Ethnografie: Zum Verständnis kultureller Parallelerscheinungen
könnte beitragen, sich ein Meinungsklima vorzustellen,
in dem kritische Geister reflexhaft als "linke Brüder",
als "Gesindel", als "Vaterlandsverräter"
abgestempelt werden, Böses in aller Regel von außen,
von Fremden kommt und nach Bedarf manche der unverletzbar
grinsenden Akteure plötzlich als "liberal"
und "moderat" gelten, im Vergleich sozusagen. Die
Suche nach Zonen, in denen ein solches Vokabular toleriert
wird, dürfte einen weit weg von eigenen Erfahrungen führen,
zum Beispiel nach Afghanistan, das seit Jahrzehnten unter
den Folgen einer Zuspitzung derartiger Denkmuster leidet.
Sie wirken auch nach Verschwinden des gemeinsamen Feindes
nach. Denn im Umfeld der herrschenden Parteien und diverser
Warlords ist es üblich geblieben, störende Kräfte
"als links, liberal, maoistisch und atheistisch"
zu denunzieren, obwohl anfangs eindeutig "linke und bürgerliche
Intellektuelle sowie die Stammesgesellschaften" treibende
Kraft des Widerstandes und der damit verbundenen Selbstfindungsansätze
gewesen sind (Michael Pohly, 1991, S. 208, 4). Für die
mit sowjetischer Hilfe herrschende Demokratische Volkspartei
Afghanistans war es schließlich nur noch um Machterhalt
durch Terror gegangen; darin Alternativen zu sehen, hat sich
auch international bald erübrigt. Unter den mit massiver
Unterstützung der Geheimdienstwelt zwischen Washington,
Islamabad und Riad hochgekommenen politischen Gruppierungen
wiederum galten immer jene als halbwegs "moderat",
deren Fundamentalismus gerade nützlich und halbwegs manipulierbar
erschien. Verdrängt ist, auf welchem normalen Weg sich
Afghanistan, Jahrhunderte lang ein vergleichsweise offenes,
tolerantes Land mit weitläufigen Handelsbeziehungen,
seit den 1960er Jahren befunden hat, mit unruhigen Studenten
und frechen Jeans-Mädchen in den Straßen Kabuls.
Die medial verbreitete Folklore grimmiger Turbanträger
mit Kalaschnikows verfestigt in den Köpfen andere Bilder.
Diskrete Direkthilfe
Wer ist vor gut zwanzig Jahren von Wien aus aktiv geworden,
um aus Anlaß der Afghanistankrise an einem Transfer
zum armen Süden und an solidarisch-demokratischen Zuständen
mitzuwirken oder sich sogar selbständige Arbeitsfelder
in der Fremde zu suchen? Es sind Ethnologen, Ärzte und
Ärztinnen, Angehörige des afghanischen Exils, Leute
aus dem Umfeld der Caritas, der Volkshilfe oder von Amnesty
gewesen, ohne die Hoffnung, allzuviel erreichen zu können
und ohne irgendwelche Absichten, "die Russen" bekämpfen
zu wollen. Gerade in als links, liberal, maoistisch oder atheistisch
verfolgten Kreisen, in zwischen diverse Fronten geratenen
Flüchtlingen also, haben sie oft am ehesten integre Kooperationspartner
gefunden. Ostentativ religiös oder afghanisch ist von
diesen kaum wer aufgetreten. Die kursierenden politischen
Standpunkte waren keineswegs konfuser als gewohnt, lehrreich
auch für Ankommende, deren eingelernte Zuordnungen dabei
waren, brüchig zu werden. "Rechte" Allianzen
sind trotz aller Tarnungen dennoch überall bemerkbar
geworden, durch klimatische Unterschiede, als Gegenkräfte.
Mit ihnen wollten gerade jene nicht unbedingt zu tun haben,
die ursprünglich mit den angestrengten Modernisierungsversuchen
sympathisierten, den Inhaftierungs- und Foltermethoden der
Einheitspartei aber entkommen waren. An demokratisch-emanzipatorischen
Strukturen, abgeleitet aus den traditionellen Ratsversammlungen,
gab es durchaus ein starkes Interesse. Viele der im Gesundheitswesen,
für Schulen, für Sozialprojekte so dringend gebrauchten
halbwegs Ausgebildeten signalisierten, daran mitwirken zu
wollen, trotz der trostlosen Gesamtlage. Aus ihren Reihen
stammte der lokale Kern des "Österreichischen Hilfskomitees
für Afghanistan" (ARC Austrian Relief Committee
for Afghan Regugees), das 1980 seine Arbeit in den riesigen
Flüchtlingslagern in Pakistan aufgenommen hat. Einige
Jahre später war daraus eine der großen unabhängigen
Hilfsaktionen für die notleidende afghanische Bevölkerung
geworden, mit phasenweise über 300 lokalen Mitarbeitern
und einem international aufgebrachten Gesamtbudget von rd.
450 Mio. Schilling, etwa 33 Mio. € (1980-1994). Die Mittel
stammten anfangs aus Österreich, als Spenden und staatliche
Mittel, im weiteren sind über drei Viertel der Budgets
von karitativen Institutionen aus Dänemark, Norwegen,
den Niederlanden, der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz,
aus Großbritannien, den USA oder von UN-Organisationen
abgedeckt worden.
Aus den Gesundheitsprojekten hat sich schließlich -
nach Übergabe der Programme im Jahr 1994 - die pakistanische
Organisation Frontier Primary Health Care (FPHC) entwickelt,
die für afghanische Flüchtlinge und die lokale pakistanische
Bevölkerung arbeitet. Ihre drei Training Center und sechs
Primary Health Care Center im Distrikt Mardan haben zur Zeit
über 100 Beschäftigte und fast 300 Trainees. Aus
unseren Direktinitiativen in Afghanistan wiederum ist das
neue ARC, das Afghan Relief Committeee entstanden, bewußt
mit den gleichen Initialen wie früher. Es unterhält
Büros in Peshawar; Kabul und Nangarhar, betreibt ein
kleines Spital in Peshawar, Basic Health Stationen in Jalalabad
und Kunar und wirkt an der Lebensmittelverteilung von UN-Organisationen,
an der Errichtung von Grundschulen, Kindergärten, Waisenhäusern
und an der Renovierung von Bewässerungssystemen mit.
Die Intentionen, anderswo nicht dazu passenden Flüchtlingen
Schutz und Arbeit unter wenigstens intern demokratisch orientierten
Bedingungen zu bieten, um mit gemeinsamem Engagement sozial
effektive Arbeit zu leisten, haben also durchaus Langzeitwirkungen
entfaltet. Nur in solchen Gruppen konnten versprengte Aktivisten
vor dem planmäßig aufgebauten islamistischen Druck
halbwegs geschützt werden. Zur Herausbildung politischer
Kräfte war das zu wenig. "Offiziell" wurde
bekanntlich auf Fundamentalisten gesetzt, die schließlich
zum neuen zentralen Problem werden sollten.
Vertreibungsmanöver
Am 30. Oktober 1991 ist Dr. Abdul Rahman Zamani, unser langjähriger
ärztlicher Leiter, mit seinem Bruder Mir Zamani und dem
Fahrer Sahib Rehman in einem der weissen, als ARC-Fahrzeug
gekennzeichneten Transporter des österreichischen Hilfskomitees
vom 60 Kilometer entfernten Mardan her nach Peshawar unterwegs
gewesen, als sie ein Toyota Land Cruiser mit getönten
Scheiben überholte, ein Wagentyp, "den afghanische
Flüchtlinge bevorzugen", wie die Regionalzeitung
"The Frontier Post" in ihrem Bericht darüber
betont hat. Die aus ihm heraus mit Kalaschnikows abgegeben
Feuerstöße verletzten die Insassen erheblich, sie
haben aber glücklicher Weise alle überlebt. Die
Hintergründe dieses Attentats wurden nie geklärt,
paßten aber zur Zunahme von Gewalttaten gegen mißliebige
Personen.
Unsere Programme in Pakistan und Afghanistan liefen damals
immerhin schon über zehn Jahre, Zehntausende Flüchtlinge
und insgesamt viele Hundert wechselnde lokale Mitarbeiter
profitierten davon. Die unmittelbaren Konflikte hatten sich
bis dahin in Grenzen gehalten, obwohl auf die akuten Notlagen
trotz ständig größer werdender Organisation
nie wirklich befriedigend reagiert werden konnte. Erst in
den 90er Jahren, im Chaos des Bürgerkriegs, der beginnenden
Talibanisierung, wurde die Fortführung zunehmend schwieriger.
Für unabhängige Initiativen machte das den Handlungsraum
immer enger. Unsere Mädchenschulen mußten geschlossen
werden. Die Beschäftigung von Frauen stieß auf
zunehmende Widerstände; ihr Anteil sank von anfangs 50
schließlich auf 20 und 10 Prozent. Inzwischen sind bei
der Nachfolgeorganisation in Pakistan wieder 40 Prozent erreicht.
Afghanische Mitarbeiter in Schlüsselstellungen fühlten
sich jedenfalls zunehmend bedroht, so wie Angehörige
der sogenannten kritischen Intelligenz generell, die in einem
Vierteljahrhundert Krieg, mit einer Million Toten und dem
bis dahin größten Flüchtlingsstrom seit dem
2. Weltkrieg, zu den vorrangig verfolgten Opfern gehörten.
Dr. Zamani ist wie alle anderen lokalen Mitarbeiter selbst
Flüchtling gewesen und hat dann mit seinen Teams in den
Lagern Pakistans ein weithin als vorbildlich angesehenes medizinisches
Betreuungssystem aufgebaut, mit Mutter-Kind-Programmen, niedriger
Säuglingssterblichkeit, Vorbeugungsmaßnahmen, extensiver
Schulung, Publikationen, Sanitärinitiativen. Wegen der
von den Schüssen zerfetzten Nervenstränge seiner
Schulter hätte er kaum mehr als Arzt arbeiten können;
im Wiener Lorenz Böhler Krankenhaus ist ihm diese Möglichkeit
durch Primarius Johannes Poigenfürst und Werner Vogt
gerettet worden. Heute lebt er, nach Einsätzen in Bangladesh,
als Arzt und Direktor der Nursing School der Universität
von Kalifornien in San Diego. Nassim Jawad wiederum, ursprünglich
afghanischer Student in Wien, ist für zehn Jahre in Pakistan
Leiter unserer Programme gewesen; durch seine Exponiertheit
gefährdet kehrte er schließlich nach Europa zurück
und hat dann für NOVIB (NL) und die Agha Khan Foundation
in Zentralasien Entwicklungsprojekte betreut. Derzeit ist
er Berater des Ministeriums für Wiederaufbau in Kabul.
Nur Mohammed Safa absolvierte die Hotelfachschule in Wien,
war Assistant Manager im Hilton-Hotel und dann ARC-Administrator
in Peshawar; heute ist er Diplomat am österreichischen
Generalkonsulat in New York. Seine Frau Fahima und ihre Schwester
Djamila haben zuerst als Flüchtlinge in unseren Lagerprojekten
gearbeitet; um ihnen Lebensaussichten zu bieten, holten wir
sie nach Wien. Fahima diplomierte an der medizinisch-technischen
Akademie und hat als Laborantin am Allgemeinen Krankenhaus
gearbeitet. Djamila studierte in den USA Informatik und wurde
Softwarespezialistin, zuerst bei der NASA, Abteilung Klimaveränderung,
jetzt im CSC-International Science and Computer Center. Ihr
schließlich nachgekommener Vater Ali Mohamed Zahma,
früher Professor für Literatur und afghanische Geschichte
in Kabul und Mitglied der Akademie der Wissenschaften, als
Regimekritiker inhaftiert und gefoltert, lebt weiterhin in
Wien und wir bereiten seine - zumindest partielle - Rückkehr
nach Kabul vor, wo er an der Wiedererrichtung von Universitätsinstituten
mitwirken möchte. Ghulam Hassan, ein anderer unserer
langjährig mitarbeitenden Freunde, der Intention nach
Dichter, betreibt in Australien eine Orangenfarm. Mit landläufigen
Bildern von Wirtschaftsflüchtlingen haben solche Lebenswege
nichts gemein, sie repräsentieren viel eher, welche Energien
freigesetzt werden, wenn halbwegs solidarische Umstände
etwas ermöglichen. Dass im Umfeld von Bundeskanzler Bruno
Kreisky, der sich selbst mehrfach persönlich berichten
ließ, Beamte, von Georg Lennkh bis Wolfgang Petritsch,
oder in Botschaften Paul Hartig, Hans Walser oder Eugen Ruff
tätig waren, auf deren informelle Hilfe in solchen Fällen
gezählt werden konnte, läßt spätere,
von fast allen "tragenden Kräften" forcierte
Xenophobietendenzen mit ihrem verächtlichen Gerede über
Asylanten und Gutmenschen um so widersinniger erscheinen.
Zur Konstruktion negativer Flüchtlingsbilder, mit Diskriminierungen
und Schikanen, ist es, wie einem bewußter sein sollte,
vor allem seit den 90er Jahren gekommen, als der frühere
Slogan "die Freiheit wählen" ziemlich rasch
seine Kraft verlor, trotz allem Bedarf an Zuwanderern.
Ausgangspunkt: Das Wiener Völkerkundemuseum
Schlüsselfigur unserer "unethnologischen"
Praxis ist der Ethnologe "Teddy" Janata (1933-1993)
gewesen, Kustos am Museum für Völkerkunde in Wien,
der sich seit den 50er Jahren intensiv mit Afghanistan befaßt
hatte. Für ihn war es naheliegend, angesichts der 1980
einsetzenden Flüchtlingskatastrophe eine Solidaritätsaktion
ins Leben zu rufen und in Wien lebende Afghanen sowie an solchen
Kooperationen Interessierte im "Österreichischen
Hilfskomitee für Afghanistan" zu versammeln. Wir
kannten uns aus Wiener Künstlerkreisen; gerade von Projektplanungen
aus Nicaragua zurück, habe ich ihn nach einem seiner
Radiointerviews angerufen und meine Mitarbeit angeboten. Es
ist ein Sprung aus damals noch revolutionär-optimistischen
Perspektiven Lateinamerikas in die Tristesse einer Dauerkrise
geworden. Wir dachten an eine Soforthilfe über einige
Monate hinweg, dass fünfzehn Jahre und mehr daraus werden
würden, hat sich niemand vorstellen können. Nassim
Jawad, die Ärztin Uta Pichl und ich recherchierten in
den Hunderten eilig errichteten Lagern entlang der Grenze.
Die zuständigen Behörden in Pakistan sind freundlich
auf Geldüberweisungen aus gewesen, mit dem üblichen
NGO-Drive (als Nicht-Regierungs-Organisation) wollten wir
aber selbst für einen überprüfbar zweckmäßigen
Einsatz in Aussicht stehender Mittel sorgen. Der "Kurier",
die "Kronen Zeitung", der ORF haben ausführlich
berichtet, bald war die erste Million auf dem Konto, die Bundesregierung
verdoppelte diesen Betrag und plötzlich schien einiges
möglich zu werden.
Bereits Wochen später, nach dem Nassim Jawad und ich
die Grundstrukturen, einschließlich Budgetierung, Berichtswesen,
Controlling konzipiert hatten, begann im Lager Gandaf ein
Basic Health Team zu arbeiten, bald darauf eines im Lager
Baghicha, schließlich noch zwei in den Lagern Kagan
und Khushi. Aus den dabei gewonnenen Erkenntnissen entwickelte
sich alles weitere. Nach der Aufbauphase sind vom österreichischen
Komitee in Pakistan neben dem Gesundheitsdienst mit vorrangigen
Frauen- und Mutter-Kindprogrammen noch Lagerschulen, Kinderspielplätze,
Nähprojekte, Lehrwerkstätten, Arbeitsvermittlungen
finanziert und organisiert worden. In Afghanistan selbst mußte
erst ein Netz von Vertrauensleuten aufgebaut werden, bevor
Schritt für Schritt Beiträge zum Wiederaufbau, Agrarvorhaben
oder ärztliche Stationen realisiert werden konnten. Über
die beratende Mitarbeit von Dr. Gebhard Breuss, Dr. Reinhard
Dörflinger, Mandana Kerschbaumer, Inger Boesen, Susanne
Burgstaller, Paula Smith oder Madeline Patterson wurde versucht,
für die Gesundheitsvorsorge, eine traditionsnahe Medizin
ohne Spritzen- und Pillenpropaganda oder für die Frauensituation
sensibilisierte Positionen zu bestärken. Hebammen und
Betreuerinnen sind entsprechend geschult, Schlüsselleute
zur Fortbildung nach Europa entsandt worden. Mit unserer Unterstützung
bildeten sich Lagerkomitees. Studenten von Günter Domenig
an der Technischen Universität Graz planten ein dem feucht-heissen,
für Afghanen ungewohnten Klima angepaßtes Ambulanzgebäude
aus Lehm, um der Tendenz zu Wellblech-Slums zu begegnen. Eine
Reihe weiterer Gebäude folgten. In Kooperation mit UNHCR
sind Tausende Latrinen errichtet worden. Für individuelle
Soforthilfe in prekären Fällen wurden Sonderbudgets
bereitgehalten, für Warenlieferungen diversester Organisationen
die Verteilung organisiert.
Von den Wiener Aktivisten haben viele insgesamt monatelang
nebenberuflich für das Komitee gearbeitet, alle ehrenamtlich;
nur für Beratungs- und Arbeitseinsätze in Pakistan
sind Reisespesen bzw. Grundbudgets übernommen worden.
Bei afghanischen Mitarbeitern war uns die Stammeszugehörigkeit,
gegen alles Gerede von ihrer Bedeutung, nie besonders wichtig,
es sei denn, Verwandtschaftsbeziehungen ließen sich
vertrauensbildend nutzten. Ethnologische Hintergrundberatung
sorgte für ein Grundverständnis, in ihrer rückwärtsgewandten
Tendenz konnte sie aber auch hinderlich sein. "Normal"
ist die Zusammenarbeit geworden, als Konflikte in so "universeller"
Art ausgetragen wurden, dass beidseitig keinem der Verdacht
gekommen ist, es könne irgendwelche rassistischen Motive
geben. Nur mit interkultureller Höflichkeit allein ließ
sich manches nicht bewältigen, noch dazu unter dem Druck,
stets zu wenig zu tun - und zu wenig links, zu wenig radikal,
zu wenig feministisch zu sein. Indem die Zuständigen
dann und wann auch schmerzliche Initiativen ergreifen mußten,
ließ sich Pragmatik üben - und Durchhaltevermögen.
Internationalisierung
Dass eine NGO dieser Art demokratieprägende, zivilgesellschaftliche
Funktionen habe, wie das inzwischen auf breiter Ebene beansprucht
wird, ist zwar durchaus die Absicht, aber nicht primärer
Punkt des Selbstbewußtseins gewesen. Es war zu präsent,
wie eruptiv, eifersüchtig und wichtigtuerisch die Verhaltens-
und Abstimmungsweisen in solchen Vereinen gelegentlich sein
können. Tatsächlich "regierungsunabhängig"
waren wir wegen unserer vielen Kooperationspartner. Auf jährlichen
Konferenzen in Wien sind die Planungen abgestimmt worden,
die Geldgeber kontrollierten oft auch direkt vor Ort. Die
von Beginn an bewiesene Transparenz mit umfangreichen Jahresberichten,
präzisen Abrechnungen, niedrigen Administrationskosten
dürfte für die anhaltend guten Kontakte grundlegend
gewesen sein; denn viele solcher Institutionen suchen überzeugende
Projekte. Diese interne Öffentlichkeit war wichtiger
als jede offensive Medienarbeit, die uns nur in die angeberisch-martialischen
Töne der üblichen Berichterstattung hineingezogen
hätte. Selbst Analytiker, denen die dubiosen Hintergründe
vieler Hilfsmaßnahmen nicht verborgen blieben, haben
bestimmte Programme als besonders sozial und effektiv hervorgehoben,
so vor allem internationale Rot-Kreuz-Organisationen und die
"des österreichischen, französischen und schwedischen
Hilfskomitees" (Pohly 1991, S. 388). Die positive Einschätzung
des damaligen UN-Hochkommissars für Flüchtlinge,
Roman C. Kohaut ("your teams have been operating most
successfully and their energetic egfforts have contributed
greatly in the improvement of the state of health of the refugees"),
hatte eine langjährige Kooperation mit UN-Stellen eingeleitet.
Das UNHCR Refugees Magazine brachte ausführliche Berichte
(z. B. Nr. 2/1983). In London wurde das ARC "as the most
suitable vehicle for any British funds" bezeichnet (ARIN-Afghan
Refugee Information Network, London, Nr.7/1982). Pogrom, die
Zeitschrift für bedrohte Völker, konstatierte schon
früh, es sei "dem Österreichischen Hilfskomitee
am besten gelungen, kontinuierlich und wirksam für die
afghanischen Flüchtlinge in Pakistan zu arbeiten"
(pogrom, Göttingen, Nr. 87/1982). Legitimiert waren wir
von niemandem außer von der Zustimmung unserer Partner
und den immer weniger werdenden Vereinsmitgliedern. Spürbar
blieb lange, daß wir in der politisch aufgeteilten österreichischen
Entwicklungshilfeszene als verdächtige Außenseiter
galten, nicht deutlich links, nicht deutlich katholisch; aber
wer ist so was schon "wirklich". Erst die internationale
Anerkennung - und Finanzierung - brachte eine Wende. Österreichische
Stellen zogen so lange mit, bis sie andere, damals risikolosere
Schwerpunktländer, in der Region vor allem Bhutan und
Nepal, festlegten. Schließlich gab es sogar Übergangsfinanzierungen
für unsere Nachfolger, weil sich Gerd Kellermann, Leiter
von adc, Austrian Development Corporation, der seine entwicklungspolitische
Karriere bei ARC begonnen hatte, dafür einsetzte.
Die von Wolf Zacherl und mir im Jahr 1994 konzipierte und
betreute Weiterführung in lokalen Organisationen sollte
neue Formen von Kontinuität ermöglichen. Nach 15
Jahren waren wir schlicht ziemlich ermattet, ohne die frühere
Kraft zum ständigen Problemlösen aus der Ferne und
zu akuten Beratereinsätzen. Der zunehmende politische
Druck machte uns zu schaffen, das Attentat auf Dr. Zamani,
der Weggang von Nassim Jawad, interne Konflikte um Nachfolgeregelungen
und Programmgestaltung, die zunehmende Talibanisierung, schließlich
der Tod des ARC-Gründers Alfred Janata und von Ilona
Seilern, die uns jahrelang seitens der Caritas begleitet hatte.
Dass unter solchen Umständen Auflösungserscheinungen
vermieden werden konnten und es zur Fortführung der Arbeit
unter anderen Namen gekommen ist, hat das "Österreichische
Hilfskomitee für Afghanistan" letztlich zu einer
vergleichsweise besonders langlebigen, anhaltend wirkungsvollen
Aktion gemacht.
Gewinnen wird keiner ...
Ganz am Anfang, im Sommer 1980, sind Nassim Jawad und ich
illegal und verkleidet über die Grenze nach Nuristan
marschiert, um Hilfsmöglichkeiten in Afghanistan selbst
zu erkunden. Wir kamen bis Kamdesh, Mandagal und Ormol, beschützt
von den Leuten eines unabhängigen Kommandanten. Auf 4000
Meter hohen Pässe ist einem bewußt geworden, was
ein urbaner Körper gerade noch durchhält. Eingeprägt
hat sich, dass Anarchie ohne jede Staatsgewalt keineswegs
zu lebensgefährlichem Chaos führen muß. Meist
sind wir freundlich, manchmal reserviert empfangen worden.
Jedes Dorf war eine Welt für sich. Dass Hilfe von außen
kommen könnte, wir dachten an Schafherden, an Saatgut,
ist ziemlich ungläubig aufgenommen worden. Es hat auch
wegen der Transportschwierigkeiten damals noch nicht funktioniert.
Ausgebrannte Panzerwagen, abgeschossene Helikopter bezeugten
heftige Kämpfe, selbst in diesem entlegenen Gebiet im
Nordosten. Winzige Bergdörfer waren massiv bombardiert
worden, im Jahr davor, noch von der eigenen Armee. Was die
Revolutionsregierung wollte, Soldaten, Steuern, Schulen -
auch für Mädchen - wurde offensichtlich nicht akzeptiert.
Vereinzelt sind wir auf Frauen gestoßen, die bei der
Feldarbeit mit Kalaschnikows bewaffnet waren; Anzeichen eines
vorher kaum denkbaren, aber rasch wieder blockierten sozialen
Wandels. Viele Routen waren aus der Luft vermint, mit den
berüchtigten kleinen Schmetterlingsminen, die "nur"
schwere Verletzungen zufügen und vorrangig die Zivilbevölkerung
terrorisieren. Von den Mujahedingruppen unterwegs hatten damals
alle nur altertümliche Waffen; sie wechselten sich an
diversen Fronten ab, um ihre Gebiete zu schützen. Jeder
Regierung in Kabul standen sie traditionsgemäß
skeptisch bis feindselig gegenüber; eine Einstellung,
die auch anderswo vorkommen dürfte. "Gewinnen wird
keiner" hat mein damaliger Bericht darüber geheißen
(Neues Forum, Wien, 323/1980 / pogrom, Göttingen, 78/1981).
Aus Sicht der Gegenseite hat es erst lange danach glaubwürdige
Darstellungen gegeben, etwa jene von Swetlana Alexijewitsch,
die mit den anderen "Afghanen" gesprochen hat, mit
wegen ihres Kriegseinsatzes daheim so genannten Angehörigen
der sowjetischen Armee. Zu deren die ganze Gesellschaft erfassenden
Trauma bemerkte ein einfacher Soldat, zuerst gab es "dieses
Hochgefühl! Wir hatten unsere internationalistische Pflicht
erfüllt"; das aber änderte sich bald: "Afghanistan
hat mir die Illusion genommen, dass alles bei uns stimmt,
dass die Zeitungen die Wahrheit schreiben, dass im Fernsehen
die Wahrheit gesagt wird." Ein Major dachte ähnlich:
"Dann wurden Gefangene gebracht: abgemagerte, erschöpfte
Männer mit großen Bauernhänden ... Das sollten
Banditen sein? Das war das einfache Volk! / Dort haben wir
begriffen: Sie brauchen das alles nicht. Und wenn sie es nicht
brauchen, was sollen wir dann hier?" (Swetlana Alexijewitsch,
1992, S. 29f., 104).
1994, als sich im Süden die Taliban zu formieren begannen,
sind Wolf Zacherl und ich über die Grenze nach Jalalabad
und in die fruchtbare Bergregion in Richtung Kabul gefahren,
um über die Zukunft der dortigen Projekte zu sprechen;
diesmal mit offiziellem Visum, wiederum beschützt von
lokalen Gruppen. Wegen der vom Komitee betriebenen ärztlichen
Station haben uns die Autoritäten der Zivilverwaltung
durchaus interessiert empfangen; aber Mißtrauen, auch
untereinander, war überall spürbar. Verwüstungen
rundum erinnerten an die schweren Kämpfe um die Stadt.
Bewaffnete Trupps bewachten neuralgische Punkte; an sie Gebühren
zu entrichten gehörte zur Kriegsökonomie, sie zu
versorgen zu den Pflichten jener, von denen es erwartet wurde.
Die nervösen, noch an Perspektiven glaubenden Blicke
früherer Jahre hatten sich verändert. Alle Jüngeren
waren in Kriegszeiten aufgewachsen, Möglichkeiten stellten
sich ihnen inzwischen völlig anders dar. Nächtelange
Diskussionen mit dem eloquenten Kommandanten und seinem Clan
drehten sich um Vorstellungen vom neuen Afghanistan - mit
ökologischer Landwirtschaft, selbstversorgend, orientiert
auf autonome Regionen. Unbrauchbar gewordene Panzer waren
zu einem Monument gruppiert.
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