Linguistic
Turns
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in: Michael Endlicher:
linguistic turns
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Werkkatalog
deutsch/englisch
mit Texten von Christian Reder, Elke Krasny, Michael
Endlicher, Brigitta Höpler, Simon Crutchley,
Bruno Liberda; Übersetzung: Michael Hastik.
Bibliothek der Provinz, Weitra 2005 |
Christian Reder
Linguistic Turns
Trotz der zu seiner Zeit absehbar werdenden Umbrüche
durch Fotografie, Radio, Film – und der Begeisterung
für diese neuen Medien, für die Erreichbarkeit
der Massen – ist sich etwa Wladimir Majakowski
sicher gewesen, dass selbst für kleine, speziell
interessierte Adressatenkreise bestimmte Bücher
weiterhin Wirkungen entfalten, sofern sie sich „nicht
an Verbraucher, sondern an Erzeuger“ wenden, also
tatsächlich etwas auslösen. Für Michael
Endlicher wurde meine Studie „Wörter und
Zahlen. Das Alphabet als Code“ (2000) eine solche
Anregung zum Weiterdenken und Weiterarbeiten. Was bei
mir als introvertiertes Erforschen von Zeichenwelten
und Codierungssystemen, von in ihre Elementarteilchen
aufgelöster Schrift, von sich rechnerisch ergebenden
Bedeutungsbildungen begonnen hat, wird bei ihm zur eigenständigen
Transformation, zu Bildern. Damit erweitern sich Räume.
Das in diesen Breiten geläufige Alphabet als System
zu begreifen, welches jedem Buchstaben seinen Stellenwert
als Zahl zuweist (a=1, b=2, c=3 usw.), wodurch für
Wörter, für Wortfolgen Summen-Codes berechenbar
werden, befreit vom lexikalischen Zwang, Anfangsbuchstaben
zum Ordnungsmodell zu machen. Alle Buchstaben einer
Zeichengruppe werden in nachvollziehbarer Weise berücksichtigt.
Unplanbare Querbezüge erzeugen Impulse. Auftauchende
Assoziationen befragen, noch bevor grammatische Regeln
einengend wirken, die Mechanismen des Verstehens, vorgeprägte
Vorstellungen von Zugehörigkeit, von nicht Zusammenpassendem.
So entsprechen sich etwa nach diesem Verfahren fundamentale
Eigenschaften wie wahr (23+1+8+18=50) und heilig (8+5+9+12+9+7=50);
der rechnerisch belegbare Verweis auf Bilder (50) verstärkt
noch diesen geheimnisvollen Bezug. Wörter mit dem
gleichen Code, wie Krieg (50), Lüge (50), das kollektive
„Wir“ (50), Jubel (50), Flamme (50), Mord
(50), Exil (50) lassen die angedeutete Harmonie jedoch
explodieren. Solche „Zufälle“ (die
wegen bekannter Ursachen keine „wirklichen“
Zufälle sind) erzeugt das Alphabet selbst. Zahlen
werden zum Sprechen gebracht.
Abgesehen von weit ausgreifenden Verbindungen mit der
Kabbala, mit jüdischen, persischen, arabischen,
griechischen, römischen, mittelalterlichen Codierungstraditionen,
zu Methoden der Konkreten Poesie, zu einem Computerdenken,
machen sich anhand dieser Thematik auch gegenwärtig
verzweigte, unter keinerlei Esoterikverdacht stehende
Parallelintentionen bemerkbar, die in ihrer belebenden
Heterogenität erfreulich sind. So hat etwa Helmut
Eisendle (1939-2003) über seine berechneten Gedichte
ein schon lange verfolgtes Interesse deklariert. Stephan
Krass verwendet in seinen Bildern und Texten diesen
Zugang (Lichtbesen aus Blei. Gewichtete Gedichte, Berlin
2004). Barbara Frischmuth hat in den codierten Worttabellen
„ideales Rechenmaterial“ für einen
geplanten Roman gefunden. Für Michael Endlicher
ist das Berechnen eine Möglichkeit, die Dimensionen
von Zeichenhaftigkeit zu ergründen und zu visualisieren.
Wenn er in seinen „Votivbildern“ die unschwer
als Jahreszahl erkennbare Zäsur 1492 hervorhebt
und ihr auf den Kopf gestellt 1491 gegenübersetzt,
als Amerika noch nicht entdeckt, also in westliches
Denken einbezogen worden war, wird Plakatives durch
ungewohnte Assoziationsfelder konterkariert. Vermeintliche
Fixpunkte werden fragwürdig. Manches hätte
sich eben ganz anders entwickeln können, etwa wenn
die großen chinesischen Expeditionsflotten unter
dem Kommando von Zheng He, übrigens ein Moslem,
wegen der schließlich verordneten Abschließungspolitik
nicht wirkungslos geblieben wären, obwohl sie schon
1421 weite Teile der Welt, einschließlich der
amerikanischen Küsten befahren haben sollen.
Die „Entscheidungsbilder“ und die „Moralspiegel“,
ostentativ in kleinen Formaten, deuten an, dass Ja-Nein-Optionen
in die Irre führen können. Mit „Ich
vergebe / Ich vergelte“ oder „Ich suche
/ Ich finde“ werden ausdrücklich solche existentiellen
Grundsituationen angesprochen. Ein Text Kandinskys mit
dem schlichten Titel „und“ präzisiert
diesen Sachverhalt. „Während das 19. Jahrhundert
vom Entweder-Oder regiert wurde“, heißt
es dort, „sollte das 20. Jahrhundert der Arbeit
am und gelten. Dort: Trennung, Spezialisierung,
das Bemühen um Eindeutigkeit, Berechenbarkeit der
Welt – hier: Nebeneinander, Vielheit, Ungewissheit,
die Frage nach dem Zusammenhang, Zusammenhalt, das Experiment
des Austausches, des eingeschlossenen Dritten, Synthese,
Ambivalenz.“ Wegen der Uneingelöstheit solcher
Ansprüche bleiben sie im 21. Jahrhundert durchaus
relevant. Auch das Verwenden von Spiegeln kann weit
über den heutigen Umgang mit ihnen beim gedankenlosen
Schminken, Kämmen, Rasieren hinausweisen, wurden
doch die kleinen Handspiegel früher Pilger, die
damit die Kraft von Reliquien auffangen wollten, zur
Energieübertragung eingesetzt; zugleich waren sie
eine Vorform von Fotografie.
In seinen „Kritikbildern“ operiert Michael
Endlicher mit der Rückführung schriftlich
festgehaltener Kunstkommentare ins Bild. Auch damit
greift er den in der klassischen Moderne forcierten
Tabubruch auf (Picasso, Braque, die Futuristen, Konstruktivisten,
Dada, Duchamp), mit dem der behauptete Gegensatz von
Wissenschaft und Kunst, hier Texte und Formeln, dort
Bilder, Skulpturen, Bauten aufgehoben, überwunden,
negiert werden sollte. Schriftinstallationen von Jenny
Holzer oder Lawrence Weiner (etwa am Wiener Flakturm
im Esterhazy-Park) oder die Codierungsbilder von Brigitte
Kowanz demonstrieren die Präsenz und Weiterentwicklung
solcher künstlerischer Verfahren. Michael Endlicher
sucht in solchem Umfeld eigene Wege. Etwa mit einem
zum Bild verwandelten „Werbetext“ werden
in ambivalenter Weise Bildliebhaber und Bildzerstörer
angesprochen, als ausdrücklicher Hinweis auf geschäftige
Nüchternheit. Niemandem wird etwas eingeredet.
Hier wird gearbeitet, hier geht es um Arbeit, ist die
Botschaft. Materialität ist wichtig, Handwerkliches,
Farbe; die Buchstaben sind gemalt, gestanzt, geprägt,
geätzt. Jeder einzelne von ihnen wird ernst genommen.
In den „Dramenblechen“ schließlich
werden die eingangs angesprochenen alphanumerischen
Codes zum zentralen Vorgang. Ungewöhnliche, aber
nachweisbare Relationen – als Metapher für
Wissenschaft, für Theorie, für Zusammenhänge
– werden in einprägsamer Weise, auf Blechschildern,
die wie Nummerntafeln von Autos aussehen, zu Bildern
konzentriert. Ein Suchen, Finden, Begreifen bildet sich
ab. Die Dramatik ist gewollt; Subtiles ergibt sich erst
über Reflexionen. Essentielle Bezüge wie „Hand
– Bild – Code – 27“ suggerieren
eine zivilisationsgeschichtliche Programmierung, so
wie die Gleichung „Gott – Mensch –
Krise – 62“ oder „Moral – Anarchie
– Glück – 59“. Die auffällige
Gleichwertigkeit von „Linguistik – Mitternacht
– Schuldgefühl – 131“ findet
sich im Katalog- und Ausstellungstitel „Linguistic
Turns“, wieder. Damit hervorgehobene Tendenzwenden
lassen keine eindeutigen Perspektiven erkennen, sie
sind bloß Ausdruck dafür, dass zur Analyse,
Beurteilung, Darstellung von Realitäten sich erneuernde,
verfeinerte, Mehrdeutigkeit aufgreifende Sichtweisen
erforderlich sind. Der Schrift, der Sprache, dem Bild
wird misstraut, auch der propagierten Devise „Alles
ist Text“, die Welt sei „lesbar“.
Möglichkeiten sind auf ausbaufähige Konstellationen
angewiesen: „Text – Teufel – Poesie
– 69“. Poesie offenbart sich in einem solchen
Kontext als Chance. Als bloßes Wort aber hat Poesie
(69) den selben Codewert wie Text (69), wie Prosa (69),
wie Formel (69).
Es geht also um Präzision der Wahrnehmung, um
rationales Erfassen von Verborgenem, das für ein
Weiterdenken offen bleibt. Generell brauchbar, für
die künftige Produktion und die Beschäftigung
mit ihr, erscheinen aus diversen Linguistic Turns (215)
ableitbare Richtungsangaben, wie Ordnungsbedürfnis
(215) und Bedeutungsreichtum (215). Die Verbindung von
Raumbezogenheit (169), also Spacial Turns (170) und
Zeichensystem (171) wiederum verweist in aufsteigender
Reihe auf künstlerisch so wichtige Begriffe wie
Sprachlosigkeit (172) und Wechselbeziehung (172).
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