So zu schreiben, wie Kurt Kocherscheidt gemalt hat, kann
nicht funktionieren; sich aber solche Dinge zu fragen, wäre
durchaus ein Gesprächsthema mit ihm gewesen. Denn Gründlichkeit
hat er sich nicht von Naivitätsvorwürfen blockieren
lassen. An seiner Essenz, der Farbe, war ihm das Potenzial
wichtig, Essenziellem nahe zu kommen und den verbleibenden
Abstand kenntlich zu machen. Wie insistierend er Literarisches,
als Erzählform, als Methode, hinter sich lassen wollte,
in Richtung eines in kompakte Formen gefassten Schweigens,
ist von Arbeitsphase zu Arbeitsphase immer markanter sichtbar
geworden. Seine Bilder erforschen, ab wann sie "etwas"
sind, etwas an sich haben, sich vom Nichtssein lösen.
Ihre Mystik ist radikal säkularisiert. Sie brauchen keine
metaphysischen Andeutungen. Es geht in ihnen um unzugänglich
Wirkliches, nicht um Fiktionen. Kommentaren gegenüber
behaupten sie einen Vorsprung; ihrer irritierenden, für
viele Arten von Wahrnehmung offen bleibenden Erkenntnisleistung
kommen vielleicht überzeugende Subtexte am nächsten.
Wie künstlerisches Denken produktiv werden kann, indem
es für Einsichten Zugänge eröffnet, vor allem
für solche, die er selbst nicht zu verstehen, nur vage
zu ahnen glaubte, von denen unklar blieb, woher sie auftauchen,
hat ihn in zentraler Weise beschäftigt. Seine ganze Kraft
war darauf gerichtet, dabei einem Ästhetisieren zu entkommen,
auf fremdes, unwegsames Terrain, um am Sehen als solchem und
an von Aussagen und Übersetzbarkeit befreiten Reflexionsgebilden
zu arbeiten.
"In den Größenverhältnissen
der Welt", so eine Vermutung Vladimir Nabokovs zu dieser
Thematik, "gibt es einen feinen Punkt, wo sich Fantasie
und Wissen treffen, einen Punkt, den man erreicht, wenn man
Großes verkleinert und Kleines vergrößert,
und der seinem Wesen nach künstlerisch ist." (1)
Plausibel ist ihm noch erschienen, "dass der Wissenschaftler
alles, was geschieht, in einem Punkt des Raumes sieht, der
Dichter aber alles in einem Punkt der Zeit fühlt"
(2). Dieser
eine Punkt, um den es da jeweils geht, ist selbstverständlich
metaphorisch gemeint, stellvertretend für Momente, stellvertretend
für angestrebte Positionen. Es wird über Einsichtsfaktoren
und die Unterschiede künstlerischer und wissenschaftlicher
Verfahren spekuliert, um Raum und Zeit, Fiktion und Wissen,
um Sehen, Denken, Empfinden in ihrer Mehrdeutigkeit fassen
zu können - als Basis eigensinniger Arbeitsweisen: beim
Erforschen des Möglichen, beim Erforschen des einem selbst
Möglichen. Getrennte Sphären fördern Präzision,
in Grenzen gehaltenes Denken kommt um die Beschäftigung
mit solchen Grenzen nicht herum.
Für Igor Strawinsky
- um bei in russischen Konstellationen geprägten Auffassungen
zu bleiben, an denen Kurt Kocherscheidt vieles sehr schätzte
- hat Komponieren schlicht bedeutet, "eine gewisse Zahl
von Tönen nach gewissen Intervallbeziehungen zu ordnen"
(3), sie also
wie Klang- und Zeitpunkte in einem Koordinatenraum zu behandeln.
Fest stand für ihn eines: "Je mehr die Kunst kontrolliert,
begrenzt und gearbeitet ist, umso freier ist sie." (4)
Dimitrij Schostakowitsch hat das durchaus ähnlich gesehen,
aber ein konzeptives Denken im Voraus und das Ausprobieren
stärker betont: "Ein
Werk zu komponieren, ist ein langer und komplizierter Prozess.
Man beginnt zu schreiben, überdenkt das Geschriebene.
Nicht immer entspricht es der ursprünglichen Intention.
Gelingt das Vorhaben nicht, lass die Arbeit, wie sie ist,
und bemühe dich, in der nächsten die vorigen Fehler
zu vermeiden." (5)
Strawinsky hat er als einen
"der ganz großen Komponisten unserer Zeit"
(6) bewundert,
mit dessen reklamefreudiger Verwestlichung aber nichts anzufangen
gewusst; denn "wichtige moralische Positionen sind aufgegeben
worden" (7).
Überzeugt war er davon: "Musik,
und ganz allgemein Kunst, kann nicht zynisch sein" (8).
Tschechow, den er als höchst musikalischen, ein unkompliziertes
Schreiben propagierenden Schriftsteller besonders mochte,
ist für ihn "ein Vorbild an Reinheit und Bescheidenheit"
(9) gewesen.
"Er hielt Unsterblichkeit, Leben nach
dem Tode in irgendeiner Form für dummes Zeug, für
Aberglauben. Er forderte, man müsse klar und kühn
denken lernen." (10)
Der Tod sei für ihrer beider Kunst kein Thema, Menschen
jedoch, die schon früh begännen, über ihn nachzudenken,
würden "weniger Dummheiten machen" (11).
Solche Botschaften mit russischen Absendern erscheinen mir
als zeitlich-räumlich erweiterter Ansatz für Überlegungen
zu Kurt Kocherscheidts Denken plausibel, weil intensive Erinnerungen
an analoge Gesprächsthemen mitschwingen. Sich gedanklich
in "seiner" Geografie zu bewegen, den Osten, den
Süden immer einbeziehend, interessiert an - auch intellektuell
- entlegen erscheinenden Blickpunkten, war für ihn eine
Existenzfrage. Als "russisch" bezeichnete er dieses
und jenes, was ihn wegen ungekünstelter Direktheit beeindruckte;
in "russischen" Zusammenstellungen seiner Werke,
eng aneinander, ohne Zwischenraum, lapidar zu neuen kraftvollen
Einheiten versammelt, hat er solche herausfordernden Sensibilitäten
für sich weiterentwickelt; mit dem großen Bild
"Russische Hütte" von 1985 beginnt die Hinwendung
zu Bild-Objekten. Produktion und Präsentation seiner
Arbeiten sollten als Arbeit begreifbar bleiben. Durch
eine das Entstehen selbst offen legende Malweise, die ohne
Verbergen Verborgenes zu fassen kriegen will und eine materielle
Verbundenheit mit ihm sucht, ohne "Darstellung",
wollte er über Kompositionsverfahren, wie die beispielhaft
angesprochenen, hinausgelangen. Das Stoffliche eindringlich
zur Geltung gebrachter Farben soll Farbklänge aktivieren,
Denkräume, Empfindungskonstellationen. "Die Bilder
rücken in die Nähe von Musik" (12),
bemerkte er zu seinen grundsätzlichen Vorstellungen,
in die Nähe solcher Musik, in der ebenfalls ihre Überarbeitungsphasen
zum Teil des Werkes werden, wie bei seinem Freund Wolfgang
Rihm. Ging es ursprünglich einmal um
"das eigene Leben der einzelnen Stimme", das der
eine musikalisch, der andere "in malerischer Form zu
finden versuchte", wie es im berühmten ersten Brief
von Kandinsky an Schönberg heißt (13),
so wird nun wichtig, die tatsächliche "Körperlichkeit"
des Bildes, von Musikstücken zu erreichen. Für den
sich auf "die freieste" Musik des 20. Jahrhunderts,
jene von Varèse, Schönberg, Feldman oder Nono
berufenden Wolfgang Rihm dürfe "das, was auf dem
Papier ist, nicht nur eine Folge von Punkten, Strichen, von
Relationen" sein. Auch er brauche den
"physischen Kontakt" mit seinem Material, um Unbenennbarem
Körperlichkeit zu verleihen. "Durch ihre ungeheuer
offene und radikale Sehweise" sei ihm Kurt Kocherscheidts
Kunst dabei "eine große Imaginationshilfe"
gewesen. (14)
Derartige Probleme einer Neuen Moderne, ob nun der Musik,
der Malerei, der Sprache, haben Kocherscheidt als Ansatz für
materielle Präzisierungen beschäftigt, um sozusagen
von deren ausgefransten Rändern her rigide Ansprüche
in Überschneidungszonen einer bildnerischen, skulpturalen,
musikalischen, literarischen Produktion weiterzudenken. Ernsthaft
ist er in der Arbeit sowieso gewesen. In seinem gedanklichen
Verarbeitungsraum sind vormoderne Einflüsse und die Dunkelheit
der Moderne selbst thematisiert und in Bildern gebannt worden,
vom jeweiligen Heute aus gesehen. Die Phase als zeichnender
Forschungsreisender hat sich im Erkunden von Innenwelten und
Gegenwelten fortgesetzt. Dieses Raumgreifende ist in vielen
Arbeiten gegenwärtig; aber Zeit bleibt, als Augenblick
und unendliche Dimension, stets spürbar. Kocherscheidt
hat in sehr komprimierender Weise gearbeitet, viele Emotionsebenen
einbeziehend, Vorstufen erkennbar lassend, als zupackendes
Tun, bei dem in aufeinander folgenden Schichten Formen eines
mittelbaren, nie abbildenden Ausdrucks durchprobiert wurden.
Lakonisches, Banales, Gewichtiges haben sich dabei gegenseitig
gebraucht. Technisches beschäftigte ihn, um es schließlich
überwinden zu können. Sein Kampf mit Oberflächen
hat diese immer rauer, wilder, materieller gemacht. Seine
Fragen zur Kunst drehten sich um Anfangen und Beenden, um
Bildfolgen, um Kontrolliertheit, um das Benutzen und Brechen
von Automatismen, um Einfachheit, um Stückwerk und doch
immer wieder auch um den Blick auf die Welt, als Ganzes, auf
mit freiem Auge nicht sichtbare Sphären. "Die Beendigung
eines Bildes", heißt es in einem programmatischen
Text von ihm, "ist viel schwieriger als sein Beginn,
in Wahrheit unmöglich. Ich verstehe die Entwicklung eines
Bildes als Fluss von Bildern, der beinahe beliebig angehalten
wird. / Eine Idee oder auch nur ein Gedanke wird aufgerissen,
verdichtet und überlagert, zersplittert und wieder zusammengefasst,
zurechtgerückt. In dem Augenblick,
in dem ein kurzer Verlust der Kontrolle eintritt, eine kleine
Wendung vorgenommen wird, die das lähmende Fixiertsein
unterbricht, mit einem Wort, wenn das Bild selbständig
wird, eine Gelegenheit findet zurückzuschlagen, ist ein
guter Moment gekommen aufzuhören." (15)
Eine solche Selbsteinschätzung seiner Praxis belegt,
wie intensiv ihn Übergänge von Sehen, Denken, Empfinden,
Handeln beschäftigt haben. An künstlerischem Arbeiten
waren ihm die ausufernden Möglichkeiten wichtig, das
freie Forschen, das gegenüber anderen Professionen viel
offenere Feld, gerade weil er ein so analysierend-politischer
Mensch gewesen ist. Hochtrabende Attitüden hat er dazu
nicht gebraucht. Es ging ihm um möglichst universelles
Denken, um ein Denken beim Malen, so wie andere beim Schreiben
oder Komponieren denken. Dessen Umsetzung hat er im Prinzip
als Handwerk verstanden. Kunstferne Argumente
völlig auszuschließen, würde seinem Umgang
mit Transformationsvorgängen widersprechen, dem Streben,
die Sicht auf die einfachen Dinge ständig mit Hintergrundmaterial
aufzuladen. Das zu negieren hieße, ihn zur Kunstfigur
zu stilisieren. Nekrassows vorrevolutionäre Prioritäten
haben noch auf ihn gepasst: "Ein Dichter brauchst du
nicht zu sein / Ein Bürger aber unbedingt
"
(16) Die
harte, selbstkritische Analyse von Isaak Babel, einem seiner
Lieblingsautoren, ist ihm wegen des Nachhalls solcher Ansprüche
wichtig gewesen; zur Roten Reiterarmee von 1920 steht bei
diesem knapp: "Mehrere Schichten: Angeberei, Verwegenheit,
Professionalismus, revolutionäre Einstellung, viehische
Grausamkeit. Wir sind die Avantgarde, aber wovon?" (17)
Getraut hat sich auch Kocherscheidt vieles, den Mut dazu hat
er bei anderen in der Kunst Tätigen vermisst oder respektiert,
Zustände konnten seinen heftigen Zorn erregen, pathetische
Wir-Gefühle mussten dem Einzelgänger hingegen verdächtig
sein. Toleranz forderte er im Umgang untereinander, in der
Kunst jedoch, so war er überzeugt, habe niemand etwas
davon. Das in Österreich hingenommene
öffentliche Klima hat er zeitlebens als bedrückend,
vielfach als neuerlich enger werdend empfunden; über
dessen in Kärnten, wo er aufgewachsen ist, üblichen
Zuspitzungen sei das nur besonders deutlich geworden. "Heute
hörst du ja Sprüche, das ist unvorstellbar",
sagte er mir in einem 1986 publizierten Gespräch (18),
"es ist kaum zu glauben, was sich dort für Gedankengänge
finden und wie dünn die Auflehnung dagegen ist."
Seine Sanktionen, und damit war er nicht allein, bestanden
in entschiedener Distanz zu den Derartiges duldenden Kräften,
lange bevor solche Phasen sogar international angebracht schienen.
Geprägt haben ihn soziale Problemzonen ganz anderer Dimension,
seine zwei Jahre in England, in der brutalen Atmosphäre
des Londoner East End, und das eine Jahr in Lateinamerika;
dort lernte er "den Mechanismus in einer sehr direkten
Weise" zu verstehen.
Für sein Arbeitsverständnis hatte das nachhaltige
Folgen. "Wenn ich den Künstler überhaupt definiere",
bemerkte er dazu, "dann am ehesten als eine Person, die
es sozusagen mit ihrem Beruf verbindet, ständig die eigene
Situation zu überdenken, sie pausenlos zu analysieren,
sie pausenlos zu bearbeiten'. Angesichts der Bedrohung
ringsum ist man ja dauernd verführt, alles aufzugeben,
alles als sinnlos einzustufen. Man muss aber - eben als Gegenkraft
- konsequent dranbleiben an seiner Sache, selbst wenn es morgen
aus wäre." Er wollte Klärungen, die weitere
Schritte vorbereiten. Anklänge an den in katholisch geprägten
Regionen angeblich mentalitätsbedingten, also unvermeidlichen
Kult um Schmerz, Tod, Selbstmitleid, um den Körper und
dessen Verfall waren nicht seine Sache, obwohl seit jungen
Jahren eine Herzkrankheit sein Leben bedroht und schließlich
früh beendet hat. Rückhalt hat ihm geboten, dass
sein Werk vom Morat Institut in Freiburg vorbildlich und ruhig
betreut worden ist. Die Phase, als sich 1992, mit der Teilnahme
an der documenta 9, ein intensiviertes Vordringen auf internationale
Beachtungsebenen abzeichnete, hat er, zu diesem Zeitpunkt
längst einer der bedeutendsten von Wien aus wirkenden
Künstler, nur um einige Monate überlebt. Dass er
noch höchst Überzeugendes zustande gebracht hätte,
reduzierte sich damit zu sinnlos-theoretischer Gewissheit.
"Literarische Malerei" sei ihm immer unmöglicher
geworden, lautet eine seiner Wegbeschreibungen, alles Ästhetisch-Spielerische
wollte er überwinden, "auch den Pinselstrich als
solchen", zugunsten "einer strengen Form".
"Ich fange oft mit einer gewissen Ornamentik an - sehr
häufig in Schwarzweiß -", so seine Charakterisierung
späterer Arbeitsweisen, die auf eine "möglichst
essenzielle Aussage in einer reinen Sprache" abzielen,
"und mache sie immer mehr zu, überdecke ihre Kompliziertheit,
bis übrig ist, was übrig bleiben soll".
Ein sonst nur aus der russischen Literatur gekanntes Dasein,
wie er manchmal ironisch hervorhob, ermöglichte immer
wieder das nach seinen Vorstellungen ausgebaute Atelierhaus
im Burgenland, gemeinsam mit der Frau seines Lebens, der Fotografin
Elfie Semotan, und den beiden Söhnen. Die oft ergänzten
Ausbesserungsflächen aus Asphalt, die auf der schmalen
Straße dorthin zu sehen sind, hat er begeistert kommentiert,
als Beispiel einer direkten, harten, materiellen Malerei,
die für sich steht, einfach da ist, als anonymes Finalstadium
gewissermaßen. Meinen solche Gedanken weiterführenden
Text für die Budapester Ausstellung 1989, im Jahr der
Wende, hat er von der Richtung her zutreffend gefunden. "Bevor
ihn Intellektualität zu Spitzfindigkeiten verführt",
heißt es dort, "rettet er sich in Zähigkeit.
Diese Zähigkeit wird überall sichtbar. Mit Bitternis
will sie nichts zu tun haben. So entstehen Formen jenseits
von Erinnerung und Erfindung. Dumpfe, dunkle, trübe,
undurchsichtige Farben drücken Lichtverhältnisse
aus, wie sie vor oder nach irgendwelchen Elementarereignissen
herrschen dürften. Die schwarz-braun-grauen Flächen
können Himmel, Erde, Wasser, Finsternis und kosmische
Fremdheit oder etwas völlig Unbestimmbares und damit
Unerreichbares sein. Als Umgebung drängen sie sich ganz
nah an jene Gegenstände heran, die gerade sichtbar sind.
An dieser - oft durchdringenden - Nähe aber ist nichts
Bedrohliches. Angst wird entwertet, neutralisiert;
dem Chaos mit durchdringender Wärme die Destruktivität
genommen. Spröde, mit groben Pinselstrichen gesetzte
Farbschichten lassen Spuren erfolgter Reduktionen durchscheinen.
Die Oberflächen wollen sich nicht von provisorischer
Anstreicherarbeit unterscheiden."
(19)
In seinen mysteriösen Elementarbildern, Landschaftsfragmenten,
Objektfigurationen, Gedankengittern, Durchblicken geht es
nur indirekt um Natur - um eine Natur ohne Menschen, eine
ohne Menschen denkbare Welt. Gerade deren Abwesenheit im Bild
gibt der Frage Gewicht, was eigentlich los ist, was da passiert.
Im Versuch, menschliche Sichtweisen als solche zu negieren,
also mit anderen Augen zu sehen, denen irgendeines Wesens
zum Beispiel, drückt sich aus, wie um erweiterte Perspektiven
gekämpft wird. Der Mensch selbst, als Generalisierung,
hat keinen Vorrang, sondern Subjektives und "das Ganze",
als Gegenüber, um beider Fragilität und Fragwürdigkeit
nachzuforschen. Nabokovs feiner künstlerischer Punkt,
an dem "Großes verkleinert und Kleines vergrößert"
wird, radikalisiert sich. Das denkende Auge selbst wird zum
Mikroskop, zum Teleskop, zum unbekannten Gerät - und
sogar das ist erst ein Anfang. Kocherscheidts Weltbilder mit
ihren Dimensionsverzerrungen und sonderbaren Formen nehmen
unbekannte Standorte ein, um Vertiefungsperspektiven, um Körper-Fläche-Relationen
als irritierende Augenblicke präsent zu machen. Der Impuls,
von einer Situation der Unentscheidbarkeit, der Schwebezustände
aus, den Gesetzen der Natur und der Natur des Menschen, des
einerseits zu allem fähigen, andererseits angeblich einzig
verantwortlich handelnden Wesens, weitere Zwischenstadien
vorzuhalten, führte zu Bildern, die solche Zugänge
in gedanklich magnetisierte Andeutungen und Zeichen fassen,
trotz aller Erfahrungen mit Vergeblichkeit. Assoziationen
von Endzeitzuständen, die vom Menschen entfesselten Naturkräften
zuzuschreiben sind, wie in Andrej Tarkovskijs Film "Stalker"
(1979), bedarf es bei ihm dazu nicht - sie würden inhaltlich
zu viel präjudizieren. Wenn alles gesagt, schon einmal
gemacht zu sein scheint, so die begleitende Stimmung, bleibe
nur ein Vertrauen ins eigene Zweifeln, das Übertragen
solcher Verunsicherungen. Perfektion anzustreben wäre
absurd, sie ist der Feind. Es geht Kocherscheidt nicht um
ein "Fertigmachen"; "stimmen" müsse
etwas auf andere Weise. Seine formalen Lösungen halten
mit ihrer Auflösung Kontakt, wehren sich aber gegen sie
und jedes Einordnen. Von den verwendeten Farben lassen sich
viele nur höchst ungefähr benennen. Plötzlich
tauchen wieder kräftige helle Töne auf. Längst
schon gibt es keinen Horizont mehr. Im "Augenecho"
von 1985, mit großformatigen Sehflecken, Blickpunkten,
Augäpfeln, die auch Himmelskörper sein könnten,
scheinen sich Mikro- und Makrokosmos gleichzeitig als sphärischer
Klang Gehör zu verschaffen. Mit schwerem Schwarz Zugedecktes
lässt irgendetwas durchschimmern, wie im Triptychon "Große
Teichruhe" von 1987. Die Fassungen von "Im Raum
drinnen", "Das Schwarze Meer" oder "Chinesische
Mitte" (alle 1991) konfrontieren einen mit nie gesehenen
Körpern, deren Magie sich jeder Wiedererkennbarkeit entzieht.
Jedenfalls: Von Rückseiten, Unterseiten, aus Innenräumen,
aus unbekannten Zonen wird Verborgenes hervorgeholt, hypothesenhaft.
Dass es dennoch so bestimmt Form annimmt, provoziert. Auf
die Gewöhnung an eine verkehrte Wahrnehmung antwortet
er mit seltsam veränderlicher, durchlässiger Statik.
Vieles scheint aus einer anderen Welt, aus vielen anderen
Welten zu stammen.
Natur hat ihn als Gegenmacht, nicht als Zuflucht interessiert;
ihrer Fremdheit wegen. Wo sich Elementares zeigt, als Felsformation,
Lava, Wurzelwerk, in verwitterten Oberflächen, in kleinsten
Details, ist ihm ihr langatmiges, schweigendes Erzeugen, Verändern
- und Zerstören - besonders nahe gegangen. Weil einem
keine von irgendjemand gestalteten Gegenstände vorgesetzt
werden, seien ihre Formen und Unförmiges eben in der
Lage, so sein Zugang, dem eigenen, viele Empfindungen und
Einflüsse transportierenden Blick Unbenennbares, im Wortsinn
Unbeschreibliches jenseits von Spracherfahrungen greifbarer
zu machen. Ihm selbst ging es klarerweise um Künstliches,
um erkennen statt nachahmen. Er wollte in der Arbeit konkreter
und komplexer, nicht fiktiver werden. Über sein Operieren
zwischen den Sphären sollte ein Vordringen in zu erforschende
Zonen jenseits von bereits Aufgeklärtem gelingen. Davon
abzulassen würde diversen Mächten recht sein; sich
nicht restlos Verstehbarem zu widmen und an sich selbst zu
arbeiten, gebe der Kunst ihre eigentliche gesellschaftliche
Funktion, hat er immer wieder betont.
Wie Gottfried Boehm in einem wichtigen Aufsatz (20)
zur Kocherscheidt-Ausstellung im Museum des 20. Jahrhunderts
in Wien (1986) hervorhob, habe dieser irgendwann "die
Natur als Instanz" entdeckt, als "unbeherrschbare
Größe, die nicht darin aufgeht, menschlicher Arbeit
willig den Rohstoff zu liefern"; sein Blick sei auf "die
Rückseite der Welt" gerichtet gewesen, um
sie "in der Ansicht der Dinge zu erfassen", "auf
jene Seite des Wirklichen, die wir sehend nicht vor uns bringen
können". Wegen der "Disharmonie zwischen Innen
und Außen" würden die Bilder "zu Orten
der Überprüfung, des Kampfes, des Scheiterns".
Heinz Liesbrock knüpft in einem Katalogtext (21)
daran an und konstatiert: Kocherscheidt "will nicht von
sich selbst sprechen, sondern von einer Begegnung mit der
Welt"; "jenes Gegenüber, das der Maler in der
empirischen Welt nicht findet, hat er sich im Bild selbst
zu schaffen", "um eine möglichst dichte Entsprechung
seiner inneren Wirklichkeit zu finden", als "Zwiegespräch
mit der Welt", das alle seine Versuche suchen. Mit Unterhaltung,
ließe sich hinzufügen, haben solche Unterhaltungen
wenig zu tun, obwohl sich vieles um durchaus Alltägliches
dreht. Eines tatsächlichen Sprechens, in welcher Sprache
auch immer, bedarf es dazu nicht unbedingt; sich treffende
Blicke können von viel stärkerer Intensität
sein.
Dem in sich rotierenden Gerede um die Unausweichlichkeit
ästhetisierender Wirkungen von Kunst, um ein Ende der
Malerei, des abgegrenzten Bildes, setzte Kocherscheidt seine
Art spröder Subversion entgegen. Farbe
war ihm Material für Experimente mit physikalisch-mentalen
Wirkungen. Dass lange Jahre jemand, der malte, "sowieso
nicht auf dem richtigen Dampfer" war und nur Einzelgänger
"trotz des Malverbots'" weitertaten - Aussagen,
die von ihm sein könnten, aber von Gerhard Richter (22)
und Per Kirkeby (23)
stammen -, hat ihn nicht dauerhaft zu irritieren vermocht.
Richter fand es für ein Bild übrigens gut, "wenn
alle Schichten stehen bleiben, sodass man alles noch sieht,
wenn eine Räumlichkeit entsteht, die die Vielseitigkeit
und Kompliziertheit zulässt" (24).
Und Per Kirkeby fiel an den eigenen Übermalungen
auf, "dass die darunter liegende Struktur immer durchbricht,
auch wenn eine neue Schicht ein ganz anderes Motiv und eine
ganz andere Farbe hat"; Zonen "zwischen Natur und
Kunst, halb der einen, halb der anderen Welt zugehörig,
unterwegs zwischen Zuständen" (25),
haben es ihm besonders angetan. Von den Denkweisen und Absichten
her verschränken sich solche Vorstellungen mit jenen
Kocherscheidts, die unterschiedlichen Resultate wiederum verschränken
sich über Qualität, also ihre Überzeugungsgeheimnisse,
ihre Reflexionskraft. Er selbst hat sich gesprächsweise
eher auf die Konsequenz und Reinheit bei Zubarán, die
Verschlüsselungen von Velasquez oder auf Goyas "Desastres
de la Guerra" bezogen; ein besonderes Naheverhältnis
verband ihn, wie Elfie Semotan sich erinnert, mit den Auffassungen
von Robert Motherwell und dessen Umgang mit Flächen,
hart abgegrenzten Schwarz-Weiß-Formen, Übergängen
von Statik zu Fließendem. In den Skulptur-/Objekt-Formationen
der letzten Jahre ging es auch ihm offensiver um Raumgewinn.
Diese extremen Reduktionen aus rohen Brettern und Balken machen
statt Farbe deren Material selbst zum bestimmenden Moment.
Sie sind das, was sie sind, lehnen sich höchstens noch
beiläufig an irgendeine Wand. Sockel gibt es nicht. Trotz
der faktischen und nachdenklichen Schwere der großformatigen
Bilder und Objekte strahlen sie innere Leichtigkeit aus, gespeicherte
Energie, eine Eigendynamik, die in Bewegung umschlagen könnte.
Er selbst hat das, wie schon erwähnt, als ihr Zurückschlagen
empfunden. Seine oft geäußerte Behauptung, er tue
das alles, weil er nicht anders - oder nichts anderes - könne,
überträgt sich eindrucksvoll auf die Werke, als
sich vom Urheber lösende, längst zu selbständigen
Kräften gewordene Dinge. Vom ihn persönlich betreffenden
Unterton bleibt nur ein Echo.
Zu den Richtungen, denen Kurt Kocherscheidt
in seinem Denken so unbeirrbar gefolgt ist, heißt es
in einem noch oder bewusst holprigen Briefentwurf von Isaak
Babel: "... die einen werden die Revolution machen, und
ich werde, werde das besingen, was sich abseits befindet,
das, was tiefer sitzt, ich habe gespürt, dass ich das
können werde, dafür wird Zeit sein und auch Raum."
(26)
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