimmte Phasen ganz spezifisch sind. Aus der Anzahl fünfsilbiger Wörter, zweisilbiger, dreisilbiger Wörter konnten Proportionsformeln aufgestellt werden, die es erlaubt haben, Texte zu identifizieren, sie Autoren zuzuschreiben oder den Schreibphasen von Autoren. Sicher erweist sich auch in der lebendigen Sprache eine mathematisierbare Struktur, wenn solche Abzählbarkeiten angewendet werden. Da hat das “Spielerische³ dann also einen Ernst gefunden, der nachträglich zeigte, daß darin eben bestimmte Notwendigkeiten waren, obwohl es zuerst in der Untersuchung ein Zufallsspiel zu sein schien, wenn bloße Wortmengen nach ihren Silbenzahlen verglichen werden. Aber wie gesagt, der Prozeß hatte sich, um ins Zahlhafte zu kommen beim Sprachlichen, an die Silbenzahl von Wörtern gehalten.

Der Ansatz Christian Reders erfolgt nun über die Zuordnung von Ziffern zu Buchstaben in der Reihenfolge des Alphabets. Von den Silben auf die Buchstaben zurückzugehen, das ist sehr wohl auch schon viel früher passiert und das Buch hat ein ganzes Kapitel darüber, ein Kapitel über die Zusammenhänge von Kabbala und Alchemie. Darin wird dargestellt, wie schon die kabbalistische Bewegung innerhalb der jüdischen Religion auf Zahlenwerte der Buchstaben ging und so einen Zusammenhang zu stiften suchte zwischen den Möglichkeiten, das Mensch - Welt - Verhältnis zu bestimmen, das ja auf der Schiene des Sprachlichen oder auch des Mathematischen läuft, in einem
Ineinander. Das Manöver von Christian Reder, den 26 Buchstaben-Zeichen des lateinischen Alphabets die 10 Grundziffern hinzuzufügen, entspricht also gleichsam einem kabbalistischen Vorgehen und erlaubt, summiert von 36 Elementen zu sprechen, die Ziffern eingeschlossen. Im hebräischen Alphabet mit 22 Buchstaben plus 10 Ziffern gibt es, als Variante, nur 32 solcher Elemente. Aber das liegt an der Art des Alphabets, das zugrundegelegt wird. Jedenfalls läßt sich so dieses Manöver durchführen. Wenn man dem tiefer nachgeht, dann stecken dahinter natürlich schriftkritische Ansätze in Sachen einer Buchreligion, bei der die kritische Distanz durch die Einsicht entstand, daß, menschlich notwendig, Abschriftfehler passieren. Das gilt noch bis heute. Es soll mir keiner kommen und sagen, daß ein Buch, auch wenn es nur 50 Seiten hat, ganz druckfehlerfrei wäre. Irgendwo haut immer ein Fehler rein, darauf kann man sich verlassen. Dessen war man sich bewußt innerhalb der jüdischen Theologie und daraus entstand eben eine textkritische Wendung, die über solche Manöver eines Mathematisierens der Schrift - und darauf kommt es ja an - sich bemühte, derartige Abschriftfehler wieder rückgängig zu machen. Das war ein Ansatz, ein Motiv. Es ging aber viel weiter. Es ging wirklich auf Intentionen einer Welterklärung durch eine mathematisierte Schriftlichkeit. Die Buchstaben wurden tatsächlich, im Sinn von Zahlwerten, als Kräfte gedacht, die Zahlwerte selber als Kräfte usw. Das wollte ich als den einen Hintergrund, den das Buch auch selber kräftig aufgreift, darlegen und Sie auf dieses Kapitel insbesondere verweisen. Wie das alles weiterwirkt, das kann in den Texten verfolgt werden, auch wenn Reder im Namen unserer Aufklärung manchmal eher vorsichtig sagt, das sei eben Historie. Es läßt sich nämlich heute durchaus sagen, daß das Symbolisieren der Kabbala und das Symbolisieren der Alchemie so dick in den Voraussetzungen unserer formalisierenden und mathematisierenden Naturwissenschaften steckt, wie man es sich besser gar nicht denken kann. Doch erneut diesen Ansatz zu nehmen, eigenständig, wie Reder ihn jetzt frisch und frei macht, mit der Zuordnung von Ziffern zu Buchstaben, das hat etwas von der distanzierenden Eingriffsweise aus der Kabbala.


Bei einem weiteren Hintergrund, den das Buch sehr berührt, merkt man, wie wenig trocken eine Mathematik ist, wenn sie in Übersetzerspiele zu anderem einbezogen wird. Das ist bekanntlich die mathematische Theorie von der Musik, wenn also Musik nicht im Schopenhauerschen Sinn vor allem aus dem Affekthaften her aufgefaßt wird, sondern aus dem, was auch ein Romantiker wie Schelling vertrat, wenn er sagte, Architektur sei “gefrorene Musik³. Damit meinte er die Maßverhältnisse in der Architektur und er meinte damit Musik als tönende Mathematik aus Maßverhältnissen. Töne werden so zu mathematischen Identitäten und Differenzen, die man auch jederzeit interpretativ herausziehen kann, während in der Schopenhauerschen Theorie und über seine Willensphilosophie viel mehr das Stimmungshafte, das den Willen Ansprechende und ähnliches gemeint ist, etwas, was auseinanderklafft und in Wirklichkeit doch an einer anderen Quelle sehr wohl zusammengekommen sei. Vor dem Anbruch des 19. Jahrhunderts, kurz vor dem 18. Jahrhundert, im 17. Jahrhundert, mitten im Barock, gab es den Versuch von Baruch de Spinoza, eine Psychologie “more geometrico³ zu entfalten. Der Titel dieses Unternehmens im Buchniederschlag heißt “Ethik³, darunter kommt “more geometrico demonstrata³ (nach den Ordnungsregeln der Geometrie dargelegt); aber ein zentraler Teil befaßt sich mit dem Verhältnis Ethik und Affektlehre, also mit der Psychologie der Moral, könnte man sagen. Und hier wird voll davon ausgegangen, daß das Affekthafte, das Emotionale, eine Angelegenheit des Berechnens, des Kalkulierens, also der mathematischen Maßverhältnisse sein könnte. Das sind so die Hintergründe des hier zu besprechenden Unternehmens, das daher ganz schöne Traditionen aufweisen kann, auch wenn es nicht ausdrücklich historisch gemeint ist, im Sinn eines Werkes, das historische Bewegungen des Denkens und der menschlichen Kultur nachvollzieht.

Was mir aber nun vor allem entscheidend ist an diesem Buch, läuft auf den Titel hinaus, den ich dieser Besprechung gegeben habe: Vom Zahlenumweg zu den Eigenschaften? Heißt nämlich Mathematisierung tatsächlich, eine Exaktheitstheorie zu finden, die etwas an der Struktur beweisen kann, aber eventuell an ihrem Gegenstandsbereich scheitern würde, weil sie im Exaktifizieren des Vergleichens zugleich Inhalte aussparen muß, mehr Inhalte aussparen muß, immer mehr Inhalte aussparen muß? Christian Reder weist hunderte von Wörtern aus, die gleiche Wertzahlen haben, oder Zahlwerte, nach seiner Art der Berechnung, und die uns trotzdem entweder auseinander zu liegen oder mindestens zu differieren scheinen und nicht in eine exakte Gleichung zu setzen sind, in eine exakte Gleichungsfunktion, außer um den Preis, daß so und so viel Differierendes dabei abhanden käme, ausgeblendet würde. Gerade das aber empfand ich als das Faszinierende am Buch, weil es durchgängig, von Seite zu Seite, ständig auch mit den Rückbezügen auf die Differenzierung arbeitet. Es belehrt uns genauso über exakte Zusammenlegbarkeiten zwischen Gen und God (Code 26, wie Z, der letzte Buchstabe des Alphabets), zwischen Mensch und Gott (Code 62) und über ihre Differenzen, wie das auseinandergeht. Also weder das eine noch das andere müssen Sie vermissen, Identifizierungslust nicht, bis zum äußersten gehende Genauigkeit nicht und nicht das präzise Verweisen auf Differenzen. Dieses Buch, das so sehr auf die Mathematisierbarkeit auch des Sprachlichen drängt, ist also ganz direkt in Zusammenhang damit zu bringen, was mir wissenstheoretisch immer verbindlich war: die Einleitung von Theodor W. Adorno zum “Autoritären Charakter³. Dieses Werk entstand als Produkt einer Forschergemeinschaft, also nicht nur von Adorno allein, aber die methodologische Einleitung hat er verfaßt und darin setzte er sich noch einmal auseinander mit dem Idealtypus bei Max Weber. In Hinblick auf sozialhistorische Forschung hieß Idealtypus bei Max Weber, daß man sich angesichts immer unzulänglicher, und doch überfordernder Erfahrungen mit geschichtlichem Material so etwas wie ein Überschlagsbild von einer geschichtlichen Periode in einer Region verschaffen müsse, sonst habe man keine Anweisung für das, wonach man eigentlich suchen sollte und würde im Material ersticken, in der Materialfülle. Und im Arbeiten mit diesem Idealtypus käme es nun einmal darauf an, daß er wie eine Hypothese zu behandeln sei - davon ist Max Weber voll überzeugt - nämlich Falsifizieren, Falsifizieren, Falsifizieren oder Variieren, Variieren, Variieren. Im Fall der Falsifikation ist immer ein Ersatz für den Idealtypus zu finden. Man muß einen anderen nehmen, der wiederum nur hypothetischen Charakter hat, oder man muß die Variationen weiter verfolgen, ganz nach dem Modell der Naturwissenschaften. Es geht Max Weber darum, wie Adorno festhält, sich schließlich entweder doch zu einem Idealtypus durchzuschlagen oder einen Idealtypus so durchzuvariieren, bis er sich im Einklang mit dem derzeitig verfügbaren historischen Material verstehen läßt. Damit unterstellt ihm Adorno wieder den Primat der Identität in der Logik. Adorno hingegen fordert ebenfalls, daß man Idealtypen bilden müsse, da man ohne sie nicht vorankäme und sie als heuristisches Mittel brauche, also Hypothesenbildung usw.; dies aber nicht darum, um irgendwann einmal einen noch so kompliziert gewordenen Idealtypus zu bewähren, sondern um daran erst den Begriff, das Verständnis von all dem zu fassen, was nicht in ihn paßt, was nicht mit ihm übereinstimmt, was nicht mit ihm in Einklang zu bringen ist. Was gegen ihn revoltiert, was sich gegen ihn sperrt, deutlicher hervortreten zu lassen, das sei der Sinn solcher Bildungen von Idealtypen. Und wegen der Art und Weise, wie Christian Reder sich pointiert auf die Forschungsfelder von heute einläßt, einschließlich der Diskussion von Dekonstruktion im Sinne Derridas, samt der Gegner, die auf Derrida geschossen haben, brauchen Sie sich bei diesem Buch keine Sorge zu machen, daß es Sie auf den Leim eines Primats von Identität führt.

Das Spiel mit Differenzen stellt von selbst seine Fragen. Zuerst meinte ich an einer Stelle, Reder hätte sich verrechnet, und drei Seiten später wurde mir klar, nein, ich hatte nicht aufgepaßt - auch Ihnen wird das oft passieren. Gerade das macht den Spaß am Buch aus, spielen Sie das durch. Bisweilen könnten sie dabei an den Punkt geraten, an dem ich heute angetroffen wurde. Ich hatte ein neunjähriges Mädchen gefragt, ob es bis 2000 zählen könne, und daraufhin sagte es nein. Aber du kannst doch bis 100 zählen? Sie zustimmend, ja, ja, aber ich bin ganz sicher, daß ich nicht bis 2000 zählen kann, weil das zu lange dauert. Abwehr: Das dauert zu lange. In diesem Sinn wird auch im Buch manche Falle gestellt. Es provoziert zu Überlegungsgängen, die sich manchmal gegen eine Überprüfung sperren, bloß weil sie lange dauern würden. Trotzdem hätten Sie selbst dann nicht das Unbehagen des notorischen Abzählens bis 2000, sondern würden sich den Überraschungen aussetzen, die das ständige Umschlagen des Übersetzens zwischen Schrift und Mathematik, zwischen Mathematik und Schrift bietet. Es kommt noch eine weitere Art des Übersetzens hinzu, die Sie bei der Lektüre nie vergessen dürfen, das Übersetzen durch den Unterschied hindurch - und das Buch macht sehr darauf aufmerksam - zwischen lebendigem Sprechen und der Schrift. Als Parallellektüre ist daher sowohl Walter Benjamin zu empfehlen, der zum ersten Mal auf diese Differenz einen ganz wesentlichen Akzent legte, allerdings dann später auch Derrida. Das reicht, muß aber nicht sein. Das Nötige zum Verständnis liefert Ihnen auch Reder, vor allem dahingehend, daß man bei der Beschäftigung mit Sprache immer scharf aufpassen muß, um die Unterschiede zwischen lebendiger Rede und der Schrift im Auge zu behalten. Und dann ist da noch die Schwierigkeit mit der Traditionsgeschichte. Reder entscheidet sie sehr belegt dahingehend, daß als Kommunikationssystem offensichtlich das System des Mathematischen, des Rechnens, der Zahlen einem Schriftsystem vorangegangen ist, wohl nicht aber einem Sprachsystem. Solche Fragen verlaufen sich im Dunkel unseres Quellenmangels. Zur lebendigen Rede fehlen uns ja alle Tonbänder. Also wann und wo und wie, das ist ganz schwer zu ermitteln, nur durch Rückschlüsse aus der Ethnologie etwa. Insofern stehen Sie hier vor einem Thema, das Sie nie in die Langeweile der Strafe jagt, mal bis 2000 zählen zu müssen, wo es einem doch schon unangenehm ist, einer Gymnastikanleitung zu folgen, die einem vorschreibt, bis 15 zu zählen. Also lassen Sie sich bei ersten Ansätzen nicht kopfscheu machen und spielen Sie munter mit in einem Buch, das allerdings manchmal Vorbehalte zum Thema Spiel durchleuchten läßt. Christian Reder betont, daß es ihm eher um Konzentrationsübungen, um Genauigkeit, um Erforschung von Regelungssystemen und Bedeutungsstrukturen gegangen ist. In seiner Distanz zum Spiel stecken jedoch Umkehrungen, Gegenfragen. Gewöhnlich distanziert man sich eventuell im theoretischen Bereich vom Unernst des Spiels, hier viel mehr von seinem Ernst, nämlich der Regelgebundenheit. Das Buch plädiert für Spiele, die sich selbst die Regel geben. Ein erwachsener Spielbegriff hingegen ist davon bestimmt, daß es um durchgeregelte Spiele geht. Der Fußballspieler muß sich im Prinzip an die Regel halten, auch ein Schachspieler, obwohl es gerade bei ihm auf der einen Seite stark um den Sinn für die Exaktheit des Mathematischen geht, auf der anderen um Sprachlichkeit. Edgar Allan Poe hat in “The Murders in the Rue Morgue³ Spieltypen charakterisiert und diese Stelle der Weltliteratur ist für mich immer noch hinreißend. Sie unterscheidet zwischen dem Typ des Schachspiels und dem Typ des Pokers. Da gibt es nämlich einen wesentlichen Unterschied. Im Schachspiel wird offensichtlich die Regel eingehalten, durchgehalten, durchgehalten, und man lauert auf die Unaufmerksamkeit des Gegners. Oder man hat eine Strategie, diesen zu provozieren und ihm keine Wahl zu lassen. Beim Pokerspiel hingegen soll die Spielregel gar nicht in entscheidende Funktion kommen; denn sonst hätte man es nicht mit richtigen Pokerspielern zu tun. Eigentlich soll ein Pokerspieler so spielen, daß die anderen nicht mehr sehen wollen, was in den Karten ist, weil das für sie zu riskant wird, zu überprüfen, ob regelrecht gespielt wurde. Es geht darum, die anderen hinauszuspielen, durch ständiges Bluffen. Wenn das gelingt, vermeidet der Spieler ein Aufdecken der Karten und damit kommen die Regeln des Spiels gar nicht mehr zum Zug. Das ist also die Regel des Nichtzulassens der Regel. Sie eröffnet zentrale Chancen. Poe geht davon aus, daß das Spiel nicht über die Spielregel läuft, sondern über die Psychologie der Partner, über den Ausdruck ihrer psychischen Gestimmtheit. Auch bei den Innerhalb-der-Regel-Spielen sind Sie damit schon einen Schritt weiter, bei einem relativ freien Spiel, das sich mindestens selbst befreien will, und in vielen Kinderspielen ist das ja auch vorgeprägt, weil die Kinder eigene Regeln entwickeln wollen oder es nach einer Weile zu Regeländerungen kommt. Obwohl vom Spiel kaum die Rede ist, durchziehen solche Überlegungen das ganze Buch. Es werden immer neue Spiele angesetzt, in neuen Spielfeldern. Deswegen meine ich schon, daß das Buch voll von Spielgeist ist, auch wenn man mit diesem Begriff vorsichtig umgehen muß.

Mit eigenen Überlegungen bin ich zu der Diskussion im Buch hineingeschneit, wo es um das Verhältnis von Paradoxem und Dialektik geht. Mit Paradoxem ist gemeint derartiges, daß plötzlich Gen und God in einen Zusammenhang kommen. Trotz des Anscheins völliger Zufälligkeit dabei ergeben solche Zusammentreffen interpretative Impulse; so fern, wie es scheint, liegen die bezeichneten “Dinge³ nicht auseinander. Dialektik jedoch meint einen Zusammenstoß, der in Lösungen führt, wenn auch nur in vorübergehende. Das Paradoxe ist einfach die Konfrontation. Und dazu habe ich in emanzipatorischem Sinn einmal gemeint, daß ich der Dialektik den Primat vor der Paradoxie gebe und die Paradoxie nur als genießbar empfinde, wenn sie dialektische Möglichkeiten übrig läßt und nicht das letzte Wort behielte. In diesem Sinn ist natürlich auch dieses umfangreiche Buch von Christian Reder nicht das letzte Wort dazu und es liefert auch mit der letzten Seite nicht die letzte Zahl. Denn jede Modellbildung sich selbst regelnder Spiele im Spielen hält die Frage nach dem Weltbild offen oder die nach einer prinzipiellen Welterklärung. Ironische Metaphysik! Damit schließt das Buch.

P. S. I: Mit meinen Bezügen zum Spiel wollte ich auch ausdrücken, daß dieses Buch nicht die Zuverlässigkeit und Präzision des Mathematischen will, sondern - im Sinn des angeführten Adorno-Modells - das Bewußtsein aufreißen möchte für alles, das in diese Exaktifizierungen nicht paßt. Am Riesenproblem der Null zeigt sich das auch im Mathematischen. Man stritt ja darüber, ob das neue Jahrtausend zum letzten Sylvester angefangen hätte, oder es erst nächsten Sylvester so weit sein wird. Der Katholizismus hat das ganz schlau gemacht, indem er das ganze jetzige Jahr mit der Null zum Heiligen Jahr erklärt.

P. S. II: Wenn es auch sicher so ist, daß es gegenüber der sogenannten menschunabhängigen Welt so etwas gibt wie die Zahl als ein Machwerk des Menschen, so scheint doch im Menschen eine stärkere Verankerung dessen vorhanden zu sein, als daß man das Zahlwerk als reines Machwerk abtun könnte. Beim Reflektieren darüber bin ich im Zug der Lektüre auch auf ganz anderes, auf Themen wie Mnemotechnik und Assoziationstechnik gestoßen. Da habe ich es plötzlich ernst genommen, ob es nicht so einen Assoziationszwang in uns gibt, gemäß den Zahlenverhältnissen. Wenn erkannt wird, daß Gen und God nach den Buchstabenziffern den selben Zahlenwert haben, kann das auch dazu führen, daß man einer solchen Suche verfällt. Das müßte genauer verfolgt werden. Es könnte heißen, daß Mnemotechniken und Assoziationstechniken unseres Gehirns dafür die Auslöser-Strukturen bereitstellen.

 

 
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© Burghart Schmidt 2000 & Christian Reder 2000/2002