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www.ChristianReder.net: Publikationen: Forschende Denkweisen: Vorwort
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Springer Wien New York
   

Forschende Denkweisen
Essays zu künstlerischem Arbeiten

Springer Wien New York 2004


 

Vorwort: Schauen, sprechen, schreiben
Transfers zwischen Verbalem und Nonverbalem


Die in diesem Band enthaltenen Essays sind „einfach“ aus einem Interesse für künstlerisches Arbeiten entstanden; von Positionen der Kunsttheorie, der Kunstkritik, der Kunstgeschichte aus würde vermutlich oft anders argumentiert. Die Arbeitsweisen, die Denkweisen stehen im Vordergrund.

Es sind subjektive Zugänge zu Transformationen, zu Präzision, Gründlichkeit, Komplexität, zum Akzeptieren oder Brechen von Regeln, von Abfolgen, die jeweils über – letztlich uneingrenzbare – Felder von Kunst, als Beschäftigung mit Unverständlichem, Undefiniertem, anders nicht Darstellbarem, hinausweisen. Solchen Bezugsebenen wird nachgeforscht, mit Blick auf längere Zeiträume. Argumentations- und Theorienetze, die sich aus konkretem Tun ergeben, neue Realitäten schaffend, ohne sich gleich vorgegebenen Paradigmen zu fügen, werden dabei für wichtiger gehalten als jedes begleitend-retrospektive Einordnen. Differenzen zu geläufigen Arbeitssituationen sind offensichtlich, dennoch bildet Freischaffendes im wörtlichen Sinn den mitgedachten sozial-ökonomischen Hintergrund.

„Damit etwas weitergeht“, ist seit den 1960er Jahren ein ständiger Spruch in unseren stark von Künstlern und Künstlerinnen geprägten Freundeskreisen gewesen. Lakonisches blieb ständig präsent. Vieles dreht sich um Selbstverständliches, um dessen permanente Neufestlegung und damit um freies Arbeiten, um Kunst und kulturell relevantes Produzieren. Andere Zonen waren längst nicht so attraktiv, schon angesichts des Gesprächstons dort und anders genormter Verhaltensweisen. Der sich seit der genannten Phase ausweitende persönliche Erfahrungsraum spiegelt sich auch in den Texten wider. Die meisten Beteiligten stehen seit damals, zumindest aber seit vielen Jahren in Kontakt. Werke von ihnen gehören zur unmittelbaren Arbeits- und Wohnumgebung von meiner Frau Ingrid Reder und mir. Damit eine solche täglich erlebte Kontinuität in diesem Band präsent ist, sind den Textabschnitten daraus ausgewählte Arbeiten vorangestellt. Hinzugekommen ist im Lauf der Zeit, was wir, so wie Bücher, gebraucht haben. In gewissem Sinn sind die Texte Abstraktionen dieser Intimität.

Vom Schauplatz Wien ist ein derartiges, von sich verändernden Naheverhältnissen geprägtes Umgehen mit Personen und Werken nicht zu trennen; die Stadt ist so, wie sie ist, und hat eben bestimmte Beziehungen begünstigt. Sie schlicht als geografische Schnittstelle zu sehen (ungefähr 48,2 Grad Nord, 16,4 Grad Ost) schiebt Lokalkolorit in den Hintergrund. Gleichsam als Ausgleich zur daher drohenden Einengung schweifen in den Texten die Gedanken bis nach Südamerika, in biblische Wüsten, nach Russland, nach Paris, New York, in den Weltraum oder zur Felsbildkunst der Frühgeschichte.

Dass die Buchgestaltung in freundschaftlicher Weise Walter Pichler übernommen hat, bestätigt eine Praxis durch Zeichensetzung; denn er war maßgeblich daran beteiligt, dass sich mein ursprünglich – auch von der Sprache her – auf Konzepte, Reformpapiere und Gutachten orientiertes Nützlichkeitsdenken um Essayistisches erweiterte, indem er den hier enthaltenen Text zu seiner Arbeit angeregt hat. Seine Zeichnung „Raum in einem Felsen“ von 1970 (als Ausschnitt für den Buchumschlag verwendet) ist ein zentrales Stück unserer überschaubaren Ansammlung von Kunstwerken geblieben. Dieser Raum scheint als Treffpunkt gedacht, als Forschungsstation, als Observatorium, als frei zugänglicher Ort für Intensität. Im Inneren müsste etwas passieren. Aus Pichlers Techno-Labor der früheren Jahren ist eine Enklave geworden, eine herausgearbeitete Negativform. Die Ausblicke verbinden mit der Unendlichkeit des Außen, der Welt, sollen aber nicht ablenken. Der gebotene Schutz ist fragwürdig. Keine der Öffnungen lässt sich verschließen. Ein Kommen und Gehen ist jederzeit möglich. Vorstellungen von aufgelassenen Bunkern werden präsent. Eremiten würden anders hausen. Als auf den Lichteinfall bezogene Skulptur verbindet dieser Innenraum die Statik der Situation mit dem Wechsel der Verhältnisse, mit dem Licht, mit dem Ablauf der Zeit, mit der vierten Dimension. Schon deswegen geht es nicht um Zeitlosigkeit. Was Menschen dort tun könnten, bleibt offen. Es sind gerade keine da. Vielleicht existieren sie auch nicht mehr.

Mit diesem Rückbezug ist auch angesprochen, dass es sich um verstreut erschienene Texte aus knapp zwanzig Jahren handelt, also um zeitlich nur bedingt an heutige Aktualitäten gebundene Sichtweisen. Die Initiative zu ihnen ist fast durchwegs von den Beschriebenen ausgegangen. Offensichtlich waren sie an einer fachlich nicht zu eingegrenzten Wahrnehmung interessiert. Meine grundsätzliche Absicht, etwas schriftlich zu fassen zu kriegen, ohne es gefangen zu nehmen, geschweige denn ungerecht zu behandeln, dürfte solche Kooperationen begünstigt haben. Neu und ohne Auftrag entstanden sind Beiträge zu Brigitte Kowanz, Maria Lassnig und Dieter Roth. Das älteste abgebildete Werk stammt von Maria Lassnig (1949), das jüngste von Brigitte Kowanz (2002). Das skizziert auch den Denkraum, um den es geht; die eigene bisherige Lebensspanne, die Jahrzehnte nach dem letzten Weltkrieg.

Zeichnungen hatten dabei immer eine besondere Bedeutung, als Skizze, bevor ein Gestaltungsdruck einsetzt, als Anfang überhaupt, als erster Schritt auf einer Fläche, von der es dann oft ins Drei- und Vierdimensionale, bis hin zur Skulptur, zu Architektur, zu sich bewegenden Lichtsituationen weiterführt. Das in Sparten abzugrenzen, ist mir stets als letztlich denk- und praxisfremd erschienen. Spezialisierung, die nicht mit ihren Grenzen kämpft, verliert sich irgendwo im Inneren. Daher sind auch alle in diesem Band Vertretenen nicht abgezirkelten Gebieten zuordenbar.

Kurt Kocherscheidt hat Bilder zu Skulptur erweitert, Brigitte Kowanz zu Lichträumen, Coop Himmelb(l)au zur Umsetzung von „Architektur muss brennen“, „From Cloud to Cloud“, als „Transitory Buildings“. Gerald Zugmann hat seinen Blick als Fotograf so weit perfektioniert, dass er „das Auge“ genannt wird. Günther Domenig braucht das Weiterdenken an seinem „Steinhaus“ als Gegengewicht zu beauftragten Megastrukturen. Eichinger oder Knechtl bestärken über Detaileingriffe Verhaltens- und Empfindungsstrukturen, so wie Helmut Lang dies durch Kleidung tut; das Unsichtbare ist ihm daran das Wichtige. Maria Lassnig macht komplizierte Dimensionen des Körperlichen in der Malerei, der Zeichnung, im Film kenntlich. Béatrice Stähli präzisiert den Umgang mit anderen Arten von Leben, mit Tieren eben, mit Vögeln. Christian Ludwig Attersee wäre ohne seine insistierende Abwehr von Leiden und seine Leidenschaft für Musik ganz woandershin gelangt. Alfons Schilling hat sich, nach energetischen Bildentgrenzungen, auf den Sehvorgang selbst konzentriert. Bruno Gironcoli baut, ohne sich um Aufmerksamkeit viel zu kümmern, an seinen freundlich-monströsen Objektwelten weiter. Dieter Roth hat die exzessive Vielfalt von Veränderlichem zu seinem Lebensthema gemacht, Walter Pichler Utopisches in Archaisches zurückgewendet, als Radikalisierung von Zeitvorstellungen.

Zur Sprache gebracht haben wir davon schon früher einiges; „Mit dem Kopf durch die Leinwand“ hieß ein nach seiner Rückkehr aus New York publiziertes Gespräch mit Alfons Schilling, „Bis übrig ist, was übrig bleiben soll“ eines mit Kurt Kocherscheidt. Mit Christian Ludwig Attersee diskutierte ich sein Thema „Religion ist eine Degeneration von Kunst“, mit Harald Szeemann dessen konzeptionelle Vorstellungen. Gespräche mit in diesem Band vertretenen Künstlern sowie mit Peter Weibel, Oswald Oberhuber, Arnulf Rainer, Raimund Abraham, Hermann Czech, Peter Gorsen, Cathrin Pichler, Wilhelm Holzbauer, den Museumsdirektoren Peter Noever und Dieter Ronte habe ich 1988 als „Wiener Museumsgespräche“ herausgegeben, um mit künstlerischen Argumentationen zu den damals voll anlaufenden Planungen zum Wiener Museumsquartier und zur Erneuerung von Kunstinstitutionen beizutragen – andere als die eingeschlagenen Richtungen skizzierend.

Die in diesem Band enthaltenen (wenn nicht anders angemerkt unverändert gebliebenen) Essays verstehe ich als Transfers zwischen verbalem und nonverbalem Gestalten. Künstler und Künstlerinnen „zu Wort kommen lassen“, wäre ein absurd-überheblicher Anspruch; im Kern geht es um schauen, sprechen, zuhören, lesen, schreiben. Selbstinterpretationen der eigenen Arbeit sind nicht unbedingt treffender als jene durch andere. Wird das akzeptiert, beginnen sich bereits einander überschneidende Reflexionsräume zu bilden, inklusive aller Gefahren, dass angereichertes Wissen wieder verarmt, in Besserwissen erstickt. Zeigen und Schweigen ist nur eine der Möglichkeiten. Gedanken anderer können einen auf andere Gedanken bringen, etwa wenn Walter Pichler in meinem Text zu seiner Arbeit konstatiert: „Am Vormittag glaubst du an etwas, am Nachmittag bist du schon wieder ungläubig, jedem Glauben kannst du mit kaltem Rationalismus antworten und beidem wiederum mit Ironie. Und doch braucht man über lange Zeit hinweg eine eigenständige Konsequenz, um das dann genau zu formulieren, und ebenso ein Erinnerungsvermögen, weil doch jeder irgendwo herkommt und das in ihm etwas auslöst.“ Bruno Gironcolis Aussagen wiederum verdeutlichen, wie sehr er den unmittelbaren Vorgängen beim Arbeiten vertraut: „Ich hätte immer nur über das Ding eine Antwort auf diese Welt treffen können, nie über meine Person selber. / Mir ging es um eine Ausschließlichkeit ohne viel Gebärden, um einen Gegenstand, der so einfach und still und unattraktiv, so rau und zackig wie möglich sein sollte. / Ich wollte immer wieder etwas finden, das ganz in der Stille seiner eigenen Aura zu Hause ist und nichts nach außen Weisendes in sich zeigt. / Es ging mir darum, Schönheit in etwas zu suchen, das ohne viel Artikulation seine Existenz hat. / Mich hat immer der Sachverhalt beim Machen interessiert, dieses unmittelbare Geschehen, und nie das Mittelbare der Interpretation.“
Ein in diesem Band zitiertes Statement von Kurt Kocherscheidt sagt es wieder ganz anders: „Ich verstehe die Entwicklung eines Bildes als Fluss von Bildern, der beinahe beliebig angehalten wird. / Eine Idee oder auch nur ein Gedanke wird aufgerissen, verdichtet und überlagert, zersplittert und wieder zusammengefasst, zurechtgerückt. In dem Augenblick, in dem ein kurzer Verlust der Kontrolle eintritt, eine kleine Wendung vorgenommen wird, die das lähmende Fixiertsein unterbricht, mit einem Wort, wenn das Bild selbständig wird, eine Gelegenheit findet zurückzuschlagen, ist ein guter Moment gekommen aufzuhören.“

In den eigenen Texten wird versucht, etwa in Bezug auf Architektur, Denkprozessen Kontur zu geben: Jedes Modell von Coop Himmelb(l)au, heißt es über deren Arbeitsweise, lässt Raum für unzählige Modelle, als Schichten, als Potenzial, als gebaute Offenheit. Die konzipierten architektonischen Situationen als solche ermöglichen Einblicke, Durchblicke, Ausblicke. Energie, in ihren uferlosen, auch sehr persönlichen Dimensionen, ist ein wichtiges Thema. Räume verdrehen sich so, als ob die Schwerkraft aufgehoben wäre, auch die Schwerkraft des Denkens.

Auf künstlerische Raumsituationen bezogen, werden gespeicherte Transferpotenziale skizziert: Zahlenrelationen, Codes, das Morsealphabet verwendet Brigitte Kowanz als Andeutung, dass sie weitläufige, durch Zeichen markierte Bereiche nicht künstlich begrenzen will. Wenn formale Geschlossenheit entsteht, bleibt diese gedanklich für unendlich Vernetztes offen. Verborgenes, Unmerkliches wird wichtig. Das anscheinend Immaterielle des Lichts überstrahlt die materiellen Begrenzungen ihrer Objekte. Sie gehen auf im Raum, verändern ihn. Indem Gesetzmäßigkeiten visualisiert werden, zeichnen sich Verbindungen mit der Welt, mit Vorstellungsräumen ab.

Es entsteht – was für viele solcher Versuche gelten könnte – ein eigenes Bild von der Lage der Dinge: Bearbeitet wird, was noch nicht gewusst werden kann. Bearbeitet wird, was sich anders nicht herausfinden lässt. Künstlerisches Arbeiten erhöht Komplexität, macht Aspekte davon auf sehr spezifische Weise kenntlich, als Befragung von Wahrnehmungsfähigkeit. Dabei forschende Denkweisen zu betonen, könnte – weil selbstverständlich – überflüssig sein, wenn nicht unter Forschung ständig ganz anderes gemeint wäre.

 

zum Thema:


Bis übrig ist, was übrig bleiben soll
Gespräch mit Kurt Kocherscheidt
Falter, Wien, Nr 23/1986
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Rund um den Nullpunkt
Gespräch mit Raimund Abraham
(mit Dietmar Steiner)
Falter, Wien, Nr 13/1986

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Würde und Wirklichkeit
Zu Besuch im Wiener Völkerkundemuseum
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Gegen die "Post"-Moderne
Ausstellung Friedrich Achleitner
Falter, Wien, Nr 6/1985

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Im Gespräch mit Ursula Pasterk
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Falter, Wien, Nr 25/1984
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Falter, Wien, Nr 2/1984
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Gespräch mit Harald Szeemann
(mit Markus Brüderlin)
Falter, Wien, Nr 19/1983
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Der Mensch im Kosmos sucht in Wien ein Zimmer
Museumsquartier-Debatte
Falter, Wien, Nr 22/1983
(Nachdruck in: Kaiserforum, Museumsinsel, Kulturpalast. Wien 1986)
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