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Edition Splitter
 

Schreibrituale
[Eine Anthologie]

Batya Horn & Elisabeth Wäger [Hrsg]

Edition Splitter, Wien 2004

Beiträge u. a. von Elfriede Gerstl, Friedrich Achleitner, Günter Brus, Friederike Mayröcker, Ferdinand Schmatz, Gerhard Rühm, Burghart Schmidt, Christian Reder

 

Berechnendes Denken, verkehrte Abläufe, verstreute Ergebnisse

Die Frage nach Schreibritualen erzeugt ein Problem, das sonst nur gelegentlich akut wird, weil es einem nicht bewußt zu sein braucht. Um darauf in forschender Weise einzugehen, bietet sich an, vorerst einmal direkt im Alphabet, unter den Zeichen selbst, mit denen etwas ausgedrückt werden soll, nach Hinweisen zu suchen. Wird es nämlich als System auf einander bezogener Einzelteile betrachtet, ergibt sich für jede Folge von Buchstaben nach deren Stellenwert ein Code (a=1, b=2, c=3 usw.). Die sechs Buchstaben des Wortes Ritual haben somit den Code 81: Ritual [81] – also den gleichen alphanumerischen Wert wie Problem [81], Verdacht [81], Handlung [81], Standard [81], wie Wollen [81], wie Warten [81] und wie der Buchstabe [81] als solcher. Schreiben [83] wiederum, das über weite Strecken mechanisch [83] erfolgt, verweist direkt auf Schrift [83], auf Bedingung [83], auf Ambition [83]. Dichtung [86] ist offensichtlich explizit auf Rituale [86] angewiesen, auf das Symbol [86] und die Metapher [86], also ein Verbinden verschiedener Dinge.

Ein Schreibritual [145] hat – wenn es um die einzelnen Zeichen, also „elementare“ Genauigkeit geht – viel mit Selbstzweck [145], Ordnungsliebe [145], Montagetechnik [145] zu tun, wie in einem Laboratorium [145], unabhängig davon, ob nun dramatisierende [145], humanisierende [145] oder persiflierende [145] Standpunkte [145] eingenommen werden oder einen sonst etwas zum Verzweifeln [145] bringt. Inwieweit daraus ein Lügenritual [145] wird, hängt von anderen Faktoren ab.

Jedenfalls: Wird ein Ritual [81] auf solche Weise berechenbar [81] gemacht, müßte es – so oder so – eigentlich perfekt [81] funktionieren. Sagt doch das Alphabet [65] selbst, daß es als Medium [65], als Brücke [65], als Netz [65] zu behandeln [65] sei, damit der Gebrauch [65] von Papier [65] zum Öffnen [65] von diesem und jenem dienen kann. Auffallend ist auch, daß dem direkten Bezug von Frauen [65] zum Alphabet [65], zu Medium [65], Wärme [65], Beischlaf [65] für Männer [70] jener zu Sprache [70], Zeichen [70], Ziffer [70], Methode [70], Ironie [70] und Kapital [70] entspricht.

Da eine solche Selbstreferenz [174] praktisch jede auf diese Weise gefundene Problemlösung [174] als unkritisierbar [174] hinstellt, könnten Schriftsteller [174] damit auf einem stringenten Mathematik [101] -Programm [101] aufbauende sonderbare [101] Geschichten [101] erzeugen [101]. Als Impulsgeberin [150] für Schreibrituale [150] und ein Argumentieren [150] verstanden, dient die Methode einem Verständnis [150] für Sublimierung [150]; gerade weil alles so geheimnisvoll [150] erscheint, es letztlich aber keineswegs ist. Das Verfahren beweist [83] bloß, wie mechanisch [83] Schreiben [83] angegangen wird und es daher sehr oft um berechnende [83] Formeln [83] geht. Denn ohne Ritual [81] kann jeder Buchstabe [81] zum Problem [81] werden.

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So viel Berechnendes zu Schreibritualen, vom eigentlich Materiellen her betrachtet. Parallel zu Materie ist für mich Zeit wichtig, erfahren als Lebensspanne mit gewissen Wahrscheinlichkeiten. Da ist bei mir einiges, wegen freiwilliger Richtungsänderungen hin zu kultureller Produktivität, atypisch (also unter Ritualänderungen) gelaufen, gemessen am bereits alphabetisch vorgesehenen Zusammenhang von Markt [63], Nachfrage [63], Erfolg [63]. Kulturökonomie ließ sich dadurch als höchst unausgewogene, völlig ritualisierte, vieles negierende, vieles überspitzende Zone begreifen. Meine ersten publizierten Texte, ich war Ende Zwanzig, sind in Kleinstauflagen von einigen wenigen Exemplaren erschienen; so viel verdient habe ich pro Wort, pro Zeile, pro Seite seither auch nur annähernd nie wieder. Angefangen hat es finanziell also paradox: so als ob Schriften aus dem Nachlaß einer Berühmtheit auf den Markt gekommen wären. Die Umstände (und Rituale), die das ermöglicht haben, sind präzis definierbar. Es ging um Beratungsprojekte, um Systemanalyse, Gutachten, Konzepte – um ein Visualisieren [163] von Zahlenmystik [163] und Nützlichkeit [163]. Der elegante Rahmen einer internationalen Consultingfirma machte jedes dieser Bücher zu Millionenunternehmen. Verkauft waren sie schon im voraus. Die Stückzahl blieb eng limitiert, da der Inhalt in aller Regel nur wenigen zugänglich sein durfte. Weil vorgeschlagen wurde, was getan werden sollte, um sich aus Traditionen zu lösen und Entwicklungen nicht zu verpassen, spielte Geld dabei keine vordergründige Rolle. Eine gegenseitige Wertschätzung war von vornherein gegeben. Wegen der Konzentration auf den öffentlichen Dienst, vom Gesundheitswesen über Kommunalverwaltungen bis zu Museen und Universitäten, sind bei mir auch längere Zeit kaum essentielle Motivationsblockaden aufgetaucht; dies auch deswegen, weil Reformansätze damals etwas zum Besseren wenden sollten und noch nicht völlig von den inzwischen geläufigen alternativelosen Destruktionstendenzen dominiert waren.

Dreißig Jahre später, längst „abgedriftet“ in Essayistisches, dezidiert Freiwilliges, bewußt Heterogenes, wofür das parallele Bemühen um differenzierende Sachlichkeit nicht das schlechteste Training war, konzentrieren sich meine Rituale auf das Aufbringen von Investitionen in potentielle Leser und Leserinnen (damit Bücher zu Preisen weit unter den eigentlichen Gesamtkosten erscheinen können), beratende Kontakte zu Verlagen, die Herausgabe der Edition Transfer, die Konzeption von Projekten als Basis neuer Publikationen und Analoges, das zur Behauptung einer gewissen Art von Öffentlichkeit, in der Transdisziplinäres und Transkulturelles halbwegs Akzeptanz findet, notwendig ist.

Technisch gesehen schreibe ich seit Studienzeiten mechanisch, mit der Maschine also, angewiesen auf die Zeigefinger. Handschriftlich gibt es von mir nur Unterschriften, Korrekturen, Notizen, Beileidsbriefe. Selbst Postkartengrüße, oft auch Eigenes, kann ich kaum noch entziffern, so entwöhnt bin ich diesen Aufschreibformen (aber Latein habe ich auch wieder verlernt). Früher gab es mindestens drei Fassungen bis zur Reinschrift, jetzt wird mit perfektionistischem Interesse, Varianten ausprobierend, am Bildschirm und auf Ausdrucken korrigiert. Daß der Computer dabei ständig berechnete Bilder erzeugt, macht ihn zum höchst brauchbaren Gerät. Optisches ist mir wichtig. Überholtes verschwindet ungesichert, und das stört mich fast nie. Die Vorstellung, von Hotel zu Hotel zu ziehen, gedanklich begleitet vom aktuellen Thema, verflüchtigt sich immer wieder. Manchmal funktioniert es irgendwo anders, intensiv wird die Sache erst in der gewohnten Umgebung, mit jahrelang angesammeltem Material, Tausenden Büchern in greifbarer Nähe und dem sofort zugänglichen Internet als Archiv. Am Schreibtisch herrscht ständiges Chaos, weil vieles unmittelbar greifbar sein muß und ein Zurückordnen vom Wesentlichen abhält. Ich arbeite schnell oder langsam, Zwischenstadien lähmen mich eher. Termine einzuhalten spornt mich an. Es muß aber ausreichend Zeit sein. Am besten läuft es in voller Konzentration, ohne Unterbrechungen; dann fallen mir sogar im Schlaf und irgendwann als Nachhall plötzlich Verbesserungen ein. Sobald ein Text auf mich wirkt, als würde er von jemand anderem stammen, scheint er sich endlich verselbständigt zu haben. Daß sich Gedrucktes von mir entfernt, irgendwo und irgendwann anonym Verwendung findet, ist mir sympathisch; Vorlesen, Vortragen, Vorbeten ist es in der Regel nicht. Beim Lesen und Schreiben ist mir Stille wichtig, am Buch schätze ich dessen Verwendbarkeit, Haltbarkeit und Mobilität.

Wann und wo, mit wie viel Kaffee, Tee, Zigaretten, Unterstützung ich schreibe, wie ich anfange, aufhöre, dürfte, abgesehen von materiellen Sicherheiten, nichts allzu Spezielles, geschweige denn Geheimnisvolles an sich haben. Zuerst ist nichts da oder ein Durcheinander von Vorstellungen, dann ergeben sich Zugänge, irgendwann wird ein Ausgang erkennbar. Sich drinnen in diesem Raum zu bewegen fordert einen; Gedanken, die es vorher nie gegeben hat, nehmen Form an. Der Ton ist zu finden und zu variieren. Rhythmen machen sich bemerkbar. Vieles gelingt überraschend, taucht von irgendwo her auf. Unausgesprochenes als Subtext mitzudenken, wird oft zum eigentlich Prägenden. Biographisch merkwürdig ist, daß es bei mir zunehmend nur mehr um ein Schreiben über mehr oder minder frei gewählte Themen geht. Akzeptable Verführungen, gelegentlich auch sonst noch etwas Herausforderndes zu tun, sind deutlich zurückgegangen. Kompliziertes und Vereinfachendes haben anscheinend immer weniger mit einander im Sinn. Auch die Rituale tendieren zum Do it yourself. Tendenzen, in Selbstbezügen verloren zu gehen, versuche ich durch temporäre Kooperationen in Balance zu halten, in dem ich mich und andere zu brauchbaren Texten und Visualisierungen anrege. Daß so was dann existiert, ist schon „etwas“.

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Codes [46] sagen [46] etwas zum Chaos [46]; der Ursprung [134] (von diesem und jenem) ist das Tohuwabohu [134]. Nur was wahrscheinlich [140] ist, gilt als verständlich [140]. Unwahrscheinliches [199] wird generell mit Sinnestäuschung [199] gleichgesetzt. Handlungsfreiheiten [199] von vornherein in diesem Sinn zu strukturieren [199], stellt sogar das in diesen Breiten übliche Aufschreibsystem [193] als notwendige Automatisierung [193] dar. Soviel noch zum Thema [47]: der Gedanke [47] als Ware [47]. Letztlich dreht es sich dabei immer irgendeine Zahl [47].

Ritual [81] und Ideologie [81] sollen Risiko [81] berechenbar [81] machen. Geht es um Unberechenbarkeit [161], hat sie als Inszenierung [161], als Unterhaltung [161] zu funktionieren [161].

 

 

Medienresonanz:

Wie mit der Eruption mithalten?
von Evelyne Polt-Heinzl

Die Presse, Wien, 9. Oktober 2004

 

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© Christian Reder 2004