Vorwort: Schauen, sprechen, schreiben
Transfers zwischen Verbalem und Nonverbalem
Die in diesem Band enthaltenen Essays sind „einfach“
aus einem Interesse für künstlerisches Arbeiten
entstanden; von Positionen der Kunsttheorie, der Kunstkritik,
der Kunstgeschichte aus würde vermutlich oft
anders argumentiert. Die Arbeitsweisen, die Denkweisen
stehen im Vordergrund.
Es sind subjektive Zugänge zu Transformationen,
zu Präzision, Gründlichkeit, Komplexität,
zum Akzeptieren oder Brechen von Regeln, von Abfolgen,
die jeweils über – letztlich uneingrenzbare
– Felder von Kunst, als Beschäftigung mit
Unverständlichem, Undefiniertem, anders nicht
Darstellbarem, hinausweisen. Solchen Bezugsebenen
wird nachgeforscht, mit Blick auf längere Zeiträume.
Argumentations- und Theorienetze, die sich aus konkretem
Tun ergeben, neue Realitäten schaffend, ohne
sich gleich vorgegebenen Paradigmen zu fügen,
werden dabei für wichtiger gehalten als jedes
begleitend-retrospektive Einordnen. Differenzen zu
geläufigen Arbeitssituationen sind offensichtlich,
dennoch bildet Freischaffendes im wörtlichen
Sinn den mitgedachten sozial-ökonomischen Hintergrund.
„Damit etwas weitergeht“, ist seit den
1960er Jahren ein ständiger Spruch in unseren
stark von Künstlern und Künstlerinnen geprägten
Freundeskreisen gewesen. Lakonisches blieb ständig
präsent. Vieles dreht sich um Selbstverständliches,
um dessen permanente Neufestlegung und damit um freies
Arbeiten, um Kunst und kulturell relevantes Produzieren.
Andere Zonen waren längst nicht so attraktiv,
schon angesichts des Gesprächstons dort und anders
genormter Verhaltensweisen. Der sich seit der genannten
Phase ausweitende persönliche Erfahrungsraum
spiegelt sich auch in den Texten wider. Die meisten
Beteiligten stehen seit damals, zumindest aber seit
vielen Jahren in Kontakt. Werke von ihnen gehören
zur unmittelbaren Arbeits- und Wohnumgebung von meiner
Frau Ingrid Reder und mir. Damit eine solche täglich
erlebte Kontinuität in diesem Band präsent
ist, sind den Textabschnitten daraus ausgewählte
Arbeiten vorangestellt. Hinzugekommen ist im Lauf
der Zeit, was wir, so wie Bücher, gebraucht haben.
In gewissem Sinn sind die Texte Abstraktionen dieser
Intimität.
Vom Schauplatz Wien ist ein derartiges, von sich
verändernden Naheverhältnissen geprägtes
Umgehen mit Personen und Werken nicht zu trennen;
die Stadt ist so, wie sie ist, und hat eben bestimmte
Beziehungen begünstigt. Sie schlicht als geografische
Schnittstelle zu sehen (ungefähr 48,2 Grad Nord,
16,4 Grad Ost) schiebt Lokalkolorit in den Hintergrund.
Gleichsam als Ausgleich zur daher drohenden Einengung
schweifen in den Texten die Gedanken bis nach Südamerika,
in biblische Wüsten, nach Russland, nach Paris,
New York, in den Weltraum oder zur Felsbildkunst der
Frühgeschichte.
Dass die Buchgestaltung in freundschaftlicher Weise
Walter Pichler übernommen hat, bestätigt
eine Praxis durch Zeichensetzung; denn er war maßgeblich
daran beteiligt, dass sich mein ursprünglich
– auch von der Sprache her – auf Konzepte,
Reformpapiere und Gutachten orientiertes Nützlichkeitsdenken
um Essayistisches erweiterte, indem er den hier enthaltenen
Text zu seiner Arbeit angeregt hat. Seine Zeichnung
„Raum in einem Felsen“ von 1970 (als Ausschnitt
für den Buchumschlag verwendet) ist ein zentrales
Stück unserer überschaubaren Ansammlung
von Kunstwerken geblieben. Dieser Raum scheint als
Treffpunkt gedacht, als Forschungsstation, als Observatorium,
als frei zugänglicher Ort für Intensität.
Im Inneren müsste etwas passieren. Aus Pichlers
Techno-Labor der früheren Jahren ist eine Enklave
geworden, eine herausgearbeitete Negativform. Die
Ausblicke verbinden mit der Unendlichkeit des Außen,
der Welt, sollen aber nicht ablenken. Der gebotene
Schutz ist fragwürdig. Keine der Öffnungen
lässt sich verschließen. Ein Kommen und
Gehen ist jederzeit möglich. Vorstellungen von
aufgelassenen Bunkern werden präsent. Eremiten
würden anders hausen. Als auf den Lichteinfall
bezogene Skulptur verbindet dieser Innenraum die Statik
der Situation mit dem Wechsel der Verhältnisse,
mit dem Licht, mit dem Ablauf der Zeit, mit der vierten
Dimension. Schon deswegen geht es nicht um Zeitlosigkeit.
Was Menschen dort tun könnten, bleibt offen.
Es sind gerade keine da. Vielleicht existieren sie
auch nicht mehr.
Mit diesem Rückbezug ist auch angesprochen,
dass es sich um verstreut erschienene Texte aus knapp
zwanzig Jahren handelt, also um zeitlich nur bedingt
an heutige Aktualitäten gebundene Sichtweisen.
Die Initiative zu ihnen ist fast durchwegs von den
Beschriebenen ausgegangen. Offensichtlich waren sie
an einer fachlich nicht zu eingegrenzten Wahrnehmung
interessiert. Meine grundsätzliche Absicht, etwas
schriftlich zu fassen zu kriegen, ohne es gefangen
zu nehmen, geschweige denn ungerecht zu behandeln,
dürfte solche Kooperationen begünstigt haben.
Neu und ohne Auftrag entstanden sind Beiträge
zu Brigitte Kowanz, Maria Lassnig und Dieter Roth.
Das älteste abgebildete Werk stammt von Maria
Lassnig (1949), das jüngste von Brigitte Kowanz
(2002). Das skizziert auch den Denkraum, um den es
geht; die eigene bisherige Lebensspanne, die Jahrzehnte
nach dem letzten Weltkrieg.
Zeichnungen hatten dabei immer eine besondere Bedeutung,
als Skizze, bevor ein Gestaltungsdruck einsetzt, als
Anfang überhaupt, als erster Schritt auf einer
Fläche, von der es dann oft ins Drei- und Vierdimensionale,
bis hin zur Skulptur, zu Architektur, zu sich bewegenden
Lichtsituationen weiterführt. Das in Sparten
abzugrenzen, ist mir stets als letztlich denk- und
praxisfremd erschienen. Spezialisierung, die nicht
mit ihren Grenzen kämpft, verliert sich irgendwo
im Inneren. Daher sind auch alle in diesem Band Vertretenen
nicht abgezirkelten Gebieten zuordenbar.
Kurt Kocherscheidt hat Bilder zu Skulptur erweitert,
Brigitte Kowanz zu Lichträumen, Coop Himmelb(l)au
zur Umsetzung von „Architektur muss brennen“,
„From Cloud to Cloud“, als „Transitory
Buildings“. Gerald Zugmann hat seinen Blick
als Fotograf so weit perfektioniert, dass er „das
Auge“ genannt wird. Günther Domenig braucht
das Weiterdenken an seinem „Steinhaus“
als Gegengewicht zu beauftragten Megastrukturen. Eichinger
oder Knechtl bestärken über Detaileingriffe
Verhaltens- und Empfindungsstrukturen, so wie Helmut
Lang dies durch Kleidung tut; das Unsichtbare ist
ihm daran das Wichtige. Maria Lassnig macht komplizierte
Dimensionen des Körperlichen in der Malerei,
der Zeichnung, im Film kenntlich. Béatrice
Stähli präzisiert den Umgang mit anderen
Arten von Leben, mit Tieren eben, mit Vögeln.
Christian Ludwig Attersee wäre ohne seine insistierende
Abwehr von Leiden und seine Leidenschaft für
Musik ganz woandershin gelangt. Alfons Schilling hat
sich, nach energetischen Bildentgrenzungen, auf den
Sehvorgang selbst konzentriert. Bruno Gironcoli baut,
ohne sich um Aufmerksamkeit viel zu kümmern,
an seinen freundlich-monströsen Objektwelten
weiter. Dieter Roth hat die exzessive Vielfalt von
Veränderlichem zu seinem Lebensthema gemacht,
Walter Pichler Utopisches in Archaisches zurückgewendet,
als Radikalisierung von Zeitvorstellungen.
Zur Sprache gebracht haben wir davon schon früher
einiges; „Mit dem Kopf durch die Leinwand“
hieß ein nach seiner Rückkehr aus New York
publiziertes Gespräch mit Alfons Schilling, „Bis
übrig ist, was übrig bleiben soll“
eines mit Kurt Kocherscheidt. Mit Christian Ludwig
Attersee diskutierte ich sein Thema „Religion
ist eine Degeneration von Kunst“, mit Harald
Szeemann dessen konzeptionelle Vorstellungen. Gespräche
mit in diesem Band vertretenen Künstlern sowie
mit Peter Weibel, Oswald Oberhuber, Arnulf Rainer,
Raimund Abraham, Hermann Czech, Peter Gorsen, Cathrin
Pichler, Wilhelm Holzbauer, den Museumsdirektoren
Peter Noever und Dieter Ronte habe ich 1988 als „Wiener
Museumsgespräche“ herausgegeben, um mit
künstlerischen Argumentationen zu den damals
voll anlaufenden Planungen zum Wiener Museumsquartier
und zur Erneuerung von Kunstinstitutionen beizutragen
– andere als die eingeschlagenen Richtungen
skizzierend.
Die in diesem Band enthaltenen (wenn nicht anders
angemerkt unverändert gebliebenen) Essays verstehe
ich als Transfers zwischen verbalem und nonverbalem
Gestalten. Künstler und Künstlerinnen „zu
Wort kommen lassen“, wäre ein absurd-überheblicher
Anspruch; im Kern geht es um schauen, sprechen, zuhören,
lesen, schreiben. Selbstinterpretationen der eigenen
Arbeit sind nicht unbedingt treffender als jene durch
andere. Wird das akzeptiert, beginnen sich bereits
einander überschneidende Reflexionsräume
zu bilden, inklusive aller Gefahren, dass angereichertes
Wissen wieder verarmt, in Besserwissen erstickt. Zeigen
und Schweigen ist nur eine der Möglichkeiten.
Gedanken anderer können einen auf andere Gedanken
bringen, etwa wenn Walter Pichler in meinem Text zu
seiner Arbeit konstatiert: „Am Vormittag glaubst
du an etwas, am Nachmittag bist du schon wieder ungläubig,
jedem Glauben kannst du mit kaltem Rationalismus antworten
und beidem wiederum mit Ironie. Und doch braucht man
über lange Zeit hinweg eine eigenständige
Konsequenz, um das dann genau zu formulieren, und
ebenso ein Erinnerungsvermögen, weil doch jeder
irgendwo herkommt und das in ihm etwas auslöst.“
Bruno Gironcolis Aussagen wiederum verdeutlichen,
wie sehr er den unmittelbaren Vorgängen beim
Arbeiten vertraut: „Ich hätte immer nur
über das Ding eine Antwort auf diese Welt treffen
können, nie über meine Person selber. /
Mir ging es um eine Ausschließlichkeit ohne
viel Gebärden, um einen Gegenstand, der so einfach
und still und unattraktiv, so rau und zackig wie möglich
sein sollte. / Ich wollte immer wieder etwas finden,
das ganz in der Stille seiner eigenen Aura zu Hause
ist und nichts nach außen Weisendes in sich
zeigt. / Es ging mir darum, Schönheit in etwas
zu suchen, das ohne viel Artikulation seine Existenz
hat. / Mich hat immer der Sachverhalt beim Machen
interessiert, dieses unmittelbare Geschehen, und nie
das Mittelbare der Interpretation.“
Ein in diesem Band zitiertes Statement von Kurt Kocherscheidt
sagt es wieder ganz anders: „Ich verstehe die
Entwicklung eines Bildes als Fluss von Bildern, der
beinahe beliebig angehalten wird. / Eine Idee oder
auch nur ein Gedanke wird aufgerissen, verdichtet
und überlagert, zersplittert und wieder zusammengefasst,
zurechtgerückt. In dem Augenblick, in dem ein
kurzer Verlust der Kontrolle eintritt, eine kleine
Wendung vorgenommen wird, die das lähmende Fixiertsein
unterbricht, mit einem Wort, wenn das Bild selbständig
wird, eine Gelegenheit findet zurückzuschlagen,
ist ein guter Moment gekommen aufzuhören.“
In den eigenen Texten wird versucht, etwa in Bezug
auf Architektur, Denkprozessen Kontur zu geben: Jedes
Modell von Coop Himmelb(l)au, heißt es über
deren Arbeitsweise, lässt Raum für unzählige
Modelle, als Schichten, als Potenzial, als gebaute
Offenheit. Die konzipierten architektonischen Situationen
als solche ermöglichen Einblicke, Durchblicke,
Ausblicke. Energie, in ihren uferlosen, auch sehr
persönlichen Dimensionen, ist ein wichtiges Thema.
Räume verdrehen sich so, als ob die Schwerkraft
aufgehoben wäre, auch die Schwerkraft des Denkens.
Auf künstlerische Raumsituationen bezogen, werden
gespeicherte Transferpotenziale skizziert: Zahlenrelationen,
Codes, das Morsealphabet verwendet Brigitte Kowanz
als Andeutung, dass sie weitläufige, durch Zeichen
markierte Bereiche nicht künstlich begrenzen
will. Wenn formale Geschlossenheit entsteht, bleibt
diese gedanklich für unendlich Vernetztes offen.
Verborgenes, Unmerkliches wird wichtig. Das anscheinend
Immaterielle des Lichts überstrahlt die materiellen
Begrenzungen ihrer Objekte. Sie gehen auf im Raum,
verändern ihn. Indem Gesetzmäßigkeiten
visualisiert werden, zeichnen sich Verbindungen mit
der Welt, mit Vorstellungsräumen ab.
Es entsteht – was für viele solcher Versuche
gelten könnte – ein eigenes Bild von der
Lage der Dinge: Bearbeitet wird, was noch nicht gewusst
werden kann. Bearbeitet wird, was sich anders nicht
herausfinden lässt. Künstlerisches Arbeiten
erhöht Komplexität, macht Aspekte davon
auf sehr spezifische Weise kenntlich, als Befragung
von Wahrnehmungsfähigkeit. Dabei forschende Denkweisen
zu betonen, könnte – weil selbstverständlich
– überflüssig sein, wenn nicht unter
Forschung ständig ganz anderes gemeint wäre.