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Kunst und Architektur
Kraft im Kleinen

in: Anders Reisen/Wien
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1987 (Überarbeitete Neuauflage 1991)

Einführung zum Thema "Kunst und Architektur in Wien"

 

 

 

 

Was im Schatten hochsubvenionierter Musik- und Theatertraditionen auf dem Gebiet der bildenden Kunst alles von Wien ausgeht, dem haben Kenner schon seit langem ihre besondere Aufmerksamkeit gewidmet, neugierig auf das, was sich an dieser kulturellen Schnittstelle ohne Rückendeckung durch Kommerzkräfte entwickelt. Wenn also die Branche so tut, als ob es seit der zweiten Hälfte der Achtziger das "Kunst-Wunder von Wien" zu entdecken gelte (so etwa das Kunstmagazin "art"), und behauptet wird, "die Szene explodiert, Künstler verändern die Stadt", dann lächelt der Einheimische still in sich hinein, weil er weiß, daß die Ethnologen aus dem Norden mit ihren Forschungsergebnissen ziemlich übertreiben. Er weiß auch, daß sich durch die wieder erlebbare Nähe zu Budapest, Prag, Preßburg oder Laibach einiges ändern wird, vor allem aber weiß er, daß alle Welt Wien in einen neuen Jahrhundertwendetaumel hineintreiben will, der angesichts der Jahrtausendwende besonders saftig ausfallen soll.

In Kunstzentren wie Düsseldorf, Frankfurt oder Basel ist längst schon jene Routine eingezogen, wie sie Paris, London oder New York schon früher zu spüren bekommen haben. Auch deswegen kümmert man sich jetzt um solche entlegeneren Orte wie Wien, und allgemein gefällt es, daß in Wien angeblich unbekümmert an "damals" angeknüpft wird, so, als ob sich da linear etwas weiterentwickeln ließe, das dazwischen liegende Phasen problemlos überbrücken und damit verdrängen könnte. Die offizielle kulturpolitische Wiener Haltung findet sich auf diese Weise etwa zweimal in jedem Jahrhundert bestätigt: Tradition, Abwarten, Tradition, Abwarten. Gegenwärtig scheint es wieder einmal soweit zu sein. Die Fremden strömen in Scharen herbei, die Museen sind so gut besucht wie noch nie, und daß nicht überall die jungen Klimts und Schieles herumtollen, geht letzten Endes niemandem ab.

Künstlerisch stark war während der letzten Jahrzehnte gerade die Wirkung jener Kräfte, die sich aggressiv gegen die kulturelle Dumpfheit der Wiederaufbauphase und des Wirtschaftswunders aufgelehnt haben: Der Wiener Aktionismus (Nitsch, Brus, Mühl, Schwarzkogler), die Literatur der Wiener Gruppe (Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener), die in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Krieg in losem oder engerem Kontakt untereinander tätig gewordenen Maler und Bildhauer, wie Arnulf Rainer, Maria Lassnig, Walter Pichler, Bruno Gironcoli, Christian Ludwig Attersee und Karl Prantl.

Die vielzitierte Anerkennung im Ausland, über die sich - so die österreichische Hausregel - erst inländische Wertschätzung erringen läßt, ist oft anders und sich verflüchtigend verlaufen. Die Plastiken von Fritz Wotruba und Johannes Avramidis sind zwar schon lange international akzeptiert, und Alfred Hrdlicka hält, vielleicht wegen seines massiven Realismus, alle noch so massiven Gegenargumente aus (Denkmal gegen Krieg und Faschismus am Albertinaplatz) - der erste Exporterfolg hingegen, die Wiener Schule des phantastischen Realismus (Fuchs, Lehmden, Hausner, Hutter, Brauer), ist eher blaß in Erinnerung geblieben. Hundertwasser wiederum erzeugt inzwischen höchst erfolgreich vielbejubelte Tourismuskulissen (Haus in der Löwengasse, Fernheizwerk Spittelau, Kunsthaus Wien).

Daß die Neue Malerei maßgeblich von Wien aus vorbereitet worden ist, daß die Plastik und die Architektur ein starkes Interesse auf sich ziehen, daß Wien eine Beständigkeit künstlerischer Haltungen auch ohne spektakuläre Bestätigung aufweist - das dürften die wichtigsten Ansatzpunkte für ein ernsthaftes Bemühen sein, Kunst in Wien anders als früher zu bewerten, Bekanntes neu zu sehen, weniger Bekanntes wichtig zu nehmen. Es braucht Spürsinn und Geduld, wenn man von den Kräftekonstellationen etwas mitbekommen will. Vieles spielt sich eher im verborgenen ab und ist nur sporadisch zu sehen, seien es nun die Arbeiten von Kurt Kocherscheidt, Heinz Frank, Max Peintner, seien es die von Oswald Oberhuber, Peter Weibel, Valie Export, Siegfried Anzinger, Hubert Schmalix, Franz Graf, Brigitte Kowanz, Ernst Caramelle, Herbert Brandl, Mara Matuschka, Daedalus, Gang Art...

Staat, Kunst und Kommerz

Die Szenerie der Schauplätze, an denen Ausschnitte aus sehr individuellen Arbeitsprozessen besichtigt werden können, ist nicht, wie anderswo, von halbwegs kapitalkräftigen Galerien geprägt. Fast überall ist man direkt oder indirekt auf den Staat angewiesen und darauf, was er jeweils mit moderner Kunst anzufangen weiß. Aber auch von kirchlicher Seite ist öfters eingegriffen worden. Die Nähe zum Ostbahnhof, der in Wien bloß ein Seitentrakt des Südbahnhofs ist, spielt dabei eine gewisse Rolle. Ihm gegenüber liegt nämlich jene Verlegenheitslösung, mit der sich der wiederaufgebaute Staat Österreich erstmals der Moderne in der bildenden Kunst von einer gönnerhaften Seite gezeigt hat. Für den österreichischen Pavillon der Brüsseler Weltausstellung von 1958 (jene mit dem optimistischen Atomium-Wahrzeichen) hatte man eine Weiterverwendung gesucht und sie dann für ein noch fehlendes Museum des 20. Jahrhunderts gefunden. Werner Hofmann, der Direktor jener ersten Jahre, machte es rasch zum beliebten "Zwanziger Haus" und wendete die Lage an der Peripherie konsequent ins Positive. Ab 1962 gab es diesen kleinen musealen Kristallisationspunkt, wenn auch mit lächerlich geringen Budgets für die Ausstellungs- und Sammeltätigkeit. Politiker sind dort nur selten aufgetaucht, dafür konnten das Stammpublikum und das Museumspersonal in einem Klima von sonst eher seltener Vertrautheit aufeinander treffen.

Wenig später tauchte der deutsche Schokoladefabrikant Ludwig mit einem Teil seiner Sammlung in Wien auf. Die Regierung schloß mit ihm einen Pakt, aus dem das Museum moderner Kunst im Palais Liechtenstein entstand - das Zwanziger Haus wurde zu seiner Dependance degradiert. Doch noch immer ist alles bloß ein Provisorium, denn parallel dazu nahm die Idee von einer großen "Museumsinsel" unter Einschluß des auszubauenden Messepalastes, der ehemaligen Hofstallungen, mühselig Gestalt an. Die Moderne und einiges andere sollen endlich näher ins Zentrum rücken, vieles soll umgruppiert und neu miteinander in Beziehung gesetzt werden. Wenn es wahr ist, wird dort bis 1995 der Kern eines weitläufigen Museums- und Ausstellungsareals entstehen (Architektur: Laurids Ortner). Das Kunsthistorische Museum wird dann mit seiner weltberühmten Sammlung alter Meister nicht mehr so allein sein, zur Albertina, der größten graphischen Sammlung der Welt, aber auch zur gründlich renovierten Secession, zum Künstlerhaus und zum Historischen Museum der Stadt Wien ist es nicht weit. Selbst die etwas düstere Ringstraßenburg der Akademie der bildenden Künste mit ihrer Gemäldegalerie alter Meister könnte so eine Belebung erfahren. Abseits von diesem im Entstehen begriffenen Museumsbezirk verbliebe - mit primärem Blick auf die Moderne - nur das Museum für angewandte Kunst (mit der aktivsten Ausstellungspolitik aller Wiener Museen) samt der benachbarten Hochschule mit ihrem Ausstellungszentrum Heiligenkreuzerhof und die Österreichische Galerie im Oberen Belvedere.

Der Staat ist also nach langem Zögern dabei, massiv Anschluß an den internationalen Museums- und Ausstellungsboom zu suchen. Pionierarbeit beim Zeitgenössischen hat in Wien aber sonderbarerweise die katholische Kirche geleistet: durch Monsignore Otto Mauer und seine 1954 eröffnete Galerie nächst St. Stephan. Das distanzierende Wort "nächst" mußte auf Drängen der Kirchenhierarchie eingefügt werden, die sich nicht mit den Aktivitäten ihres Dompredigers identifizieren wollte. Eine erste Adresse ist diese Galerie bis heute geblieben. Mit ziemlich prächtigen Räumen und offensivem Programm greift, nach Jahren profilierter Arbeit in Innsbruck, die seit längerem auch in Wien vertretene Galerie Krinzinger dominant ins Geschehen ein. Die Galerie Heike Curtze hat sich nicht nur wegen der von ihr repräsentierten Achse Wien-Düsseldorf verdient gemacht. Die Galerie Grita Insam zählt ebenfalls zum engeren Kreis der Aktivisten, bei denen es sich meistens lohnt, das gerade aktuelle Programm zur Kenntnis zu nehmen. Die fünf Galerien, alle von Frauen geleitet, haben in bezug auf Gegenwartskunst die ursprüngliche monopolistische Priesterherrschaft abgelöst.

Wichtig ist die Galerie Julius Hummel wegen ihrer eigenwilligen, sehr spezielle Bezüge aufgreifenden kleinen Ausstellungen, und auch die Galerie Hubert Winter ist einem intelligenten Programm verpflichtet. Gleich nebenan bietet die Kunstbuchhandlung Judith Ortner eine recht gute Auswahl an Katalogen und Fachliteratur. Beim Kunsthändler Kurt Kalb (mit Filiale in Berlin) sind immer interessante Österreicher und Fundstücke aus dem Ausland zu sehen. Die Galerie Ariadne setzt auf sensible Vielfalt, hier lassen sich auch für kleinere Beträge interessante Arbeiten aufspüren.

Zur engeren Gruppe der die Diskussion prägenden Galerien zählt zweifellos die Galerie Peter Pakesch, die sich, versteckt in einem Hinterhof, beim Franziskanerplatz angesiedelt hat. Die alteingesessene Galerie Würthle wiederum zeigt, daß das viele Geld ihres Besitzers, des österreichischen Zeitungszaren Hans Dichand, auch keine Garantie für eine das Umfeld aktivierende Risikobereitschaft ist. Vergleichsweise etabliert verhält sich auch die Galerie Ulysses (mit Filiale in New York). Sozusagen Off-Broadway versuchen sich das Werkstätten- und Kulturhaus (WUK), die Medienwerkstatt oder die Produzentengalerie CULT durchzuschlagen; ihr Programm: provokante Offenheit. Profilieren konnten sich auch die Galerien Metropol, Knoll (mit Zweigstelle in Budapest) oder die Fotogalerie Faber.

Insgesamt gibt es bis heute in Wien keinen finanziell gepolsterten Kunstbetrieb, der aufsaugt, was er erwischen kann. Manche halten das für gar nicht so schlecht, weil dadurch die verschiedensten Kräfte frei bleiben. Die Museen haben kaum Geld für Ankäufe oder fundierte eigene Ausstellungen. Zur Zeit werden sie wenigstens baulich renoviert und erweitert. Das Kunstforum Länderbank führt vor, zu was die Geldwirtschaft alles bereit ist (Architektur: Gustav Peichl); vis-a-vis soll im Palais Harrach ein weiteres Kunstzentrum entstehen.

Dennoch: Allem Anschein nach ist künstlerischer Erfolg im wesentlichen selbstgemacht. Haltung und Ausdauer werden vielleicht stärker gefordert als an anderen Orten. Und allzu agile Geschäftigkeit wird allgemein nicht geschätzt. Künstler, die es schaffen, von ihrer Arbeit halbwegs gut (manche sogar sehr gut) zu leben, haben das hauptsächlich durch enge Kontakte mit auf sie eingeschworenen Sammlern geschafft, gleichsam in einer subkulturellen Symbiose gegenseitiger Bestärkung. Kommerzielle Spekulation war da höchstens ein Nebenschauplatz, schon weil die Tradition, Zeitgenössisches zu begreifen oder vielleicht sogar zu benutzen, in Wien seit den zwanziger Jahren nicht mehr wiederbelebt werden konnte. Daß dennoch so viel entsteht, rechtfertigt internationales Interesse - auch wenn man sich nicht dazu versteigt, von Wundern zu reden.

Neues Bauen im Kleinen

Wie sich das vom Ausland gesehene Wunderbare selbst darstellt, das bekommt jeder in einer beliebigen Nacht im Café Alt Wien mit, sofern es ihm gelingt, sich dort halbwegs intensiv einzuleben. Als beliebtes Kaffeehaus ist es ein Beispiel dafür, daß sich wichtige Tendenzen neuen architektonischen Schaffens in Wien oft nur gesprächsweise durchsetzen müssen. Vieles bleibt klein, marginal, unsichtbar. Der Blick des Fremden, der sich aufs Große richtet, gleitet leicht darüber hinweg, zumal er meist zuallererst Reste von früher sucht: die Ringstraße, die Palais des Barock, die erhaltenen Teile der Altstadt. Dabei ist von Wien aus die moderne Architektur entscheidend mitgeprägt worden.

Im Vergleich zu osteuropäischen und deutschen Städten ist Wien im Zweiten Weltkrieg nur wenig zerstört worden, und was an historischer Bausubstanz kaputt war, wurde vielfach wieder aufgebaut. Die Narben sind unauffälliger als anderswo, und das mag dabei mitspielen, daß man so gerne an die Tradition der Jahrhundertwende anschließt und offiziell am liebsten vergißt, was inzwischen alles geschehen ist. Aber auch die Jahrhundertwende war keineswegs nur ein Schwelgen im Jugendstil (beispielsweise beim Bau der Secession), wie es die Kulturoberen glauben machen wollen. International haben gerade die Kräfte, die sich von ihm deutlich abgrenzten, eine viel entscheidendere Wirksamkeit gehabt. Das Café Museum zum Beispiel, das Adolf Loos 1899 gestaltete, gilt vielen als erster moderner Innenraum, die Loos-Bar von 1907 wurde zum Inbegriff einer perfekten Lösung auf kleinstem Raum. Das nun renovierte Loos-Haus von 1910 am Michaelerplatz, gegenüber der Hofburg, gegen dessen Errichtung es heftige Proteste gegeben hat, leitete eine streng durchdachte, auf ein funktionsloses Schmücken verzichtende Bauweise ein. Die Postsparkasse von Otto Wagner (1906) in der Rosenbursenstraße ist in die Architekturgeschichte eingegangen, seine Stadtbahn wurde zu einem Klassiker der Verkehrsbauwerke. Ihre Erweiterung zur neuen U-Bahn, deren Stationen zum Teil Wilhelm Holzbauer gestaltet hat, zeigt die Möglichkeit, an einer Stadt weiterzubauen, ohne ständig etwas abzureißen.

Für die Entwicklung der letzten dreißig Jahre markiert das kleine Kerzengeschäft Retti am Kohlmarkt von Hans Hollein (1965) einen Meilenstein, und ihm schräg gegenüber steht eine aktuellere Antwort desselben Gestalters auf die damalige radikale Reduktion, das Juweliergeschäft Schullin (1983) mit seiner exzessiven, ganz anderen Mythen nachspürenden Symbolik. Der erste große Hollein-Bau in Wien, das 1990 fertiggestellte Haas-Haus am Stephansplatz, hat heftige Debatten darüber entfacht, welche Ansprüche von ihm alle nicht eingelöst worden sind. Bisher jedenfalls ist der belebendste, qualitätvollste Teil neuer Wiener Architektur auf Geschäfte und Lokale - auf das Kleine also - konzentriert geblieben. Hermann Czechs Kleines Café am Franziskanerplatz, seine Wunderbar in der Schönlaterngasse und sein Restaurant Salzamt bei der Ruprechtskirche sind dafür wichtige Beispiele. Das erhaltene Herrenmodegeschäft Knize am Graben (Adolf Loos) ermöglicht Vergleiche innerhalb der immer wieder auflebenden Wiener Tradition sorgfältig gestalteter Einbauten in Bestehendes. Weitere neue Beispiele sind: das Chinarestaurant Kiang von Richter und Gerngroß, das Café Stein von "Eichinger oder Knechtl" oder der Rote Engel von Coop Himmelblau.

Von den Großbauten haben sich praktisch alle den internationalen Kommerzstandards gebeugt. Besonders monströs geriet das neue Allgemeine Krankenhaus mit seinen uferlosen Folgeproblemen und seiner unübertroffenen Kubatur. Ausnahmen: Die Stadthalle von Roland Rainer aus den fünfziger Jahren, die Zentralsparkasse in der Favoritenstraße und ihr Hauptgebäude am Wienfluß von Günter Domenig, das Ronacher-Projekt von Coop Himmelblau, das Museumsquartier in den ehemaligen Hofstallungen von Laurids Ortner. Das Prägende am Modernen ist in Wien klein geblieben, aber durchaus kräftig und zu allem möglichen fähig.

Wer sich genau informieren will, muß sich die zwei exzellenten Wien-Bände von Friedrich Achleitners Architektur-Führer "Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert" besorgen.

 

 
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© Christian Reder 1987/1991/2001