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Forschende Denkweisen
Zu Kurt Kocherscheidts Vorstellungen von Momenten, Flächen, Körpern, von Unbenennbarem und darüber, wie erfreulich "russisch" ihm manches vorgekommen ist

in: Kurt Kocherscheidt. Das fortlaufende Bild.
Ausstellungskatalog
MAK - Österreichisches Museum für angewandte Kunst Wien
Verlag der Buchhandlung Walther König Köln
deutsch/englisch
Wien - Köln 2003

Mit Textbeiträgen von Peter Noever, Kurt Kocherscheidt, Rudi Fuchs, Christian Reder, Johannes Meinhardt.
Neuabdruck in: Forschende Denkweisen. Wien New York 2004

 

So zu schreiben, wie Kurt Kocherscheidt gemalt hat, kann nicht funktionieren; sich aber solche Dinge zu fragen, wäre durchaus ein Gesprächsthema mit ihm gewesen. Denn Gründlichkeit hat er sich nicht von Naivitätsvorwürfen blockieren lassen. An seiner Essenz, der Farbe, war ihm das Potenzial wichtig, Essenziellem nahe zu kommen und den verbleibenden Abstand kenntlich zu machen. Wie insistierend er Literarisches, als Erzählform, als Methode, hinter sich lassen wollte, in Richtung eines in kompakte Formen gefassten Schweigens, ist von Arbeitsphase zu Arbeitsphase immer markanter sichtbar geworden. Seine Bilder erforschen, ab wann sie "etwas" sind, etwas an sich haben, sich vom Nichtssein lösen. Ihre Mystik ist radikal säkularisiert. Sie brauchen keine metaphysischen Andeutungen. Es geht in ihnen um unzugänglich Wirkliches, nicht um Fiktionen. Kommentaren gegenüber behaupten sie einen Vorsprung; ihrer irritierenden, für viele Arten von Wahrnehmung offen bleibenden Erkenntnisleistung kommen vielleicht überzeugende Subtexte am nächsten. Wie künstlerisches Denken produktiv werden kann, indem es für Einsichten Zugänge eröffnet, vor allem für solche, die er selbst nicht zu verstehen, nur vage zu ahnen glaubte, von denen unklar blieb, woher sie auftauchen, hat ihn in zentraler Weise beschäftigt. Seine ganze Kraft war darauf gerichtet, dabei einem Ästhetisieren zu entkommen, auf fremdes, unwegsames Terrain, um am Sehen als solchem und an von Aussagen und Übersetzbarkeit befreiten Reflexionsgebilden zu arbeiten.

"In den Größenverhältnissen der Welt", so eine Vermutung Vladimir Nabokovs zu dieser Thematik, "gibt es einen feinen Punkt, wo sich Fantasie und Wissen treffen, einen Punkt, den man erreicht, wenn man Großes verkleinert und Kleines vergrößert, und der seinem Wesen nach künstlerisch ist." (1) Plausibel ist ihm noch erschienen, "dass der Wissenschaftler alles, was geschieht, in einem Punkt des Raumes sieht, der Dichter aber alles in einem Punkt der Zeit fühlt" (2). Dieser eine Punkt, um den es da jeweils geht, ist selbstverständlich metaphorisch gemeint, stellvertretend für Momente, stellvertretend für angestrebte Positionen. Es wird über Einsichtsfaktoren und die Unterschiede künstlerischer und wissenschaftlicher Verfahren spekuliert, um Raum und Zeit, Fiktion und Wissen, um Sehen, Denken, Empfinden in ihrer Mehrdeutigkeit fassen zu können - als Basis eigensinniger Arbeitsweisen: beim Erforschen des Möglichen, beim Erforschen des einem selbst Möglichen. Getrennte Sphären fördern Präzision, in Grenzen gehaltenes Denken kommt um die Beschäftigung mit solchen Grenzen nicht herum.

Für Igor Strawinsky - um bei in russischen Konstellationen geprägten Auffassungen zu bleiben, an denen Kurt Kocherscheidt vieles sehr schätzte - hat Komponieren schlicht bedeutet, "eine gewisse Zahl von Tönen nach gewissen Intervallbeziehungen zu ordnen" (3), sie also wie Klang- und Zeitpunkte in einem Koordinatenraum zu behandeln. Fest stand für ihn eines: "Je mehr die Kunst kontrolliert, begrenzt und gearbeitet ist, umso freier ist sie." (4) Dimitrij Schostakowitsch hat das durchaus ähnlich gesehen, aber ein konzeptives Denken im Voraus und das Ausprobieren stärker betont: "Ein Werk zu komponieren, ist ein langer und komplizierter Prozess. Man beginnt zu schreiben, überdenkt das Geschriebene. Nicht immer entspricht es der ursprünglichen Intention. Gelingt das Vorhaben nicht, lass die Arbeit, wie sie ist, und bemühe dich, in der nächsten die vorigen Fehler zu vermeiden." (5) Strawinsky hat er als einen "der ganz großen Komponisten unserer Zeit" (6) bewundert, mit dessen reklamefreudiger Verwestlichung aber nichts anzufangen gewusst; denn "wichtige moralische Positionen sind aufgegeben worden" (7). Überzeugt war er davon: "Musik, und ganz allgemein Kunst, kann nicht zynisch sein" (8). Tschechow, den er als höchst musikalischen, ein unkompliziertes Schreiben propagierenden Schriftsteller besonders mochte, ist für ihn "ein Vorbild an Reinheit und Bescheidenheit" (9) gewesen. "Er hielt Unsterblichkeit, Leben nach dem Tode in irgendeiner Form für dummes Zeug, für Aberglauben. Er forderte, man müsse klar und kühn denken lernen." (10) Der Tod sei für ihrer beider Kunst kein Thema, Menschen jedoch, die schon früh begännen, über ihn nachzudenken, würden "weniger Dummheiten machen" (11).

Solche Botschaften mit russischen Absendern erscheinen mir als zeitlich-räumlich erweiterter Ansatz für Überlegungen zu Kurt Kocherscheidts Denken plausibel, weil intensive Erinnerungen an analoge Gesprächsthemen mitschwingen. Sich gedanklich in "seiner" Geografie zu bewegen, den Osten, den Süden immer einbeziehend, interessiert an - auch intellektuell - entlegen erscheinenden Blickpunkten, war für ihn eine Existenzfrage. Als "russisch" bezeichnete er dieses und jenes, was ihn wegen ungekünstelter Direktheit beeindruckte; in "russischen" Zusammenstellungen seiner Werke, eng aneinander, ohne Zwischenraum, lapidar zu neuen kraftvollen Einheiten versammelt, hat er solche herausfordernden Sensibilitäten für sich weiterentwickelt; mit dem großen Bild "Russische Hütte" von 1985 beginnt die Hinwendung zu Bild-Objekten. Produktion und Präsentation seiner Arbeiten sollten als Arbeit begreifbar bleiben. Durch eine das Entstehen selbst offen legende Malweise, die ohne Verbergen Verborgenes zu fassen kriegen will und eine materielle Verbundenheit mit ihm sucht, ohne "Darstellung", wollte er über Kompositionsverfahren, wie die beispielhaft angesprochenen, hinausgelangen. Das Stoffliche eindringlich zur Geltung gebrachter Farben soll Farbklänge aktivieren, Denkräume, Empfindungskonstellationen. "Die Bilder rücken in die Nähe von Musik" (12), bemerkte er zu seinen grundsätzlichen Vorstellungen, in die Nähe solcher Musik, in der ebenfalls ihre Überarbeitungsphasen zum Teil des Werkes werden, wie bei seinem Freund Wolfgang Rihm. Ging es ursprünglich einmal um "das eigene Leben der einzelnen Stimme", das der eine musikalisch, der andere "in malerischer Form zu finden versuchte", wie es im berühmten ersten Brief von Kandinsky an Schönberg heißt (13), so wird nun wichtig, die tatsächliche "Körperlichkeit" des Bildes, von Musikstücken zu erreichen. Für den sich auf "die freieste" Musik des 20. Jahrhunderts, jene von Varèse, Schönberg, Feldman oder Nono berufenden Wolfgang Rihm dürfe "das, was auf dem Papier ist, nicht nur eine Folge von Punkten, Strichen, von Relationen" sein. Auch er brauche den "physischen Kontakt" mit seinem Material, um Unbenennbarem Körperlichkeit zu verleihen. "Durch ihre ungeheuer offene und radikale Sehweise" sei ihm Kurt Kocherscheidts Kunst dabei "eine große Imaginationshilfe" gewesen. (14)

Derartige Probleme einer Neuen Moderne, ob nun der Musik, der Malerei, der Sprache, haben Kocherscheidt als Ansatz für materielle Präzisierungen beschäftigt, um sozusagen von deren ausgefransten Rändern her rigide Ansprüche in Überschneidungszonen einer bildnerischen, skulpturalen, musikalischen, literarischen Produktion weiterzudenken. Ernsthaft ist er in der Arbeit sowieso gewesen. In seinem gedanklichen Verarbeitungsraum sind vormoderne Einflüsse und die Dunkelheit der Moderne selbst thematisiert und in Bildern gebannt worden, vom jeweiligen Heute aus gesehen. Die Phase als zeichnender Forschungsreisender hat sich im Erkunden von Innenwelten und Gegenwelten fortgesetzt. Dieses Raumgreifende ist in vielen Arbeiten gegenwärtig; aber Zeit bleibt, als Augenblick und unendliche Dimension, stets spürbar. Kocherscheidt hat in sehr komprimierender Weise gearbeitet, viele Emotionsebenen einbeziehend, Vorstufen erkennbar lassend, als zupackendes Tun, bei dem in aufeinander folgenden Schichten Formen eines mittelbaren, nie abbildenden Ausdrucks durchprobiert wurden. Lakonisches, Banales, Gewichtiges haben sich dabei gegenseitig gebraucht. Technisches beschäftigte ihn, um es schließlich überwinden zu können. Sein Kampf mit Oberflächen hat diese immer rauer, wilder, materieller gemacht. Seine Fragen zur Kunst drehten sich um Anfangen und Beenden, um Bildfolgen, um Kontrolliertheit, um das Benutzen und Brechen von Automatismen, um Einfachheit, um Stückwerk und doch immer wieder auch um den Blick auf die Welt, als Ganzes, auf mit freiem Auge nicht sichtbare Sphären. "Die Beendigung eines Bildes", heißt es in einem programmatischen Text von ihm, "ist viel schwieriger als sein Beginn, in Wahrheit unmöglich. Ich verstehe die Entwicklung eines Bildes als Fluss von Bildern, der beinahe beliebig angehalten wird. / Eine Idee oder auch nur ein Gedanke wird aufgerissen, verdichtet und überlagert, zersplittert und wieder zusammengefasst, zurechtgerückt. In dem Augenblick, in dem ein kurzer Verlust der Kontrolle eintritt, eine kleine Wendung vorgenommen wird, die das lähmende Fixiertsein unterbricht, mit einem Wort, wenn das Bild selbständig wird, eine Gelegenheit findet zurückzuschlagen, ist ein guter Moment gekommen aufzuhören." (15)

Eine solche Selbsteinschätzung seiner Praxis belegt, wie intensiv ihn Übergänge von Sehen, Denken, Empfinden, Handeln beschäftigt haben. An künstlerischem Arbeiten waren ihm die ausufernden Möglichkeiten wichtig, das freie Forschen, das gegenüber anderen Professionen viel offenere Feld, gerade weil er ein so analysierend-politischer Mensch gewesen ist. Hochtrabende Attitüden hat er dazu nicht gebraucht. Es ging ihm um möglichst universelles Denken, um ein Denken beim Malen, so wie andere beim Schreiben oder Komponieren denken. Dessen Umsetzung hat er im Prinzip als Handwerk verstanden. Kunstferne Argumente völlig auszuschließen, würde seinem Umgang mit Transformationsvorgängen widersprechen, dem Streben, die Sicht auf die einfachen Dinge ständig mit Hintergrundmaterial aufzuladen. Das zu negieren hieße, ihn zur Kunstfigur zu stilisieren. Nekrassows vorrevolutionäre Prioritäten haben noch auf ihn gepasst: "Ein Dichter brauchst du nicht zu sein / Ein Bürger aber unbedingt …" (16) Die harte, selbstkritische Analyse von Isaak Babel, einem seiner Lieblingsautoren, ist ihm wegen des Nachhalls solcher Ansprüche wichtig gewesen; zur Roten Reiterarmee von 1920 steht bei diesem knapp: "Mehrere Schichten: Angeberei, Verwegenheit, Professionalismus, revolutionäre Einstellung, viehische Grausamkeit. Wir sind die Avantgarde, aber wovon?" (17) Getraut hat sich auch Kocherscheidt vieles, den Mut dazu hat er bei anderen in der Kunst Tätigen vermisst oder respektiert, Zustände konnten seinen heftigen Zorn erregen, pathetische Wir-Gefühle mussten dem Einzelgänger hingegen verdächtig sein. Toleranz forderte er im Umgang untereinander, in der Kunst jedoch, so war er überzeugt, habe niemand etwas davon. Das in Österreich hingenommene öffentliche Klima hat er zeitlebens als bedrückend, vielfach als neuerlich enger werdend empfunden; über dessen in Kärnten, wo er aufgewachsen ist, üblichen Zuspitzungen sei das nur besonders deutlich geworden. "Heute hörst du ja Sprüche, das ist unvorstellbar", sagte er mir in einem 1986 publizierten Gespräch (18), "es ist kaum zu glauben, was sich dort für Gedankengänge finden und wie dünn die Auflehnung dagegen ist." Seine Sanktionen, und damit war er nicht allein, bestanden in entschiedener Distanz zu den Derartiges duldenden Kräften, lange bevor solche Phasen sogar international angebracht schienen. Geprägt haben ihn soziale Problemzonen ganz anderer Dimension, seine zwei Jahre in England, in der brutalen Atmosphäre des Londoner East End, und das eine Jahr in Lateinamerika; dort lernte er "den Mechanismus in einer sehr direkten Weise" zu verstehen.

Für sein Arbeitsverständnis hatte das nachhaltige Folgen. "Wenn ich den Künstler überhaupt definiere", bemerkte er dazu, "dann am ehesten als eine Person, die es sozusagen mit ihrem Beruf verbindet, ständig die eigene Situation zu überdenken, sie pausenlos zu analysieren, sie pausenlos ‚zu bearbeiten'. Angesichts der Bedrohung ringsum ist man ja dauernd verführt, alles aufzugeben, alles als sinnlos einzustufen. Man muss aber - eben als Gegenkraft - konsequent dranbleiben an seiner Sache, selbst wenn es morgen aus wäre." Er wollte Klärungen, die weitere Schritte vorbereiten. Anklänge an den in katholisch geprägten Regionen angeblich mentalitätsbedingten, also unvermeidlichen Kult um Schmerz, Tod, Selbstmitleid, um den Körper und dessen Verfall waren nicht seine Sache, obwohl seit jungen Jahren eine Herzkrankheit sein Leben bedroht und schließlich früh beendet hat. Rückhalt hat ihm geboten, dass sein Werk vom Morat Institut in Freiburg vorbildlich und ruhig betreut worden ist. Die Phase, als sich 1992, mit der Teilnahme an der documenta 9, ein intensiviertes Vordringen auf internationale Beachtungsebenen abzeichnete, hat er, zu diesem Zeitpunkt längst einer der bedeutendsten von Wien aus wirkenden Künstler, nur um einige Monate überlebt. Dass er noch höchst Überzeugendes zustande gebracht hätte, reduzierte sich damit zu sinnlos-theoretischer Gewissheit.

"Literarische Malerei" sei ihm immer unmöglicher geworden, lautet eine seiner Wegbeschreibungen, alles Ästhetisch-Spielerische wollte er überwinden, "auch den Pinselstrich als solchen", zugunsten "einer strengen Form". "Ich fange oft mit einer gewissen Ornamentik an - sehr häufig in Schwarzweiß -", so seine Charakterisierung späterer Arbeitsweisen, die auf eine "möglichst essenzielle Aussage in einer reinen Sprache" abzielen, "und mache sie immer mehr zu, überdecke ihre Kompliziertheit, bis übrig ist, was übrig bleiben soll".

Ein sonst nur aus der russischen Literatur gekanntes Dasein, wie er manchmal ironisch hervorhob, ermöglichte immer wieder das nach seinen Vorstellungen ausgebaute Atelierhaus im Burgenland, gemeinsam mit der Frau seines Lebens, der Fotografin Elfie Semotan, und den beiden Söhnen. Die oft ergänzten Ausbesserungsflächen aus Asphalt, die auf der schmalen Straße dorthin zu sehen sind, hat er begeistert kommentiert, als Beispiel einer direkten, harten, materiellen Malerei, die für sich steht, einfach da ist, als anonymes Finalstadium gewissermaßen. Meinen solche Gedanken weiterführenden Text für die Budapester Ausstellung 1989, im Jahr der Wende, hat er von der Richtung her zutreffend gefunden. "Bevor ihn Intellektualität zu Spitzfindigkeiten verführt", heißt es dort, "rettet er sich in Zähigkeit. Diese Zähigkeit wird überall sichtbar. Mit Bitternis will sie nichts zu tun haben. So entstehen Formen jenseits von Erinnerung und Erfindung. Dumpfe, dunkle, trübe, undurchsichtige Farben drücken Lichtverhältnisse aus, wie sie vor oder nach irgendwelchen Elementarereignissen herrschen dürften. Die schwarz-braun-grauen Flächen können Himmel, Erde, Wasser, Finsternis und kosmische Fremdheit oder etwas völlig Unbestimmbares und damit Unerreichbares sein. Als Umgebung drängen sie sich ganz nah an jene Gegenstände heran, die gerade sichtbar sind. An dieser - oft durchdringenden - Nähe aber ist nichts Bedrohliches. Angst wird entwertet, neutralisiert; dem Chaos mit durchdringender Wärme die Destruktivität genommen. Spröde, mit groben Pinselstrichen gesetzte Farbschichten lassen Spuren erfolgter Reduktionen durchscheinen. Die Oberflächen wollen sich nicht von provisorischer Anstreicherarbeit unterscheiden." (19)

In seinen mysteriösen Elementarbildern, Landschaftsfragmenten, Objektfigurationen, Gedankengittern, Durchblicken geht es nur indirekt um Natur - um eine Natur ohne Menschen, eine ohne Menschen denkbare Welt. Gerade deren Abwesenheit im Bild gibt der Frage Gewicht, was eigentlich los ist, was da passiert. Im Versuch, menschliche Sichtweisen als solche zu negieren, also mit anderen Augen zu sehen, denen irgendeines Wesens zum Beispiel, drückt sich aus, wie um erweiterte Perspektiven gekämpft wird. Der Mensch selbst, als Generalisierung, hat keinen Vorrang, sondern Subjektives und "das Ganze", als Gegenüber, um beider Fragilität und Fragwürdigkeit nachzuforschen. Nabokovs feiner künstlerischer Punkt, an dem "Großes verkleinert und Kleines vergrößert" wird, radikalisiert sich. Das denkende Auge selbst wird zum Mikroskop, zum Teleskop, zum unbekannten Gerät - und sogar das ist erst ein Anfang. Kocherscheidts Weltbilder mit ihren Dimensionsverzerrungen und sonderbaren Formen nehmen unbekannte Standorte ein, um Vertiefungsperspektiven, um Körper-Fläche-Relationen als irritierende Augenblicke präsent zu machen. Der Impuls, von einer Situation der Unentscheidbarkeit, der Schwebezustände aus, den Gesetzen der Natur und der Natur des Menschen, des einerseits zu allem fähigen, andererseits angeblich einzig verantwortlich handelnden Wesens, weitere Zwischenstadien vorzuhalten, führte zu Bildern, die solche Zugänge in gedanklich magnetisierte Andeutungen und Zeichen fassen, trotz aller Erfahrungen mit Vergeblichkeit. Assoziationen von Endzeitzuständen, die vom Menschen entfesselten Naturkräften zuzuschreiben sind, wie in Andrej Tarkovskijs Film "Stalker" (1979), bedarf es bei ihm dazu nicht - sie würden inhaltlich zu viel präjudizieren. Wenn alles gesagt, schon einmal gemacht zu sein scheint, so die begleitende Stimmung, bleibe nur ein Vertrauen ins eigene Zweifeln, das Übertragen solcher Verunsicherungen. Perfektion anzustreben wäre absurd, sie ist der Feind. Es geht Kocherscheidt nicht um ein "Fertigmachen"; "stimmen" müsse etwas auf andere Weise. Seine formalen Lösungen halten mit ihrer Auflösung Kontakt, wehren sich aber gegen sie und jedes Einordnen. Von den verwendeten Farben lassen sich viele nur höchst ungefähr benennen. Plötzlich tauchen wieder kräftige helle Töne auf. Längst schon gibt es keinen Horizont mehr. Im "Augenecho" von 1985, mit großformatigen Sehflecken, Blickpunkten, Augäpfeln, die auch Himmelskörper sein könnten, scheinen sich Mikro- und Makrokosmos gleichzeitig als sphärischer Klang Gehör zu verschaffen. Mit schwerem Schwarz Zugedecktes lässt irgendetwas durchschimmern, wie im Triptychon "Große Teichruhe" von 1987. Die Fassungen von "Im Raum drinnen", "Das Schwarze Meer" oder "Chinesische Mitte" (alle 1991) konfrontieren einen mit nie gesehenen Körpern, deren Magie sich jeder Wiedererkennbarkeit entzieht. Jedenfalls: Von Rückseiten, Unterseiten, aus Innenräumen, aus unbekannten Zonen wird Verborgenes hervorgeholt, hypothesenhaft. Dass es dennoch so bestimmt Form annimmt, provoziert. Auf die Gewöhnung an eine verkehrte Wahrnehmung antwortet er mit seltsam veränderlicher, durchlässiger Statik. Vieles scheint aus einer anderen Welt, aus vielen anderen Welten zu stammen.

Natur hat ihn als Gegenmacht, nicht als Zuflucht interessiert; ihrer Fremdheit wegen. Wo sich Elementares zeigt, als Felsformation, Lava, Wurzelwerk, in verwitterten Oberflächen, in kleinsten Details, ist ihm ihr langatmiges, schweigendes Erzeugen, Verändern - und Zerstören - besonders nahe gegangen. Weil einem keine von irgendjemand gestalteten Gegenstände vorgesetzt werden, seien ihre Formen und Unförmiges eben in der Lage, so sein Zugang, dem eigenen, viele Empfindungen und Einflüsse transportierenden Blick Unbenennbares, im Wortsinn Unbeschreibliches jenseits von Spracherfahrungen greifbarer zu machen. Ihm selbst ging es klarerweise um Künstliches, um erkennen statt nachahmen. Er wollte in der Arbeit konkreter und komplexer, nicht fiktiver werden. Über sein Operieren zwischen den Sphären sollte ein Vordringen in zu erforschende Zonen jenseits von bereits Aufgeklärtem gelingen. Davon abzulassen würde diversen Mächten recht sein; sich nicht restlos Verstehbarem zu widmen und an sich selbst zu arbeiten, gebe der Kunst ihre eigentliche gesellschaftliche Funktion, hat er immer wieder betont.

Wie Gottfried Boehm in einem wichtigen Aufsatz (20) zur Kocherscheidt-Ausstellung im Museum des 20. Jahrhunderts in Wien (1986) hervorhob, habe dieser irgendwann "die Natur als Instanz" entdeckt, als "unbeherrschbare Größe, die nicht darin aufgeht, menschlicher Arbeit willig den Rohstoff zu liefern"; sein Blick sei auf "die Rückseite der Welt" gerichtet gewesen, um sie "in der Ansicht der Dinge zu erfassen", "auf jene Seite des Wirklichen, die wir sehend nicht vor uns bringen können". Wegen der "Disharmonie zwischen Innen und Außen" würden die Bilder "zu Orten der Überprüfung, des Kampfes, des Scheiterns". Heinz Liesbrock knüpft in einem Katalogtext (21) daran an und konstatiert: Kocherscheidt "will nicht von sich selbst sprechen, sondern von einer Begegnung mit der Welt"; "jenes Gegenüber, das der Maler in der empirischen Welt nicht findet, hat er sich im Bild selbst zu schaffen", "um eine möglichst dichte Entsprechung seiner inneren Wirklichkeit zu finden", als "Zwiegespräch mit der Welt", das alle seine Versuche suchen. Mit Unterhaltung, ließe sich hinzufügen, haben solche Unterhaltungen wenig zu tun, obwohl sich vieles um durchaus Alltägliches dreht. Eines tatsächlichen Sprechens, in welcher Sprache auch immer, bedarf es dazu nicht unbedingt; sich treffende Blicke können von viel stärkerer Intensität sein.

Dem in sich rotierenden Gerede um die Unausweichlichkeit ästhetisierender Wirkungen von Kunst, um ein Ende der Malerei, des abgegrenzten Bildes, setzte Kocherscheidt seine Art spröder Subversion entgegen. Farbe war ihm Material für Experimente mit physikalisch-mentalen Wirkungen. Dass lange Jahre jemand, der malte, "sowieso nicht auf dem richtigen Dampfer" war und nur Einzelgänger "trotz des ‚Malverbots'" weitertaten - Aussagen, die von ihm sein könnten, aber von Gerhard Richter (22) und Per Kirkeby (23) stammen -, hat ihn nicht dauerhaft zu irritieren vermocht. Richter fand es für ein Bild übrigens gut, "wenn alle Schichten stehen bleiben, sodass man alles noch sieht, wenn eine Räumlichkeit entsteht, die die Vielseitigkeit und Kompliziertheit zulässt" (24). Und Per Kirkeby fiel an den eigenen Übermalungen auf, "dass die darunter liegende Struktur immer durchbricht, auch wenn eine neue Schicht ein ganz anderes Motiv und eine ganz andere Farbe hat"; Zonen "zwischen Natur und Kunst, halb der einen, halb der anderen Welt zugehörig, unterwegs zwischen Zuständen" (25), haben es ihm besonders angetan. Von den Denkweisen und Absichten her verschränken sich solche Vorstellungen mit jenen Kocherscheidts, die unterschiedlichen Resultate wiederum verschränken sich über Qualität, also ihre Überzeugungsgeheimnisse, ihre Reflexionskraft. Er selbst hat sich gesprächsweise eher auf die Konsequenz und Reinheit bei Zubarán, die Verschlüsselungen von Velasquez oder auf Goyas "Desastres de la Guerra" bezogen; ein besonderes Naheverhältnis verband ihn, wie Elfie Semotan sich erinnert, mit den Auffassungen von Robert Motherwell und dessen Umgang mit Flächen, hart abgegrenzten Schwarz-Weiß-Formen, Übergängen von Statik zu Fließendem. In den Skulptur-/Objekt-Formationen der letzten Jahre ging es auch ihm offensiver um Raumgewinn. Diese extremen Reduktionen aus rohen Brettern und Balken machen statt Farbe deren Material selbst zum bestimmenden Moment. Sie sind das, was sie sind, lehnen sich höchstens noch beiläufig an irgendeine Wand. Sockel gibt es nicht. Trotz der faktischen und nachdenklichen Schwere der großformatigen Bilder und Objekte strahlen sie innere Leichtigkeit aus, gespeicherte Energie, eine Eigendynamik, die in Bewegung umschlagen könnte. Er selbst hat das, wie schon erwähnt, als ihr Zurückschlagen empfunden. Seine oft geäußerte Behauptung, er tue das alles, weil er nicht anders - oder nichts anderes - könne, überträgt sich eindrucksvoll auf die Werke, als sich vom Urheber lösende, längst zu selbständigen Kräften gewordene Dinge. Vom ihn persönlich betreffenden Unterton bleibt nur ein Echo.

Zu den Richtungen, denen Kurt Kocherscheidt in seinem Denken so unbeirrbar gefolgt ist, heißt es in einem noch oder bewusst holprigen Briefentwurf von Isaak Babel: "... die einen werden die Revolution machen, und ich werde, werde das besingen, was sich abseits befindet, das, was tiefer sitzt, ich habe gespürt, dass ich das können werde, dafür wird Zeit sein und auch Raum." (26)

 

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Schriftliche Quellen

  1. Vladimir Nabokov: Erinnerung, sprich (1966). Reinbek bei Hamburg 1991, S. 226.
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  2. Ibid., S. 294.
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  3. Igor Strawinsky: Schriften und Gespräche I (Musikalische Poetik, 1939/49). Mainz 1983, S. 196.
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  4. Ibid., S. 212.
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  5. Die Memoiren des Dimitrij Schostakowitsch. Herausgegeben von Solomon Volkow, Frankfurt am Main 1981, S. 202.
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  6. Ibid., S. 71.
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  7. Ibid., S. 175.
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  8. Ibid., S. 227, 132.
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  9. Ibid., S. 230.
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  10. Ibid., S. 232.
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  11. Ibid., S. 233.
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  12. Kurt Kocherscheidt: "Das fortlaufende Bild", in: Kurt Kocherscheidt. Salzburg/Wien 1992, S. 14.
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  13. Arnold Schönberg - Wassily Kandinsky. Herausgegeben von Jelena Hahl-Koch, Salzburg/Wien 1980, S. 19.
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  14. Wolfgang Rihm in: Brustrauschen. Zum Werkdialog von Kurt Kocherscheidt und Wolfgang Rihm. Herausgegeben von Heinz Liesbrock, Ostfildern-Ruit 2001, S. 75, 79, 78, 87 (zit. nach: Wolfgang Rihm: Ausgesprochen. Schriften und Gespräche. Herausgegeben von Ulrich Mosch, Winterthur 1997, Bd. 1 und 2).
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  15. Kurt Kocherscheidt in: Kurt Kocherscheidt. Salzburg/Wien 1992, S. 5.
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  16. Nikolai A. Nekrassow in: Die Memoiren des Dimitrij Schostakowitsch. Herausgegeben von Solomon Volkow, Frankfurt a. M. 1981, S. 312.
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  17. Isaak Babel: Tagebuch 1920. Herausgegeben von Peter Urban, Berlin 1990, S. 54f.
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  18. Dieses und die folgenden Zitate aus: "Bis übrig ist, was übrig bleiben soll. Kurt Kocherscheidt im Gespräch mit Christian Reder", in: Falter, Wien, Nr. 23/1986.
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  19. Christian Reder: "Härte, Distanz und Nähe. Über Kurt Kocherscheidt", in: Ausstellungskatalog "Land in Sicht. Österreichische Kunst im 20. Jahrhundert". Mücsarnok [Kunsthalle] Budapest (dt./ung.), Wien/Budapest 1989, S. 161ff. Nachdruck in: Kurt Kocherscheidt, Ausstellungskatalog Wiener Secession, Wien 1992.
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  20. Gottfried Boehm: "Die Rückseite der Welt", in: Kurt Kocherscheidt. Bilder 1976-1986. Morat Institut und Museum des 20. Jahrhunderts Wien. Waldkirch 1986, S. 17ff. Nachdruck in: Kunstforum, Köln, Bd. 89, 1987.
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  21. Heinz Liesbrock: "Bildgewinn - Bildverlust", in: Kurt Kocherscheidt. Bilder 1987-1992 und Fotografien aus Südamerika. Westfälischer Kunstverein, Münster 1994, S. 9ff.
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  22. Gerhard Richter in: Werner Krüger, Wolfgang Pehnt: Künstler im Gespräch. Köln 1984, S. 125.
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  23. Per Kirkeby im Gespräch mit Siegfried Dohr. Köln 1994, S. 23.
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  24. Gerhard Richter in: Werner Krüger, Wolfgang Pehnt: Künstler im Gespräch. Köln 1984, S. S. 122.
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  25. Per Kirkeby: Übermalungen 1964-1984. München 1984, S. 1f. (zit. nach: Per Kirkeby: Bravura. Bern-Berlin 1984).
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  26. Isaak Babel: Tagebuch 1920. Herausgegeben von Peter Urban, Berlin 1990, S. 159.
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