Komplizierter werdende Urbanität…
Komplexer werdende Künstlichkeit…
In: Universität für angewandte Kunst Wien
| Transmediale Kunst | Brigitte Kowanz (Hg.): wunschströme
– versprechen der stadt.
Mit Texten & Arbeiten von Elfriede Gerstl, Lilly
Hollein, Robert Pfaller, Christian Reder, Christoph
Schlingensief, Ferdinand Schmatz, Sabine B. Vogel, Atelier
Van Lieshout, Karla Spiluttini u. a.
Universität für angewandte Kunst Wien, Wien
2006
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Erstmals
in der Geschichte lebt weltweit mehr als die Hälfte
der Menschen in Städten, in stadtähnlichen
Agglomerationen. 2050 werden es zwei Drittel sein. Längst
sind Megacities für 20 bis 30 Millionen Bewohner
im Entstehen. Das zur massenhaften Realität von
„Wunschströmen“. Migranten, der Inbegriff
für Suche, machen das, wie seit Jahrhunderten,
besonders augenscheinlich. Seit unzufriedene Europäer
weniger Grund zum auswandern haben irritiert sie der
Gegenverkehr. Sehnsucht nach Ferne wird in den Ferien
erledigt. Die Millionen „anderen“, die in
die Fremde ziehen, tun dies, weil sie sonst keine Perspektiven
sehen, weil ein romantisiertes „Leben auf dem
Lande“ nur die Fortsetzung von Immergleichem wäre.
Selbst wer zurück bleibt, nimmt urbane Verhaltensweisen
an, bei der Kleidung, beim Essen, durchs Fernsehen.
Waren einmal fast alle Menschen mit der Herstellung
von Lebensmitteln beschäftigt, sind es in „entwickelten“
Gesellschaften nur noch fünf Prozent. Dennoch kann
Agrikultur vielfach nur durch Unterstützungszahlungen
existieren – so wie „Kultur“, also
kulturelle und künstlerische Produktivität,
in maßgeblichen ihrer Aspekte.
Zugehörigkeitsgefühle verbinden sich zunehmend
mit der Stadt in der man gerade lebt. Mehrfachidentitäten
relativieren angestammte Nationalitäten und Berufsmuster.
Die Stadtrepubliken Norditaliens und der Niederlande,
in denen sich Anfänge der Moderne, Anfänge
ungebundenerer Lebensweisen herausgebildet haben, kommen
einem in den Sinn. Ein dem eigenen Land gegenüber
höchst kritischer USA-Insider wie Gore Vidal überträgt
solche Wunschbilder unverdrossen in die Gegenwart: „Die
optimale wirtschaftliche Einheit auf diesem Erdball“,
meint er entschieden, „ist heute der Stadtstaat.
Die modernen Kommunikationstechnologien ermöglichen
es jedem, sich über jede Grenze hinweg zu informieren.
Was das Internet über jeden Computermonitor verkündet,
ist die Irrelevanz – von den Gefahren gar nicht
mehr zu reden – des traditionellen Nationalstaates
oder gar Imperiums.“ Für Europa wünscht
er sich eine Zukunft als „Mosaik aus homogenen
Regionen und Stadtstaaten wie zum Beispiel Mailand,
deren Beziehungen untereinander von einem Koordinations-
und Informationszentrum in Brüssel geregelt werden,
das die Geld- und Handelsströme im Gleichgewicht
hält und sich um kartellrechtliche Fragen kümmert“.
Analoges erscheint ihm für Nordamerika denkbar.
(Gore Vidal: Bocksgesang. Antworten auf Fragen vor und
nach dem 11. September, New York 2002/03, Hamburg 2003)
Solche Small is beautiful-Visionen werden aller Wahrscheinlichkeit
nach etwas Fiktives bleiben. Als realer und virtueller
Weltzugang funktionieren sie aber durchaus, geht es
doch, ob in der eigenen Stadt oder beim Blick auf den
Globus, vor allem um ausstrahlende, um anziehende, um
abstoßende Punkte, um die Qualität und die
Defizite urbaner Situationen. Solche Sichtweisen bieten
einem Orientierung, machen Chancen greifbar, fokussieren
Aversionen, vermitteln Erfahrungen. Sich als von weit
her kommender Tourist zu fühlen, der sich von Wunschströmen
leiten lässt und dem dabei dieses und jenes auffällt,
würde solche Wahrnehmungen erleichtern und universalisieren.
Zumindest phasenweise könnte es einen vom Druck
lokal gebundener Schematisierung befreien, so wie einen
Indio, der nach Mexico City oder Los Angeles zieht.
Unerfüllte, unerfüllbare Wünsche haben
viel mit Nähe, mit zu großer Nähe zu
tun; sich zu entfernen öffnet auch dafür Räume.
Eine große, halbwegs lebbare Stadt ist ein solcher
Raum, der von sich aus Freiheiten nutzbarer macht: Anonymität,
Rollenwechsel, veränderbare Beziehungsnetze, partielle
Mitwirkung, Absonderungsmöglichkeiten. Erst wenn
sich deren Angebote nicht ständig aufdrängen,
nicht alle, wie früher am Kirchgang und an Dorffesten,
teilnehmen müssen, also Distanzen und ein Nebeneinander
akzeptiert werden, würde komplizierter werdende
Urbanität – um die es künftig geht –
zu etwas Normalem. Und normal sollte vor allem eine
Koexistenz von Verschiedenem werden und dass sich für
möglichst viele ständig neue Möglichkeiten
eröffnen. Diskrepanzen dabei machen deutlich, wie
es in diversen Weltgegenden um Entwicklung steht.
Weil markante Städte exemplarische Orte für
die Beschäftigung mit Künstlichkeit, mit von
Menschen Geschaffenem sind, werden in ihnen die dafür
jeweils gegebenen Bedingungen – als Turbulenz,
als Widersprüchlichkeit, als Blockaden, als Opportunities
– evident, mit Auswirkungen bis an jede noch so
weit entfernte Peripherie. Würden die Menschen
weltweit von den Bildschirmen anderes mitbekommen als
Trash und gefilterte Information, sich also von dadurch
geprägten Images lösen können, käme
Unvorhersehbares in Gang. Deswegen sind differenzierende
Bildwelten und Bildsprachen so wichtig wie kaum jemals
zuvor.
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