Was im Schatten hochsubvenionierter Musik- und Theatertraditionen
auf dem Gebiet der bildenden Kunst alles von Wien ausgeht,
dem haben Kenner schon seit langem ihre besondere Aufmerksamkeit
gewidmet, neugierig auf das, was sich an dieser kulturellen
Schnittstelle ohne Rückendeckung durch Kommerzkräfte entwickelt.
Wenn also die Branche so tut, als ob es seit der zweiten Hälfte
der Achtziger das "Kunst-Wunder von Wien" zu entdecken gelte
(so etwa das Kunstmagazin "art"), und behauptet wird, "die
Szene explodiert, Künstler verändern die Stadt", dann lächelt
der Einheimische still in sich hinein, weil er weiß, daß die
Ethnologen aus dem Norden mit ihren Forschungsergebnissen
ziemlich übertreiben. Er weiß auch, daß sich durch die wieder
erlebbare Nähe zu Budapest, Prag, Preßburg oder Laibach einiges
ändern wird, vor allem aber weiß er, daß alle Welt Wien in
einen neuen Jahrhundertwendetaumel hineintreiben will, der
angesichts der Jahrtausendwende besonders saftig ausfallen
soll.
In Kunstzentren wie Düsseldorf, Frankfurt oder Basel ist
längst schon jene Routine eingezogen, wie sie Paris, London
oder New York schon früher zu spüren bekommen haben. Auch
deswegen kümmert man sich jetzt um solche entlegeneren Orte
wie Wien, und allgemein gefällt es, daß in Wien angeblich
unbekümmert an "damals" angeknüpft wird, so, als ob sich da
linear etwas weiterentwickeln ließe, das dazwischen liegende
Phasen problemlos überbrücken und damit verdrängen könnte.
Die offizielle kulturpolitische Wiener Haltung findet sich
auf diese Weise etwa zweimal in jedem Jahrhundert bestätigt:
Tradition, Abwarten, Tradition, Abwarten. Gegenwärtig scheint
es wieder einmal soweit zu sein. Die Fremden strömen in Scharen
herbei, die Museen sind so gut besucht wie noch nie, und daß
nicht überall die jungen Klimts und Schieles herumtollen,
geht letzten Endes niemandem ab.
Künstlerisch stark war während der letzten Jahrzehnte gerade
die Wirkung jener Kräfte, die sich aggressiv gegen die kulturelle
Dumpfheit der Wiederaufbauphase und des Wirtschaftswunders
aufgelehnt haben: Der Wiener Aktionismus (Nitsch, Brus, Mühl,
Schwarzkogler), die Literatur der Wiener Gruppe (Achleitner,
Artmann, Bayer, Rühm, Wiener), die in den ersten beiden Jahrzehnten
nach dem Krieg in losem oder engerem Kontakt untereinander
tätig gewordenen Maler und Bildhauer, wie Arnulf Rainer, Maria
Lassnig, Walter Pichler, Bruno Gironcoli, Christian Ludwig
Attersee und Karl Prantl.
Die vielzitierte Anerkennung im Ausland, über die sich -
so die österreichische Hausregel - erst inländische Wertschätzung
erringen läßt, ist oft anders und sich verflüchtigend verlaufen.
Die Plastiken von Fritz Wotruba und Johannes Avramidis sind
zwar schon lange international akzeptiert, und Alfred Hrdlicka
hält, vielleicht wegen seines massiven Realismus, alle noch
so massiven Gegenargumente aus (Denkmal gegen Krieg und Faschismus
am Albertinaplatz) - der erste Exporterfolg hingegen, die
Wiener Schule des phantastischen Realismus (Fuchs, Lehmden,
Hausner, Hutter, Brauer), ist eher blaß in Erinnerung geblieben.
Hundertwasser wiederum erzeugt inzwischen höchst erfolgreich
vielbejubelte Tourismuskulissen (Haus in der Löwengasse, Fernheizwerk
Spittelau, Kunsthaus Wien).
Daß die Neue Malerei maßgeblich von Wien aus vorbereitet
worden ist, daß die Plastik und die Architektur ein starkes
Interesse auf sich ziehen, daß Wien eine Beständigkeit künstlerischer
Haltungen auch ohne spektakuläre Bestätigung aufweist - das
dürften die wichtigsten Ansatzpunkte für ein ernsthaftes Bemühen
sein, Kunst in Wien anders als früher zu bewerten, Bekanntes
neu zu sehen, weniger Bekanntes wichtig zu nehmen. Es braucht
Spürsinn und Geduld, wenn man von den Kräftekonstellationen
etwas mitbekommen will. Vieles spielt sich eher im verborgenen
ab und ist nur sporadisch zu sehen, seien es nun die Arbeiten
von Kurt Kocherscheidt, Heinz Frank, Max Peintner, seien es
die von Oswald Oberhuber, Peter Weibel, Valie Export, Siegfried
Anzinger, Hubert Schmalix, Franz Graf, Brigitte Kowanz, Ernst
Caramelle, Herbert Brandl, Mara Matuschka, Daedalus, Gang
Art...
Staat, Kunst und Kommerz
Die Szenerie der Schauplätze, an denen Ausschnitte aus sehr
individuellen Arbeitsprozessen besichtigt werden können, ist
nicht, wie anderswo, von halbwegs kapitalkräftigen Galerien
geprägt. Fast überall ist man direkt oder indirekt auf den
Staat angewiesen und darauf, was er jeweils mit moderner Kunst
anzufangen weiß. Aber auch von kirchlicher Seite ist öfters
eingegriffen worden. Die Nähe zum Ostbahnhof, der in Wien
bloß ein Seitentrakt des Südbahnhofs ist, spielt dabei eine
gewisse Rolle. Ihm gegenüber liegt nämlich jene Verlegenheitslösung,
mit der sich der wiederaufgebaute Staat Österreich erstmals
der Moderne in der bildenden Kunst von einer gönnerhaften
Seite gezeigt hat. Für den österreichischen Pavillon der Brüsseler
Weltausstellung von 1958 (jene mit dem optimistischen Atomium-Wahrzeichen)
hatte man eine Weiterverwendung gesucht und sie dann für ein
noch fehlendes Museum des 20. Jahrhunderts gefunden. Werner
Hofmann, der Direktor jener ersten Jahre, machte es rasch
zum beliebten "Zwanziger Haus" und wendete die Lage an der
Peripherie konsequent ins Positive. Ab 1962 gab es diesen
kleinen musealen Kristallisationspunkt, wenn auch mit lächerlich
geringen Budgets für die Ausstellungs- und Sammeltätigkeit.
Politiker sind dort nur selten aufgetaucht, dafür konnten
das Stammpublikum und das Museumspersonal in einem Klima von
sonst eher seltener Vertrautheit aufeinander treffen.
Wenig später tauchte der deutsche Schokoladefabrikant Ludwig
mit einem Teil seiner Sammlung in Wien auf. Die Regierung
schloß mit ihm einen Pakt, aus dem das Museum moderner Kunst
im Palais Liechtenstein entstand - das Zwanziger Haus wurde
zu seiner Dependance degradiert. Doch noch immer ist alles
bloß ein Provisorium, denn parallel dazu nahm die Idee von
einer großen "Museumsinsel" unter Einschluß des auszubauenden
Messepalastes, der ehemaligen Hofstallungen, mühselig Gestalt
an. Die Moderne und einiges andere sollen endlich näher ins
Zentrum rücken, vieles soll umgruppiert und neu miteinander
in Beziehung gesetzt werden. Wenn es wahr ist, wird dort bis
1995 der Kern eines weitläufigen Museums- und Ausstellungsareals
entstehen (Architektur: Laurids Ortner). Das Kunsthistorische
Museum wird dann mit seiner weltberühmten Sammlung alter Meister
nicht mehr so allein sein, zur Albertina, der größten graphischen
Sammlung der Welt, aber auch zur gründlich renovierten Secession,
zum Künstlerhaus und zum Historischen Museum der Stadt Wien
ist es nicht weit. Selbst die etwas düstere Ringstraßenburg
der Akademie der bildenden Künste mit ihrer Gemäldegalerie
alter Meister könnte so eine Belebung erfahren. Abseits von
diesem im Entstehen begriffenen Museumsbezirk verbliebe -
mit primärem Blick auf die Moderne - nur das Museum für angewandte
Kunst (mit der aktivsten Ausstellungspolitik aller Wiener
Museen) samt der benachbarten Hochschule mit ihrem Ausstellungszentrum
Heiligenkreuzerhof und die Österreichische Galerie im Oberen
Belvedere.
Der Staat ist also nach langem Zögern dabei, massiv Anschluß
an den internationalen Museums- und Ausstellungsboom zu suchen.
Pionierarbeit beim Zeitgenössischen hat in Wien aber sonderbarerweise
die katholische Kirche geleistet: durch Monsignore Otto Mauer
und seine 1954 eröffnete Galerie nächst St. Stephan. Das distanzierende
Wort "nächst" mußte auf Drängen der Kirchenhierarchie eingefügt
werden, die sich nicht mit den Aktivitäten ihres Dompredigers
identifizieren wollte. Eine erste Adresse ist diese Galerie
bis heute geblieben. Mit ziemlich prächtigen Räumen und offensivem
Programm greift, nach Jahren profilierter Arbeit in Innsbruck,
die seit längerem auch in Wien vertretene Galerie Krinzinger
dominant ins Geschehen ein. Die Galerie Heike Curtze hat sich
nicht nur wegen der von ihr repräsentierten Achse Wien-Düsseldorf
verdient gemacht. Die Galerie Grita Insam zählt ebenfalls
zum engeren Kreis der Aktivisten, bei denen es sich meistens
lohnt, das gerade aktuelle Programm zur Kenntnis zu nehmen.
Die fünf Galerien, alle von Frauen geleitet, haben in bezug
auf Gegenwartskunst die ursprüngliche monopolistische Priesterherrschaft
abgelöst.
Wichtig ist die Galerie Julius Hummel wegen ihrer eigenwilligen,
sehr spezielle Bezüge aufgreifenden kleinen Ausstellungen,
und auch die Galerie Hubert Winter ist einem intelligenten
Programm verpflichtet. Gleich nebenan bietet die Kunstbuchhandlung
Judith Ortner eine recht gute Auswahl an Katalogen und Fachliteratur.
Beim Kunsthändler Kurt Kalb (mit Filiale in Berlin) sind immer
interessante Österreicher und Fundstücke aus dem Ausland zu
sehen. Die Galerie Ariadne setzt auf sensible Vielfalt, hier
lassen sich auch für kleinere Beträge interessante Arbeiten
aufspüren.
Zur engeren Gruppe der die Diskussion prägenden Galerien
zählt zweifellos die Galerie Peter Pakesch, die sich, versteckt
in einem Hinterhof, beim Franziskanerplatz angesiedelt hat.
Die alteingesessene Galerie Würthle wiederum zeigt, daß das
viele Geld ihres Besitzers, des österreichischen Zeitungszaren
Hans Dichand, auch keine Garantie für eine das Umfeld aktivierende
Risikobereitschaft ist. Vergleichsweise etabliert verhält
sich auch die Galerie Ulysses (mit Filiale in New York). Sozusagen
Off-Broadway versuchen sich das Werkstätten- und Kulturhaus
(WUK), die Medienwerkstatt oder die Produzentengalerie CULT
durchzuschlagen; ihr Programm: provokante Offenheit. Profilieren
konnten sich auch die Galerien Metropol, Knoll (mit Zweigstelle
in Budapest) oder die Fotogalerie Faber.
Insgesamt gibt es bis heute in Wien keinen finanziell gepolsterten
Kunstbetrieb, der aufsaugt, was er erwischen kann. Manche
halten das für gar nicht so schlecht, weil dadurch die verschiedensten
Kräfte frei bleiben. Die Museen haben kaum Geld für Ankäufe
oder fundierte eigene Ausstellungen. Zur Zeit werden sie wenigstens
baulich renoviert und erweitert. Das Kunstforum Länderbank
führt vor, zu was die Geldwirtschaft alles bereit ist (Architektur:
Gustav Peichl); vis-a-vis soll im Palais Harrach ein weiteres
Kunstzentrum entstehen.
Dennoch: Allem Anschein nach ist künstlerischer Erfolg im
wesentlichen selbstgemacht. Haltung und Ausdauer werden vielleicht
stärker gefordert als an anderen Orten. Und allzu agile Geschäftigkeit
wird allgemein nicht geschätzt. Künstler, die es schaffen,
von ihrer Arbeit halbwegs gut (manche sogar sehr gut) zu leben,
haben das hauptsächlich durch enge Kontakte mit auf sie eingeschworenen
Sammlern geschafft, gleichsam in einer subkulturellen Symbiose
gegenseitiger Bestärkung. Kommerzielle Spekulation war da
höchstens ein Nebenschauplatz, schon weil die Tradition, Zeitgenössisches
zu begreifen oder vielleicht sogar zu benutzen, in Wien seit
den zwanziger Jahren nicht mehr wiederbelebt werden konnte.
Daß dennoch so viel entsteht, rechtfertigt internationales
Interesse - auch wenn man sich nicht dazu versteigt, von Wundern
zu reden.
Neues Bauen im Kleinen
Wie sich das vom Ausland gesehene Wunderbare selbst darstellt,
das bekommt jeder in einer beliebigen Nacht im Café Alt Wien
mit, sofern es ihm gelingt, sich dort halbwegs intensiv einzuleben.
Als beliebtes Kaffeehaus ist es ein Beispiel dafür, daß sich
wichtige Tendenzen neuen architektonischen Schaffens in Wien
oft nur gesprächsweise durchsetzen müssen. Vieles bleibt klein,
marginal, unsichtbar. Der Blick des Fremden, der sich aufs
Große richtet, gleitet leicht darüber hinweg, zumal er meist
zuallererst Reste von früher sucht: die Ringstraße, die Palais
des Barock, die erhaltenen Teile der Altstadt. Dabei ist von
Wien aus die moderne Architektur entscheidend mitgeprägt worden.
Im Vergleich zu osteuropäischen und deutschen Städten ist
Wien im Zweiten Weltkrieg nur wenig zerstört worden, und was
an historischer Bausubstanz kaputt war, wurde vielfach wieder
aufgebaut. Die Narben sind unauffälliger als anderswo, und
das mag dabei mitspielen, daß man so gerne an die Tradition
der Jahrhundertwende anschließt und offiziell am liebsten
vergißt, was inzwischen alles geschehen ist. Aber auch die
Jahrhundertwende war keineswegs nur ein Schwelgen im Jugendstil
(beispielsweise beim Bau der Secession), wie es die Kulturoberen
glauben machen wollen. International haben gerade die Kräfte,
die sich von ihm deutlich abgrenzten, eine viel entscheidendere
Wirksamkeit gehabt. Das Café Museum zum Beispiel, das Adolf
Loos 1899 gestaltete, gilt vielen als erster moderner Innenraum,
die Loos-Bar von 1907 wurde zum Inbegriff einer perfekten
Lösung auf kleinstem Raum. Das nun renovierte Loos-Haus von
1910 am Michaelerplatz, gegenüber der Hofburg, gegen dessen
Errichtung es heftige Proteste gegeben hat, leitete eine streng
durchdachte, auf ein funktionsloses Schmücken verzichtende
Bauweise ein. Die Postsparkasse von Otto Wagner (1906) in
der Rosenbursenstraße ist in die Architekturgeschichte eingegangen,
seine Stadtbahn wurde zu einem Klassiker der Verkehrsbauwerke.
Ihre Erweiterung zur neuen U-Bahn, deren Stationen zum Teil
Wilhelm Holzbauer gestaltet hat, zeigt die Möglichkeit, an
einer Stadt weiterzubauen, ohne ständig etwas abzureißen.
Für die Entwicklung der letzten dreißig Jahre markiert das
kleine Kerzengeschäft Retti am Kohlmarkt von Hans Hollein
(1965) einen Meilenstein, und ihm schräg gegenüber steht eine
aktuellere Antwort desselben Gestalters auf die damalige radikale
Reduktion, das Juweliergeschäft Schullin (1983) mit seiner
exzessiven, ganz anderen Mythen nachspürenden Symbolik. Der
erste große Hollein-Bau in Wien, das 1990 fertiggestellte
Haas-Haus am Stephansplatz, hat heftige Debatten darüber entfacht,
welche Ansprüche von ihm alle nicht eingelöst worden sind.
Bisher jedenfalls ist der belebendste, qualitätvollste Teil
neuer Wiener Architektur auf Geschäfte und Lokale - auf das
Kleine also - konzentriert geblieben. Hermann Czechs Kleines
Café am Franziskanerplatz, seine Wunderbar in der Schönlaterngasse
und sein Restaurant Salzamt bei der Ruprechtskirche sind dafür
wichtige Beispiele. Das erhaltene Herrenmodegeschäft Knize
am Graben (Adolf Loos) ermöglicht Vergleiche innerhalb der
immer wieder auflebenden Wiener Tradition sorgfältig gestalteter
Einbauten in Bestehendes. Weitere neue Beispiele sind: das
Chinarestaurant Kiang von Richter und Gerngroß, das Café Stein
von "Eichinger oder Knechtl" oder der Rote Engel von Coop
Himmelblau.
Von den Großbauten haben sich praktisch alle den internationalen
Kommerzstandards gebeugt. Besonders monströs geriet das neue
Allgemeine Krankenhaus mit seinen uferlosen Folgeproblemen
und seiner unübertroffenen Kubatur. Ausnahmen: Die Stadthalle
von Roland Rainer aus den fünfziger Jahren, die Zentralsparkasse
in der Favoritenstraße und ihr Hauptgebäude am Wienfluß von
Günter Domenig, das Ronacher-Projekt von Coop Himmelblau,
das Museumsquartier in den ehemaligen Hofstallungen von Laurids
Ortner. Das Prägende am Modernen ist in Wien klein geblieben,
aber durchaus kräftig und zu allem möglichen fähig.
Wer sich genau informieren will, muß sich die zwei exzellenten
Wien-Bände von Friedrich Achleitners Architektur-Führer "Österreichische
Architektur im 20. Jahrhundert" besorgen.
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