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www.ChristianReder.net: Publikationen: Wiener Museumsgespräche: Peter Gorsen
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Universität für angewandte Kunst Wien
   

Wiener Museumsgespräche
Über den Umgang mit Kunst und Museen

Eine Publikation der Hochschule für angewandte Kunst in Wien.
Falter Verlag, Wien 1988

Thematisierung des angelaufenen Museumsbooms und der inhaltlichen und strukturellen Bedingungen für Reformen.

Gespräche mit Raimund Abraham, Arnulf Rainer, Kurt Kocherscheidt, Walter Pichler, Wilhelm Holzbauer, Hermann Czech, Cathrin Pichler, Christian Ludwig Attersee, Dieter Ronte, Peter Weibel, Oswald Oberhuber, Peter Noever, Alfons Schilling, Peter Gorsen

 

 

Gespräch mit Peter Gorsen

In den bisherigen Gesprächen hat sich als fast durchgehende Argumentationslinie ergeben, daß es zuallererst um den Kampf für eine Autonomie des Künstlers, um seine Selbständigkeit, um ein Akzeptieren künstlerischer Arbeit gehen muß und sich daher in Museen und Kunstinstitutionen genauso primär die Autonomiefrage stellt - trotz aller Einsichten in administrativ-kommerzielle, kapitalistische Gegenkräfte. Was ist noch real, was bloß fiktiv an solchen Forderungen?

Das Museum steht in der Tat im Schnittpunkt zwischen zwei Fragestellungen: Wie steht ihr zur Gegenwart und wie zur Verwaltung des Erbes ? Wenn die Autonomie des Museums heißt, daß es der Ort ist, an dem Kunst und Kultur konserviert werden, ein Ort der abgeschlossenen Geschichte also, dann ist diese Autonomie recht fragwürdig, denn er muß ja auch den Bezug zur Gegenwart herstellen. Anderseits sind die Menschen der Gegenwart geschichtsfeindlich. Woran liegt das ? Die Menschen der Gegenwart sind, global gesagt, durch die kulturellen Massenmedien geprägt. Sie sind gegenwartsbezogen, konsum- und sinnlichkeitsorientiert, zerstreuungsorientiert. Der heutige kulturell interessierte Mensch kommt also mit einer großen Erwartung ans Erlebnis, an Unmittelbarkeit, an Sinnlichkeit, mit einem an Alltagswahrnehmung gewonnenen Flanierbedürfnis an das Museum heran. Wenn das Museum dieser Erwartung nicht nachgibt, wird ein neuer ergänzender Museumstyp entstehen, der diesen Ansprüchen Rechnung trägt.
Man müßte daher zunächst einmal die gesellschaftlichen Veränderungen ins Auge fassen. Was ist heute Kultur ? Kultur und Gesellschaft waren ja einst voneinander abgrenzbar. Kultur und Kunst standen als autonome Blöcke der Gesellschaft gegenüber. In diesen autonomen Blöcken waren die klassischen Werte bewahrt; das Verum, Bonum, Pulcherum, das Wahre, Gute, Schöne, die idealistischen Werte. Man ging ins Museum, um ein Bildungswissen weiter zu fundieren. Man ging dorthin auch unter der Voraussetzung, daß mithilfe der Kunst Geschichte reflektiert wird, daß man seine eigene Position innerhalb dieser Geschichte reflektiert. Es ging also um weitgehend alles, was wir mit bürgerlichem Bildungsanspruch in Zusammenhang bringen. Das hat sich natürlich heute verschoben. Das Wahre ist kaum noch vom Falschen, das autonome Subjekt kaum noch vom verdinglichten Totalen, das Schöne kaum noch vom Häßlichen unterscheidbar. Konnte Kultur früher noch als autonomer Bereich der Gesellschaft gegenübergestellt werden, so durchdringt heute die inszenierte Kultur alle Lebensbereiche und Tätigkeiten. Bei der Finanzierung von Kultur allerdings gilt sie weiterhin als Luxus, anstatt als wohlfeile Vergesellschaftungsform. Immerhin wird aber doch sichtbar, daß Kultur und Kunst heute für Politik und Wirtschaft attraktiv werden, weil sie der Selbsterhaltung und den Kommunikationsdefiziten dieser Bereiche nützlich gemacht werden können. Die Massenkultur ist im Alltag fest etabliert. Kultur ist heute industrialisiert. Kunst, Kultur und Leben werden eins oder sind weitgehend eins geworden, freilich in einem ganz anderen Sinn als es der marxistischen Utopie der 60er Jahre vorschwebte. Die Kulturgesellschaft, wenn man das als eine Definition nimmt, zeigt, daß Gesellschaft heute als Kultur angeeignet wird, daß also Kultur heute eine Form der Vergesellschaftung ist, eine neue Form der Synthetisierung oder der Integrierung des Menschen. Kultur ist ein Medium zur Herstellung von Massenloyalität geworden. Was passiert denn heute ? Überall Feste, überall Inszenierungen, überall Kunst im öffentlichen Raum.
Wir haben also eine eigenartige Vermischung von Kultur, Kunst auf der einen und von Alltag, Masse auf der anderen Seite. Über Kultur läßt sich heute sehr einfach und am besten diskutieren. Ich würde sagen, der Schlüsselbezug dabei ist die Reduktion von Komplexität. Die Welt ist sehr komplex. Wirtschaftsprozesse sind komplex, technologische Prozesse sind komplex. Keiner kann sie durchschauen. Demgegenüber übernimmt die Kultur eine entlastende Funktion. Über Kultur kann man heute die Massen noch zusammenbringen. In der Masse erzeugt Kultur eine stimmungshafte Kollektivität, die nicht so anspruchsvoll und schwierig ist, wie etwa der Diskurs mit modernen Techniken, mit modernen (natur)wissenschaftlichen Erkenntnissen und Wirtschaftsprozessen. Die versteht niemand, die hält niemand mehr aus. Man braucht Kultur auch als Politikersatz und als Religionsersatz. Denn Politik und Religion sind fragwürdig geworden. Die sinnstiftenden universalistischen Weltbilder, die angeboten werden, sind im Veralten, im Aussterben. Und an die Stelle dieser verlorenen Universalia tritt die Kultur als synthetisierendes, integrales Moment rettend auf den Plan. Sie lenkt natürlich auch ab. Zur Funktion der Reduktion von Komplexität kommt also, vereinfacht gesagt, noch die Ablenkungsfunktion hinzu, die Ablenkung von Politik etwa oder von schwierigen Problemen, den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Spielraum sinnvoll zu organisieren.
Innerhalb dessen, was man Kulturgesellschaft nennt, kann nicht mehr so absolut und selbstbewußt von der Autonomie des Museums oder von der Autonomie der Kunst, der Künstler gesprochen werden. Ihre traditionellen Selbstständigkeiten werden von der industriellen Massenkulutur immer mehr relativiert.

So vermessen auf Autonomie pochend ist auch kaum jemand, der darüber nachgedacht hat. Im Alltag kulturpolitischer und bürokratischer Vorgänge jedoch wird ständig vorgespiegelt, daß es eine Selbstbestimmung gäbe, daß sich ohnedies niemand in Inhalte einmische, daß autonome Museen etwa längst Realität seien. Vielleicht könnten wir deshalb den geschichtlichen Prozeß, der zu den heutigen Zuständen geführt hat, noch etwas präziser beleuchten.

Jürgen Habermas beschreibt sehr exakt den Mitte des 19. Jahrhunderts beginnenden Entfremdungsprozeß des Publikums zwischen "connaisseurs" und Kunstspezialisten auf der einen und der großen Masse der Kunstkonsumenten auf der anderen Seite. Die öffentliche Sphäre des sachkundig räsonierenden Kunstpublikums ist seitdem gespalten in das Fachwissen professioneller Kenner und eine fachlich entmündigte, nur zur Akklamation aufgerufene Mehrheit, die ihre Interessen von Vereinen, Verbänden und Parteien kollektiv vertreten läßt.
Was einst im öffentlichen allgemeinen (bürgerlichen) Interesse geschah, wird jetzt fingiert, wird durch Werbung, Public Relations oder die Selbstdarstellung einer Ware ersetzt, die den Schein eines öffentlichen Interesses angenommen hat. Das Publikum verliert bzw. überträgt seine Kontrolle über die Kunstrezeption und den Markt an den Professionalismus der Museen und der Kunstpublizistik, die sich ihrerseits häufig isoliert und unverstanden fühlen. Das Publikum gerät durch seine institutionellen Interessensvertretungen in die Abhängigkeit ökonomischer und politischer Interessen. Es ist bekannt, daß der Bestand und der Ankaufsetat der Museen von beruflichen Kennern besorgt wird, die einerseits weisungsgebundene Vertreter der staatlichen Bürokratie sind, andererseits den "freien Markt" beobachten und sich mehr oder weniger angepaßt seiner bedienen.
Insbesondere die Museen moderner Kunst sind eine Konstruktion, die - wie die Kunstvereine, Galerien und in eigener Initiative ausstellende Großsammler - der privaten Kunstproduktion für den Markt, den dort konkurrierenden Kunstunternehmern, eine öffentliche Anerkennung und ideologische Rechtfertigung zuteil werden läßt. Als Spiegel des Kunstmarktgeschehens befindet sich das Museum in einem prinzipiellen Widerspruch mit seinem Öffentlichkeitsauftrag für die Kunstinteressen aller Staatsbürger, was Kritiker und Historiker der museal "geadelten" Kunst mitreflektieren und in ihre axiologische Perspektive einbeziehen müssen.
Das Museum plädiert einerseits für eine unparteiische Öffentlichkeitsarbeit, beansprucht, auf der Seite der antimanipulativen kritischen Intentionen des Kunstwerks zu stehen und einen öffentlichen Meinungsaustausch auch für ungeliebte Kunstformen stiften zu wollen. Andererseits fehlt dem Museum der freie, distanzierte Blick, da die von ihm zu pflegende innovative Gegenwartskunst sich zwangsläufig in der Abhängigkeit vom Markt und seiner Tauschwertproduktion gerade erst durchsetzt. Dieser Interessenskonflikt wird ohne Mitbestimmung des Publikums kompromißhaft in den Museen selbst ausgetragen. Sie sind diejenigen Institutionen, die wesentlich mitentscheiden, was schließlich als anerkannte, durchgesetzte, qualitätvolle Kunst in der Sphäre des Konsums publik wird.

Der gegen Autonomieansprüche und einen neu zu festigenden Status der Museen - als öffentlichen und nicht kommerziellen Interessen zugewandte Institutionen - wirkende Druck der Verhältnisse muß aber doch weiterhin nicht dazu verführen, ihm blindlings nachzugeben.

Das Museum steht schlicht vor der Frage, wie es diesem hier skizzierten Entwicklungsprozeß Rechnung trägt. Paßt es sich nun total an und erzeugt einen zeitgemäßen Museumstyp, in dem der Unterhaltungswert, der Sinnlichkeitswert, der Unmittelbarkeitswert stark ausgebildet sind oder versagt es sich kritisch und konservativ dieser neuen Entwicklung, sich vor ihr zurückziehend, sich darauf konzentrierend, ein Ort der Gelehrsamkeit, eine Oase der noch an Kunst historisch und reflektorisch Interessierten zu sein. Wenn das der Fall ist, dann veraltet das Museum.
Wir hätten künftig also zwei Museumstypen. Das klassische Museum veraltet in dem Sinn, daß es immer mehr die Konservierung von Geschichte übernimmt und daneben entsteht ein neuer Museumstyp, der dem Unterhaltungswert, der Frage der Unmittelbarkeit, der Ereignishaftigkeit der allgemeinen Kultur Rechnung trägt. Die Beispiele dafür existieren ja längst; das Musée d'Orsay und natürlich das Centre Pompidou, das schon auf seinem Vorplatz spezifische Merkmale des neuen Museums zeigt. Das Volksfest, überhaupt das Fest, den festlich gehobenen Alltag, vom Feuerschlucker bis zum Trivialporträtisten. Alles gehört in diesen Bereich und interessiert die Massen, weshalb der Museumstyp des 21. Jahrhunderts dieses Moment integrieren wird. Dazu gehört auch die Tatsache, daß die Ausstellungsinszenierung immer gefragter, immer häufiger wird und sie das Museum als Ausstellungsprinzip verdrängt. Der Kulturtourismus und die Kulturgesellschaft sind auf Orte der inszenierten Kultur fixiert, auf Ereignisse. Große historische Ausstellungen trösten uns darüber hinweg, daß wir die Welt nicht mehr begreifen. Sie trösten uns durch Erleben und den Genuß der Inszenierung. Die Gegenwart verschlingt und beschleunigt das Vergessen der Geschichte. Man rückt mit dem Erlebnis den Augenblick, die Zeitvergessenheit, vielleicht sogar die Ekstase in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Nicht die Geschichte des Objektes ist noch wichtig, sondern wie sie durch Inszenierung erlebt werden kann.
Jeder Ort kann also zum Museum designiert und inszeniert werden. Die gewohnten Museen werden wahrscheinlich im 21. Jahrhundert zu Archiven des Vergessenen, zu Denkmälern, zu Oasen der Bücherweisheit werden. Man kann in diesem Zusammenhang auch vergröbernd von E- und U-Kultur oder von Doppeldeckerkultur sprechen, mit einem Begriff, den Herbert Read vor vielen Jahrzehnten vorausschauend geprägt hat. Er besagt einfach, daß wir uns auf zwei Ebenen bewegen, der der E- und der der U-Kunst und ich bin überzeugt, daß diese Entwicklung sich in dem Maße verschärfen wird, wie der Erkenntniswert der historischen Kunst zurücktritt und der Genuß- und Konsumwert wichtiger werden. Mit dem Isolierungs- und Schrumpfungsprozeß der E-Kunst geht das Veralten des historisch gewachsenen, vorhandenen klassischen Museums einher.
Wir werden in Zukunft diese beiden Museumstypen gleichzeitig haben, den Ort, an dem das Erbe und die Geschichte bewahrt werden und jenen Ort, den man aufsucht, um zu flanieren, um sich zu unterhalten, um zu spielen, um Spaß zu haben an dieser Sache. Dort werden überschwengliche Bilder- und Galeriestraßen entstehen, man wird stets neue Attraktionen erwarten und den unkomplizierten, direkten Einstieg in die Kunst haben wollen, es werden kulturell unspezialisierte Freizeit-Menschen hineinströmen.
Niemand wird ernsthaft wegen der Rezeption kunstgeschichtlicher Werke hingehen. Wichtig wird nur sein, am Prozeß eines kollektiven ästhetischen Erlebens beteiligt zu sein, das das früher von der Kunst ermöglichte auratische Erlebnis des Einmaligen durchaus einschließen kann.

Diese Art von oberflächlich-sinnlicher Kollektivität, die nicht gerade mitreißt, aber träge und daher umso unausweichlicher alles in die beschriebene Richtung treibt, ist es ja, die konträr gerichteten Forderungen Kraft verleiht, im Sinne einer Notwendigkeit, in dieser im Fluß befindlichen Gesellschaft abhängigkeitsfreie Inseln für ein persönliches, subjektives Agieren zu schaffen, sie zu verteidigen - selbst wenn die Ableitung einer Museumsautonomie von der Künstlerautonomie her und eine Bestärkung der Autonomie des Museumsbesuchers anachronistisch erscheinen muß. Zugleich gerät man damit in die Nähe von Privatheit, von Privatisierung öffentlicher Funktionen, was wiederum Möglichkeiten und Gefährdungen mit sich bringt.

Sicher. Autonomieforderungen sind eine Reaktion auf diesen Auflösungsprozeß. Die geforderte Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Museums ist eine Antwort auf die Krise und Auflösung des Verständnisses von (Kunst)geschichte. Sie ist eine Reaktion auf das - jetzt negativ und anti-postmodern betrachtet - bloße Konsumieren von Kunst, die zum Selbstbedienungsladen einer neuen eklektizistischen und historistischen Mode wird. Man erinnert sich, daß Kunst letztlich inkommensurabel, nicht vergleichbar, also nicht unbedingt auf Kommunikation aufgebaut ist und sie in erster Linie einen Erkenntniswert oder auch nur einen Selbstausdruck darstellt, der quer zur Gesellschaft und ihren Entwicklungen stehen kann.
Mit der Autonomie des Künstlers, des Museums, wird also auch dieser Erkenntniswert oder Selbstausdruck der Kunst verteidigt und vielleicht auch der sozialkritische Ort der künstlerischen Arbeit schlechthin. Da aber ist der Widerspruch.
Moderne Gesellschaften entwickeln sich offensichtlich nicht weiter über eine autonome Kunst und über den Erkenntniswert von Kunst, sondern über die Auflösungserscheinungen der Kunst. Das beste Beispiel ist, wie Kunst heute inszeniert wird, und daß die Inszenierung von Kunstobjekten wichtiger wird als die Objekte selbst. Von Harald Szeemann etwa und gerade in Österreich von Holleins "Traum und Wirklichkeit" bis hin zu Veranstaltungen von Paul Kruntorad oder André Heller sind markante Beispiele dafür geliefert worden, daß nicht die schlichte Autonomie der Kunst den Erfolg macht, sondern gerade die Einbettung einzelner sich ausschließender Artefakte in einen allgemeinen, sinnlichen, hochgradig inszenierten Rezeptionszusammenhang. Die Auflösung von künstlerischer Inkommensurabilität und Disfunktionalität und eine Verschiebung hin zu neuen Arten des Funktionierens, bei denen Kunst für Wirtschaft und Politik als Schmuck dienen kann, als Medium für Public Relations, findet mittelbar auch in den neuen Ausstellungsinszenierungen einen Ausdruck. Natürlich kann ich widersprechen und sagen, das Argument von der Autonomie der Kunst ist richtig und die Gesellschaft hat dafür zu sorgen, daß der Erkenntniswert der Kunst ein öffentliches Forum bekommt und daß unsere Museen nicht zur Spielwiese der neuen Entwicklungen werden dürfen.
Zugleich kann ich aber diese neuen Entwicklungen nicht einfach ignorieren. Ich muß mich nur entscheiden, was ich will. Will ich den Massen entgegenkommen oder will ich das Erbe und einen Reflexionsanspruch gegenüber der Kunst und ihrer Geschichte bewahren. Will ich also geschichtliche Erfahrung oder will ich unmittelbares Erleben und Erlebnishaftigkeit. Dieser Antagonismus läßt sich offensichtlich auch nicht einfach durch den Bau eines modernen Museums beseitigen.

Sie haben selbst den Benjaminschen Begriff des Flanierens verwendet, der in meinen Augen sehr gut für das generell - also Fremde und Einheimische betreffende - touristisch gewordene Verhalten paßt. Eine "bürgerliche Öffentlichkeit" im Sinn ursprünglicher Museumsintentionen hat da keinen Platz mehr, selbst die Museumsvereine, in denen sie sich intensiver personifiziert hat, ändern ihre Funktion, weg vom Bildungsanspruch, hin zur Finanzierungsinstanz. Als "Öffentlichkeit" bleibt die Medienresonanz übrig und vielleicht noch die Besucherstatistik.

Das liegt alles auf der gleichen Linie. Natürlich sind diese Entwicklungen dem ernsthaft an Kunst interessierten Menschen, dem Künstler, dem Nachdenklichen unerträglich. Der Intellektuelle wünscht ja nicht ein totales Aufgehen in Konsumation, sondern er nimmt die Kunst ernst als Erkenntnismöglichkeit und er nimmt sie auch als Differenz zur Gesellschaft ernst, als eine andere Qualität. Aber er kann nichts ändern an einer tendenziellen Entwicklung, die gegen ihn und trotz seiner stattfindet. Unsere Gesellschaft ist antagonistisch strukturiert und diese Antagonismen prägen ihr kulturelles Verständnis. Wir stehen in Wahrheit nicht vor der Entscheidung für das eine oder das andere, sondern müssen den Antagonismus so nehmen wie er ist, als vorgegebene Entwicklung.
Ich sehe nicht, wo diese intellektuelle, nicht zuletzt ethische und sozialkritische Position, um die es uns hier geht, vom gesellschaftlichen Wandel und vermeintlichen Fortschritt ihre Nahrung bekäme. Wir sprechen, wahrscheinlich mit dem Rücken zur Wand, von Protesthaltungen und Bürgerinitiativen und müssen selbst deren Veränderungen im Auge behalten. In den 60er Jahren hatten wir medienkritische, inzwischen seltsam veraltet anmutende Konzepte. Wir hatten allenfalls noch die Hoffnung, daß Kunst und Leben, Kultur und Leben sich versöhnen, die Hoffnung einer marxistischen Utopie also, wo jeder nach seinen Fähigkeiten und seinen Möglichkeiten Kunst machen kann oder Kunst erfahren kann.
Was aber ist eingetreten ? Kunst ist zwar total geworden, aber in einem ganz anderen Sinn. Sie ist tendenziell ein Erlebnismedium geworden, ein Unterhaltungsmedium und nicht ein Medium der kritischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Wir werden über Kultur vergesellschaftet, wir werden über Kultur versinnlicht und kollektiviert. Und das ist eine Ablenkung von den wirklichen Problemen. Nur funktioniert das alles so gut, weil wir nicht tagtäglich die ganze Last der Komplexität dieser Welt ertragen können. Wir verstehen sie nicht mehr. Dennoch müssen wir aber irgendeine Form der kulturellen Identität, der Aneignung gegenüber der Welt finden. Da die Weltbilder der Religion und andere sinnstiftende Weltanschauungsbilder obsolet geworden sind, sie nicht mehr universell in Geltung sind, sondern durch szientifisches Einzelwissen, durch spezialistische Forschungsergebnisse, die sich unserer Einsicht entziehen, ersetzt wurden, muß eben das eigene Subjekt für sich allein und auf häufig abenteuerliche Weise (wie im Prinzip auch der Künstler) diese Aneignung leisten. Das schafft es nur über die inszenierte Kultur, also über weniger komplexe, einfachere Erlebnisformen.

Das diesem Erlebnisdefizit dienende, fast schon permanente Fest mit seinen Inszenierungen, die zunehmend weite Stadträume erfassen, hat doch etwas von 3-D Fernsehen, von räumlichem Fernsehen an sich, im Sinne vorbeiflutender Bilder. Haben museumsähnliche Einrichtungen also tatsächlich kaum Chancen, dem Einzelnen mehr zu bieten, Intensiveres zu bieten als das Medium "Fern"-Sehen ?

Von der Tendenz her nicht. Sicherlich könnten sie mehr bieten. Ob es angenommen wird oder "rüberkommt", ist die entscheidende Frage. Das Museum kann nur auf Bedürfnisse antworten und die primär von den Massenmedien erzeugten und befriedigten Bedürfnisse der Subjekte sind tendenziell antimuseal, antihistorisch, kunstfeindlich. Die Medien, in denen wir täglich waten und leben, vernichten Geschichte und alle Instanzen, die heute noch für ein Gedächtnis in bezug auf Geschichte plädieren.
Viele Künstler arbeiten gegen die Massenkultur, auch wenn sie sich ihrer fortschrittlichen technologischen Mittel bedienen. Um einen positiven Bezug zum Museum zu bekommen, kann ich nur die Position des Einzelnen, des Intellektuellen, des Künstlers, des Kunsthistorikers, letztlich eines Saboteurs einnehmen, der sich der Egalisierung durch die Medienkultur entzieht, also eine jener Positionen, die langsam verkümmern und ausfallen. Was für das klassische Museum zynischerweise übrig bleibt, ist die Verwaltung des Erbes. Man geht in ein Archiv, in eine Oase, um irgendwelche Dinge zu erforschen, zu erfahren. Ein solches Museum aber kann weder einen Anziehungspunkt, noch einen kritischen Anknüpfungspunkt für den kulturellen Massenmenschen von heute darstellen.
Das ist das Problem. Sonst gäbe es ja nicht den neuen Museumstyp, der sich schrittweise neben den traditionellen Bildungsanstalten bürgerlicher Herkunft etabliert.

In den für diese Publikation geführten Gesprächen sind Vorstellungen konkretisiert worden, die auf ein Museum mit völlig offenen Strukturen abzielen, mit einer Trennung von - gegebenenfalls begehbaren - Depots und großzügigen Ausstellungsmöglichkeiten. Walter Pichler spricht vom Museum als Baustelle, für den Messepalast werden Überlegungen angestellt, an ihm jahrzehntelang weiterzubauen, im Sinne einer schrittweise neu zu besiedelnden Piranesi-Ruinenlandschaft. Peter Weibel fordert technologisch bestens ausgestattete Aufführungsorte und ein Museum des Immateriellen. Raimund Abraham will ein etymologisches Neuüberdenken mit der Studierkammer als Wurzel. So unterschiedlich die Ansätze auch sein mögen, sie zielen auf das Wiedererlangen einer verlorenen Intensität ab.

Es sind dies Gegenpositionen, soferne sie auf die Bedeutung des Museums als Ort der Reflexion, als Ort der Erfahrung und des Wissens, aber auch der experimentellen Arbeit der zeitgenössischen Kunst mit der Vergangenheit abzielen. Inwieweit nicht auch dabei einer postmodern inszenierten Kultur Vorschub geleistet wird, wäre zu prüfen. Peter Weibel z. B. ist ein radikaler Anhänger der antimimetischen Techno-Transformation der Welt. Vielleicht finden sich auch Wege, den Auftrag des Museums von der Rekonstruktion der Geschichte auf die Konstruktion der Zukunft zu erweitern. Gegen die klassischen Aufgaben und Definitionen des Museums zu arbeiten, wird jedenfalls sehr schwer sein. Wir haben ja nur wenig wirkliche Neuplanungsmöglichkeiten. Im wesentlichen geht es um die alten Museen.und ihre Veränderung.
Das Kunsthistorische Museum steht völlig im Gegensatz zum Erlebnismuseums des 21. Jahrhunderts. Aber man kann sicher beides nebeneinander entwickeln. Eine klassische Moderne aus 19. und 20. Jahrhundert etwa ließe sich so organisieren, daß man zu diesem offenen Prinzip kommt, zu diesem Bauplatz. Es ist nur die Frage, wie man diesen Bauplatz interpretiert, entweder ganz im Sinne einer inszenierten Bühne mit Gesamtkunstwerkcharakter oder ganz nüchtern, wissenschaftlich. Die verschiedenen Formen der Geschichte können ja zu ihrer Aneignung entweder rein sachlich und sozial erfahrbar inventarisiert, oder in opernhaft erlebbarer Intensität inszeniert werden.

In diesem Spannungsverhältnis steht Museums- und Ausstellungsarbeit aber doch in Permanenz. Selbst gegen die extreme Nichtinszenierung läßt sich der Vorwurf der "puren" Show erheben; die Herausforderung ist vielleicht, wie jeweils Authentizität gegen oder für Berührung, Ergriffenheit, wirksam wird.

Otto Wagner z. B. hat sich in seinem Projekt für das Stadtmuseum am Karlsplatz deswegen zum Zeitgeist quergestellt, weil er ein ganz sachliches Museum, einen Ausstellungspeicher haben wollte. Ähnlich ist es ihm mit seinem Projekt für das Technische Museum ergangen, das er dokumentarisch, nur auf Geschichtsdaten ausgerichtet, konzipiert hat, mit Räumen, die sich dem Gezeigten und der zugehörigen Zeit in keiner Weise anpassen sollten. Die Zeit war aber dagegen, beide Vorhaben sind bekanntlich nicht realisiert worden und zwar deswegen, weil sie nicht der damaligen Tendenz, Räume so zu inszenieren, daß sie zu den Exponaten stilistisch paßten, Rechnung trugen. In den kunsthistorischen Instituten ist man auf diese Denkweise eingeschworen gewesen, auch das Kunsthistorische Museum. In der ägyptischen Abteilung sind originale ägyptische Säulen in die Räume eingebaut worden, sodaß Architektur und Exponate zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen, zu einem Stimmungsraum, in dem ein nachempfundenes ägyptisches "Environment" hergestellt wird.
Das weist bereits in Richtung unserer Gegenwart mit ihrem merkwürdigen Anspruch, ein Kunstwerk nicht schlicht auszustellen, sondern es in einen inszenierten ästhetischen Raum zu betten, der zu ihm paßt. Eine positivistische, aufklärerische Position, die sich den Ablenkungsformen der inszenierten Kultur verweigert, ist heute fast nicht mehr die aktuelle. Sie hat es sehr schwer, sich gegen eine Einstellung zu verteidigen, die davon ausgeht, daß der Besucher eigentlich nichts weiß, daß er im Grunde ein ästhetischer Analphabet ist und man ihm daher eine gewisse Einstimmung vermitteln muß, um ihn wenigstens gefühlsmäßig anzusprechen.
Warum ist denn seit sechs, sieben Jahren die Museumspädagogik out ? Sie hat doch den klassischen Museumsbegriff verteidigt, sie ist davon ausgegangen, daß Kunst Erkenntniswert hat, man also historisch kommentieren, vermitteln, zur Reflexion führen muß. Museumspädagogik ist schlicht deswegen nicht mehr so gefragt, weil der Erlebniswert heute weit höher geschätzt wird, als der "biedere" Erkenntniswert und Bildungswert der Kunst. Verschiedene Kräfte wehren sich dagegen, die meisten aber, die Simulations-Fanatiker der Postmoderne propagieren die neue Entwicklung. Es gibt viele, die den "kulturellen Fortschritt" begrüßen und nun alles diesem kulturellen Wandel anpassen wollen, sei es mit einer Kunst, die über modernste Technologien verfügen muß, sei es mit "Museen", die natürlich ebenfalls modernste Technologien und Zerstreuungsqualitäten haben müssen. Das alles läßt sich durchaus an der momentanen gesellschaftlichen Entwicklung zum Kulturboom ablesen.
Ich würde vom Prinzip her auch sagen, daß wir an beidem festhalten müssen: an der Reflexionsbasis, am Erbeund an der fortschrittlichen Weiterarbeit für die Zukunft, am Bauplatz. Ob man das in einem einzigen Museum zusammenbringt, halte ich für fraglich. Man müßte es erst einmal bauen. In Wirklichkeit haben wir ja zwei Sphären. Die alte Kunst kommt in die alten Museen, die neue Kunst kommt in die postmodernen Museen. Ein neues Museum aber müßte man doch grundsätzlich für Jahrhunderte bauen. Die Vorstellung von der Baustelle ergäbe nur einen Sinn, wenn sie für alte und neue Kunst installiert wird. Ein Abkoppeln würde erneut den Irrtum bekräftigen, daß Geschichte nicht zu einem Erkenntniswert für die Gestaltung der Zukunft beitragen muß. Auf so einem permanenten Bauplatz müßte daher vehement gegen die enthistorisierenden und antihistorischen Tendenzen in der modernen Erlebniskultur gearbeitet werden. Nicht die Geschichte, die moderne Erlebniskultur ist das Problem. Das Museum muß sich ihm stellen, dürfte sich dieser Art von Kultur aber nicht andienern. Es muß immer noch dem Subjekt eine Chance lassen, zu dieser Erlebniskultur kritisch zu stehen.
Die Frage ist nur, wie macht man das ? Denn hinter der Erlebniskultur steht natürlich eine totalitäre industrialisierte Kultur, der ganze Komplex, den man Kultur- und Bewußtseinsindustrie nennt. Ihrer Gewalt steht das Museum gegenüber. Es soll nicht resignieren, aber es kann immer nur in der Position des kritisch Reagierenden sein.

Aus dieser Art von Aufklärungsarbeit werden Museen sozusagen systematisch herausgehalten. Das neue Museum für industrielle Arbeitswelt in Steyr ist ein Ansatz in dieser Richtung. Kräftige öffentliche Institutionen aber, die sich offensiv, analysierend, fragend, aufzeigend mit der Computergesellschaft, mit der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft, mit Energiefragen, mit der Umweltzerstörung oder mit Fragen der Dritten Welt befassen, konnten trotz aller Liberalität nicht entstehen. Immerhin hat es in Wien einmal Otto Neuraths berühmtes Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum gegeben.
Für eine Weltausstellung, wie sie möglicherweise 1995 in Wien und Budapest stattfinden wird, lassen sich klarerweise viel unbekümmerter die Mittel aufbringen. Das nur als Hintergrund zum - durchaus erklärlichen - Faktum, daß offensichtlich heute Konservative das moderne, lebenslustige Museum wollen, während Progressive, so schwammig diese Bezeichnungen auch sein mögen, vielfach zu Verteidigern des Konservativen geworden sind.

Die Dialektik von Begriffen wie progressiv und konservativ ist eben eine komplizierte. Natürlich muß das Progressive oft zum Konservativen werden. Nehmen wir uns aber, um dabei zu bleiben, das Stichwort "Weltausstellung" her. Es ist paradox und selbstmörderisch, daß sich gerade Wien beworben hat, eine für ein solches Vorhaben ungeeignete, von ihrer gesamten Kulturpräsentation her so (kunst)geschichtsbewußte Stadt, die eigentlich selbst ein Museum, auf die Bewahrung des Erbes ausgerichtet ist. Wenn ich den nicht unproblematischen Begriff "Weltausstellung" richtig verstehe, soll es dabei doch um die Präsentation von ganz modernen Errungenschaften gehen, um den neuesten Stand des Fortschritts; in Wahrheit also um Fragen, wo die Gesellschaft heute steht, um Unterschiede zwischen Gesellschaften, um den bedenklichen Fortschritt der Zivilisation heute. Idealerweise sollten die neuesten (Fehl)entwicklungen auf allen Gebieten gezeigt werden, inklusive der postmodernen wie technologiegläubigen Gegenwartskunst.
Der Kontrast, den das historische Wien dazu zu bieten hat, ist natürlich interessant. Ich frage mich nur, inwieweit diese Stadt dafür gerüstet ist und ob sie sich damit nicht einer problematischen Anpassung und Entwicklung aussetzt, die sie eigentlich nicht wollen sollte. Sicher sind es wirtschaftliche Motive, die dahinter stehen, nicht eine weitsichtige Kulturpolitik. Man glaubt, die Stadt für eine Anbindung an die EG attraktiv zu machen, für die Welt des Fortschrittes und der Prosperität überhaupt. Der Minderwertigkeitskomplex durch die neutralitätsbedingte Randsituation hat ja immer wieder zu einer Politik unrealistischer Großprojekte geführt. Das ist alles irgendwie verständlich, nur frage ich mich, ob nicht eine andere, ganz künstliche, synthetische Stadt mit wenig Tradition und ohne (kunst)geschichtlichen Hintergrund dem Fortschrittdogmatismus einer solchen Weltausstellung viel besser entsprechen könnte, eine Art Brasilia in Europa. Man muß doch auch das zerstörerische Moment sehen, die Eingriffe in die musealen Qualitäten der Stadt Wien, für die das Ruinieren des Heldenplatzes durch bunkerartige Autobuszufahrten in die neue Tiefgarage bloß der Anfang eines hybriden "Kulturshopping" sein dürfte.

Das führt mich zum Thema "Reform von oben", "Reform von unten". Im Zusammenhang damit sind Hoffnungen in eine Zentralisierung der Kompetenzen gesetzt worden, in einen Umbau der Ministerienstruktur. Zugleich kursieren Ideen über einen Museumsverbund. Die in dieser Publikation versammelten Stimmen setzen viel eher auf Dezentralisierung, auf eine Vielfalt möglichst autonomer Kultureinrichtungen, von den Galerien bis hin zu den Museen und zu neuen Institutionen und auf strukturelle Impulse in dieser Richtung. Wie ist Ihre Argumentation zu solchen grundsätzlichen Fragestellungen ?

Wir können nicht warten, bis Reformen von oben irgendwann eintreffen. Solange von unten keine Impulse geliefert werden, passiert auch oben nichts. Aber natürlich müßte beides Hand in Hand gehen. Man kann über Reformen, über eine Modernisierung, über eine Rationalisierung nicht per Plebiszit entscheiden. Dazu braucht es die wissenschaftliche und technische Intelligenz, das organisatorische Instrumentarium.
Die Forderung von Reformen muß von unten kommen und dann muß oben prompt reagiert werden - oder man wählt die Oberen ab. Wir leben in einer politischen Demokratie und ihre Regeln müssen die Richtung des Weges bestimmen. Anders geht es gar nicht. Alles, was heute in einer veränderten Museumslandschaft an Positivem passiert, ist weniger oder gar nicht ein Verdienst bestimmter Museumsdirektoren, sondern das Verdienst einer gewissen Öffentlichkeit, die dazu animiert worden ist. Die Intentionen sind publizistisch angetragen worden und nur auf diesem Weg lassen sich bestimmte Veränderungen provozieren.
Auf politischer Ebene muß sich gleichzeitig die Einsicht entwickeln, daß bestimmte Willenskundgebungen darüber, wie ein Museum und die Museumslandschaft aussehen sollen, eine Tatsache sind. Dazu muß man in ein Gespräch über die Zukunft des Kunstmuseums eintreten, das ja nicht irgendwelchen Spezialisten und Gelehrten gehört, sondern für alle Menschen da sein muß. Da aber hinter diesen Menschen überall die einflußreiche Medienkultur steht, die das Museum zum Unterhaltungshaus machen will, muß mit diesem Faktum kulturpolitisch gerechnet werden. Das geht nur über kritische Eingrenzungen des Zeitgeistes.
Es muß ein grundsätzlicher, ein dialektischer Prozeß zwischen der Geschichtsbewahrung und der Aneignung von Gegenwarts- und Zukunftsaspekten eingeleitet werden. Vor allem für den Museumsbesucher und erst in zweiter Linie für den pro domo orientierten Künstler. Der Besucher muß die Reibungsfläche haben zwischen Geschichtsbetrachtung und Unterhaltungswert. Er darf also nicht grundsätzlich glauben, daß es richtig sei, beim guten Alten anzufangen, statt beim schlechten Neuen, um ein Brecht-Zitat aufzunehmen. Beides soll ihm gleich zugänglich sein. Er muß ja die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleichen können. Die Vergangenheit dient ihm ja zur Bewältigung der Gegenwart. Das Museum steht, wie ich schon betont habe, genau im Schnittpunkt beider Interessen, im Schnittpunkt von Fortschritt und Bewahrung des Erbes, im Schnittpunkt von Erfahrung und unmittelbarer Gegenwart.
Peter Noever hat meiner Einschätzung nach für das Österreichische Museum für angewandte Kunst die Zeichen der Zeit verstanden; seine publikumswirksamen (über Kritik nicht erhabenen) Ausstellungsinszenierungen, die auf dem Ring signalsierenden Maste und Fahnen demonstrieren, daß hier ein Festhaus der neuen Kulturgesellschaft im Entstehen ist. Warum sollte es nicht auch solche Festhäuser im ganzen Land geben, mit aktiven musealen Einrichtungen in den ungenutzten Schlössern zum Beispiel ?
Ein gewisses Maß an Zentralisierung in der Museumsstruktur, im Messepalast vor allem, halte ich allerdings für einen nicht nur dem Kulturtourismus, sondern einem rationalen (auch Zeit und Geld sparenden) Kulturverständnis entgegenkommenden Schritt. Plausibel wäre auch, in diesem Sinn Sammlungen umzusortieren, um prägnantere, sachlich zusammengehörige Schwerpunkte zu bekommen, und natürlich ist eine Rationalisierung bei den Werkstätten, bei der Restaurierung, bei den Betriebsabläufen ein wichtiger Punkt.
Wesentlich wäre auch eine Diskussion über zu verändernde Rollenbilder des Kunsthistorikers in Richtung Interdisziplinarität, Kooperation mit anderen Sparten, Akzeptierung von kunstwissenschaftlich Fachfremden im Museum. Daß die sich ständisch verstehende Kunsthistorikerzunft Managementaufgaben und Ausstellungsinszenierungen nicht aus der Hand geben will und hier bereits erste negative Erfahrungen gemacht hat, ist schlicht ein Hinweis auf unreflektierte Herrschaftsansprüche, die ohnedies bald von der Entwicklung zu mehr interdisziplinären Formen in der Kultur- und Kunstarbeit überrollt sein werden.
Der entscheidende Punkt wird aber sein, inwieweit die Wiener Fixierung auf Oper und Schauspiel durch einen neuen Schwerpunkt "Bildende Kunst" austariert werden kann, um nicht gegenüber der internationalen Entwicklung zur pluralistisch inszenierten Kunstmetropole ins Hintertreffen zu geraten.

Ein solcher diskussionsorientierter Reformprozeß ist ja in einigen Ansätzen durchaus in Gang. Interessant ist aber, daß sich - vielleicht wegen der bisherigen Aussparung wichtiger inhaltlicher Grundsatzfragen - der Glaube an ein "Museumskonzept" in Grenzen hält, ob es nun eher zentral oder dezentral entwickelt würde. Es ist ja auch nie eine kühle, gemeinnützige Rationalität allein die treibende Kraft bei solchen Vorhaben.
Wie also könnte in einer Gesellschaft wie dieser ein nicht unsignifikanter, aber keineswegs zentrale Machtfragen berührender Bereich wie die Museen sinnvoll reformiert werden ? Umgekehrt formuliert, wenn eine überschaubare Gesellschaft wie die österreichische nicht einmal ihre Museen reformieren kann, worauf könnte sich ein reformatorischer Glaube dann noch stützen ?

Die Situation in Österreich hat viel mit ihrem Cultural Lag zu tun, mit dem Zurückbleiben hinter den Entwicklungen in anderen Ländern. Hier braucht man für alles etwas länger, es wird abgelegt, wieder besprochen, erneut zurückgelegt, usw. Darin liegt allerdings auch eine Chance, man kann die anderswo während eines rascheren Wandels gemachten Fehler vermeiden. Allerdings bin ich überzeugt, daß die postmoderne Kulturgesellschaft leider keine bloße Mode, sondern ein so universales, weil an Massenmedien und eine neue kollektive Bedürfnisstruktur gebundenes Phänomen ist, daß Österreich gar nicht draußen bleiben kann. Den modernen, überregionalen Technologien des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts kann sich Österreich nicht verschließen. Es wird eine Verzögerung geben durch die gewichtigen konservativen Kräfte, sie werden aber nichts aufhalten können. Sie haben ja auch ein sehr problematisches Geschichtsverständnis, kein lebendiges Geschichtsverständnis, das unmittelbar als Lernstoff für die Gegenwart genommen wird, sondern Geschichte wird um der Geschichte willen ästhetisch betrachtet.
Das drückt sich dann eben in dem hier grassierenden Schwelgen in traditionellen Kunstformen aus, das völlig von der Gegenwart abgeschnitten ist. Die österreichische Situation ist weitgehend davon geprägt; die sie tragenden Generationen werden allerdings bald aussterben und das dürfte überall raschere Veränderungen nach sich ziehen. Der Sog entsteht allein schon aus der angelaufenen Anpassung an die EG, in der Technologie, in den Publizistik- und Wirtschaftsstrukturen, in der Landesverteidigung, obwohl das soviele Nachteile bringt.und die Doppelschlächtigkeit jeder Anpassung und Modernisierung an internationale Standards zeigt.

Kulturpolitische Konsequenzen solcher Entwicklungen sind, abgesehen von der ohnedies weit fortgeschrittenen Einbindung in den internationalen musikindustriellen Komplex und in die globalen Fernseh-Mechanismen, bisher nicht gerade ein heiß diskutiertes Thema. Es dürfte fast so etwas wie einen politischen Konsens darüber geben, daß Kulturpolitik - zumindest scheinbar vieles sich selbst überlassend - inhaltlich sehr zurückhaltend sein muß, andererseits kann sie in Wechselwirkung damit kaum die Kraft entwickeln, wirklich Strukturen zu ändern. Zugleich brechen, meist in Form grotesker Stellvertreterkriege, periodische Kulturkämpfe aus, deren Niveaulosigkeit die interessanteren Stimmen sprachlos macht. Wie grenzen Sie Kulturpolitik, als Instrumentarium, eigentlich ein ?

Kulturpolitik, wie ich sie verstehe, ist etwas, das im Bereich der Ideologie, des Überbaus stattfindet, das auch von jedem Kunstarbeiter transportiert wird, selbstverständlich auch von jedem Publizisten, jedem Kunstkritiker. Kulturpolitik zeigt sich nicht nur eingeschränkt auf professionelle Versprechungen und Strategien zuständiger Politiker, sondern in jeder einzelnen Entscheidung für und gegen ein Kunstwerk, in jeder Entscheidung, dies zu bauen und nicht jenes, in jeder Entscheidung für diesen oder jenen Bauplatz. Kulturpolitik ist als ein Begleitmoment der Ideologie aus der Kunst- und Kulturentwicklung überhaupt nicht wegzudenken. Wesentlich ist natürlich, welche Kräfte diesen Begriff von Kulturpolitik füllen: linke, rechte, schwarze, rote, wie immer man sie pauschal bezeichnen will.
Daraus entstehen labile Kraftfelder, in denen sich Entwicklungen und Meinungen in sehr kurzer Zeit ändern können, wobei klar ist, daß Politikern nur etwas imponieren kann, wo massiver Druck dahinter steht. Wie sollte denn eine von manchen Künstlern gewünschte "Selbstentwicklung" der Kultur unter Verleugnung, unter Ausblendung von Kulturpolitik vor sich gehen ? So etwas wäre ein Konstrukt, das bloß verschleiert, wiederum kulturpolitischen Verbergungsinteressen dient. Nichts ist ideologiefrei. Kultur und Politik bilden einen Kontext, häufig genug einen Verschwörungszusammenhang und neuerdings werden die in politischer Hinsicht sich entziehenden, enttäuschten Massen bevorzugt über kulturelle Inhalte bearbeitet und integriert. Ich kann nur analysieren, welche Kräfte, welche politischen Trends in der jeweiligen Kulturszene da sind und dafür kämpfen, daß die richtigen sich durchsetzen.

Dies könnte die Arbeit eines Kulturministers sein, wie er, zumindest als starke, verteidigende Stimme in der Regierung manchen als wünschenswert erscheint.

Führerschaft ist immer schlecht, wenn die betreffende oberste Entscheidungsinstanz nur persönlich suggestiv wirkt, aber sachlich nicht kompetent ist. Ist letzteres aber gegeben, kann das für Entwicklungen sehr entscheidend sein. Wenn ein Bürgermeister Lueger sich stärker für Otto Wagner eingesetzt hätte, dann wäre Wagners Stadtmuseum vielleicht verwirklicht worden. Und wenn sich der jetzige Bürgermeister, Helmut Zilk, nicht für Hrdlickas Denkmal exponiert hätte, wäre es auch anders gekommen. Politisch suggestive, einsam entscheidende Führerpersönlichkeiten jedenfalls halte ich für entbehrlich. Es muß vielmehr darum gehen, die Politik in sachliche Gremien hineinzutragen, ernsthaft zu diskutieren und weiter am Feedback zwischen Produzenten und Rezipienten der Kulturpolitik zu arbeiten.

Sie haben eingangs von einer Doppeldecker-Kultur gesprochen. Wien hat eine solche auch bezüglich der zwei politischen Ebenen, die der Stadt, kulturell vertreten durch Ursula Pasterk, und die der Republik, vertreten durch mehrere, mit kulturellen Kompetenzen ausgestatteten Ministerien. Mit Ausstellungen bemerkbarer als alle Bundesmuseen macht sich zweifellos die Stadt, die selbst nur ein großes Museum, das Historische Museum der Stadt Wien unterhält. Ansonsten gibt es eine Reihe von Mischfinanzierungen; welche Gemeinsamkeiten beim Messepalast-Projekt möglich sein könnten, dürfte noch nicht geklärt sein.

Natürlich gibt es da Unverträglichkeiten und Dissonanzen. Das halte ich für gut. Was mir an der Politik der Stadt Wien gefällt, ist, daß sie sich doch hin und wieder der Projekte annimmt, die, wenn auch nicht ultra-avantgardistisch, aber gesellschaftlich wichtig, von öffentlichem Interesse sind, und um die sich der freie Kunstmarkt wenig kümmert oder nicht kümmern kann. Ich sehe da durchaus ein Interesse, angesichts der Einseitigkeit der Kultur- und Medienindustrie zu intervenieren, die aus der bürgerlichen Gesellschaft geerbte Öffentlichkeitsfunktion der Kunst ernst zu nehmen, zum Teil noch im alten, erkenntnisorientierten Sinn, zum Teil schon verwachsen mit den postmodernen Vorstellungen von einer inszenierten Kultur, mit E-Kunst und starken U-Kunst-Elementen, im Sinne einer durchaus signifikanten "Wiener Mischung", die Falco, Heller und Walzerseligkeit einschließt. Für mich ist gerade noch eine erfreuliche Orientierung an einer plebejischen Öffentlichkeit erkennbar, stark vermischt natürlich mit künstlerlisch rückwärtsorientiertem Kleinbürgerbewußtsein, aber trotzdem werden noch Reste einer Solidargemeinschaft mit weltanschaulich-humanistischen Vorzeichen erkennbar und Reste eines gesellschaftlichen Gewissens für die in jedem Menschen schlummernde Kreativität.
Die österreichischen Parteien, nicht nur die SPÖ, haben inzwischen wie alle modernen Parteien allerdings schnell erkannt, daß sich ihre Politik am besten über Kultur verkaufen läßt, weil sie - angesichts der nicht bewältigbaren Komplexität ringsum - der beste Kommunikationsträger ist. Sie setzen alle, wie schon besprochen, auf die Reduktion von Komplexität, auf den Unterhaltungswert, auf das Erlebnis. Dieser Umstand macht es schwer, Kulturpolitik überhaupt noch vom Opportunismus zu trennen.

Daß Sie der Kunst anscheinend fast generell ein Mittun an dieser Reduktion von Komplexität unterstellen, verwundert mich allerdings. Ich sehe da durchaus entschiedene Gegenbewegungen.

Einverstanden, künstlerische Entwicklungen sind nicht auf "die" Kunst generalisierbar. Viele Kunstarbeiter verteidigen natürlich auch Komplexität gegen solche Egalisierungstendenzen; nur sind das keineswegs alle. Selbst schwierige Kunst und schwierige Themen werden inzwischen nicht weniger gern inszeniert und genußfähig aufbereitet, ob das nun von einem Harald Szeemann oder durch neue Ausstellungsmacher wie Markus Brüderlin bei seiner "In Situ"-Ausstellung in der Secession oder durch Paul Kruntorad und Hans Hoffer beim extreme Einfühlung fordernden Thema des "größeren", hauptsächlich von Exilanten geprägten Österreich in der A. E. I. O. U.-Ausstellung so intendiert worden ist. Die typischste Ausstellung in dieser Richtung ist sicher "Traum und Wirklichkeit" von Hans Hollein gewesen. Was habe ich denn von dieser ganzen Kulturwende verstanden, wenn ich mich schon von den großen, außen angebrachten Attrappen so "anmachen" lasse ? Ich gehe über die festliche Schwelle des Museums und bin in einer anderen Welt, in einem multimedialen Raum- oder Gesamtkunstwerk. Das wird als Ersatz angeboten für den Nachvollzug der mühevollen Erfahrung mit schwierigen Kunstwerken, und als weiteren Ersatz für Geschichtsaneignung kann ich mich vom aufgebahrten Gewand des ermordeten Thronfolgers beeindrucken lassen. Man kommt herein, glaubt zu verstehen und versteht natürlich überhaupt nichts. Nur, wer wagt heute schon, dem punktuellen Ausstellungsbesucher zu verstehen zu geben, daß er überhaupt nichts versteht und zuerst einmal wenigstens den zwei Kilo schweren Katalog lesen müßte ? In den üblichen zwei Stunden will der genießende Betrachter einfach den auratischen Wert der Ausstellung haben, er will verzaubert werden und deswegen werden diese musealen Inszenierungen produziert.
Sie haben natürlich vollkommen recht, wenn Sie betonen, daß viele Künstler dennoch auf Komplexität pochen und sich diesen Mechanismen der effektiven Kultur- und Kunstpräsentation entziehen, nur ist in der Regel der Preis dafür, daß sie nicht wirklich konsumierbar werden, daß ihre Werke hermetische "Kammermusikkunst" bleiben, die ganz kleinen Zielgruppen zumutbar ist. Es gibt immer beides, den Künstler, der auf Komplexität besteht und zugleich den Trend der kulturellen Gesamtentwicklung mit der Reduktion von künstlerischer und historischer Komplexität. Es gibt Künstler und Intellektuelle, die sich gegen diese Zwänge wehren und an "veralteten" erkenntniskritischen Motiven festhalten, die gesamtkulturell gesehen nicht mehr zählen, und es gibt Künstler, die bedenkenlos in den allgemeinen Trend einsteigen. Sie sagen dann, wie ein gutmeinender André Heller, nur weil er nicht ausreichend nachgedacht hat, ich will das noch als Utopie von Kunst und Leben verkaufen, als Versöhnung von beidem. Da ist aber realiter weit und breit keine Versöhnung. Die rigid vergesellschaftende Kultur subsumiert ja alles unter die verdinglichte Form des Erlebens.
Wir kommen aber auch mit den Argumenten der 60er Jahre nicht weiter, die im Sinne von Horkheimer, Adorno, Enzensberger, Marcuse Kritik an der Bewußtseinsindustrie übten. Diese Kritik trägt heute nicht mehr. Sie ist auch unter Up to date-Intellektuellen längst überlappt worden durch die französische Modephilosophie, die im Homo ludens die Verkörperung des Zeitgeistes sieht, also im spielerischen Menschen, der zwischen Realität und Fiktivem nicht mehr unterscheidet. Dieser Spielcharakter wird ja zunehmend zur Grundlage kultureller wie künstlerischer Inszenierungen und damit die Verwischung der Grenzen von Objekt und Subjekt, von Kunstwerk und seinem Benutzer. Als weitere Entgrenzung kommt das szenisch hervorragend geeignete Musikelement hinzu. Musik entgegenständlicht, nimmt Konturen weg, kann ein diffuses Klima schaffen, in dem plötzlich alles eins ist. In der massenspezifischen Videokultur, in der Jugendkultur läßt sich das alles genauso ablesen. Viele ehrgeizige Künstler sind da voll eingestiegen, sie arbeiten mit dem Lustcharakter von "flippernden" Computern und bringen sich subjektiv ein. Denn in einer Welt, die so komplex ist, kann ich darauf verzichten, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu erkennen.
Ich kann mich allenfalls retten über ästhetisches Verhalten. Ich kann mich nur retten über meine Subjektivität. Damit begünstigt die Entlastungsfunktion der Kultur natürlich die Oberfläche, das Ästhetische, den rein sinnlichen Eindruck. Ich gehe weg von der Sinnsuche, von der Wahrheitsfrage hin zur Sinnentlastung, zu ästhetischem Verhalten, zur faszinierenden Oberfläche. Das ist heute unsere Situation. Was ist denn Neo-Geo -Kunst? Sie ist raffiniert, indem sie unsere Netzhautseeligkeit steigert, wie die Arbeiten von Rockenschaub, Caramelle und Obholzer nahelegen. Da ist nichts Tiefes, da ist kein "Sinn" dahinter. Diesen Ballast will man auch nicht. Man will davon entlastet sein und gerät in die Nachbarschaft der postmodernen Decorator-Kunst.

Um aber beim Begriff Durchleuchten einzuhaken; ich traue mich zu behaupten, daß niemand in diesem Land einen hinreichend strukturierten Überblick über die Staatsausgaben für Kunst und Kultur verfügbar hat, trotz der vielen Einzelberichte und der ausgewiesenen Budgetposten. Es hält sich auch das öffentliche Interesse daran in Grenzen; wer versucht schon, Chancen auf strukturell mögliche Veränderungen bewußt zu machen, sich darüber einer Diskussion zu stellen ? Offenbar ist das Spiel mit kleinen Skandalen und den großen Grauzonen allen Beteiligten - uns eingeschlossen - plausibler.

Zwischen Experten und Öffentlichkeit besteht ein gestörtes Verhältnis. Erschwerend kommt das Problem der Kulturgesellschaft hinzu, daß sie das Niveau der Experten nicht erreicht, weder machtpolitisch noch in der Sache.
Daraus resultiert dann die Standardforderung an die Experten, vereinfacht eure Konzepte soweit, daß wir sie verstehen können, denn dann ließe sich darüber öffentlich diskutieren. Das funktioniert aber nicht, daher herrschen die Fachleute, und die wichtigen Informationen erreichen nie jene, die am Kulturprozeß maßgeblich an der Basis beteiligt sind. Das System, daß Kritik immer hinterherhinkt, gehört dazu. Es gehört auch die Behauptung dazu, daß die Nichtinformierten an den Organisationsprozessen nicht teilnehmen könnten, weil sie nichts von ihnen verstehen. Daß einer einmal das umdrehen würde und präzise die Linien und Weichenstellungen vorneweg einer allgemeinen Diskussion stellt, wäre ein seltener Ausnahmefall. Ich kann zwar nicht als Dilettant in einen Planungsprozeß eingreifen, ich kann aber meine Willensbekundung über das, was herauskommen soll - genauso wie ein Minister das kann oder können sollte - festlegen. Und danach muß die diskursive Auseinandersetzung kommen. Mittel-Zweck-Relationen von kulturellen Projekten und angewandter künstlerischer wie wissenschaftlicher Arbeit müßten durchaus in diesem allgemeinen Sinn diskutierbarer werden. Das im Vorhinein wäre wichtig, denn wie anders sonst könnte diese Expertenherrschaft in demokratische und bewußtseinsbildende Prozesse einbezogen werden ?
In Wien herrscht davor eine furchtbare Angst, weil man weiß, je früher etwas in der Öffentlichkeit bekannt wird, desto geringer sind die Chancen, daß man damit öffentlich durchkommt. Das kann aber doch nicht auf ewige Zeiten hinaus heißen: Geheimaktionen, Kamingespräche, möglichst schnell etwas durchziehen. Es müßten andere, offene Formen gefunden werden. Man müßte entschieden damit beginnen, ein Klima herzustellen, in dem anstelle über Personen und Autoritäten über das Werk, über die Sache diskutiert werden kann. Man müßte doch entschieden versuchen, mehr diskursive Öffentlichkeit herzustellen. Wie man das angeht, könnte eine der hervorragendsten Aufgaben für die Kulturpolitik sein. Auch das allerdings ginge paradoxerweise nicht ohne Widerstand bei den Massen ab.
Es ist eben nicht möglich, dieser Gesellschaft mit ihren massenmedialen Deformationen und ihren Unmittelbarkeitsansprüchen noch etwas rein rationalistisch auseinanderzusetzten, wie das Karl Popper propagiert, der schlicht von der offenen Gesellschaft träumt, die letztlich über die rationale Kommunikation aller Menschen funktionieren muß. Auf diese Weise wird nichts erreicht, weil Irrationalität und Unterhaltung und Sinnlichkeit, alle diese unmittelbaren Momente, die in der heutigen Kulturgesellschaft eine so große Rolle spielen, nicht angesprochen werden. Mit einem solchen rationalen Modell, das z. B. alle diese Ich-Mythologien und den Selbstausdruck der heutigen Kunst total ablehnen muß, bliebe jede Kulturpolitik in ihrer Wirkung hoffnungslos zurück.
In der Politik wird viel gerissener erkannt, daß gerade über Kultur und Kunst, über irrationale Muster also, Wirkung und Partizipation erzielt werden kann. Das ist natürlich dann wirklich korrupt. In die Probleme moderner Kunst wird auf diese Weise niemand eingeweiht.

Wenn Rationalität mit einer - allerdings weiterhin massenmedial vermittelten - Emotionalität Bündnisse eingehen muß, dann bleiben alle vorhin skizzierten diskursiven Einmischungsmöglichkeiten ein höchst vages Fernziel. Unmittelbare Wirkung kann nur haben, was einen auffallenden medialen Wert gewinnt: der Skandal, der Starkult, der Sensationserfolg., die publikumswirksame Inszenierung. Eine unter Erfolgszwang stehende und planende Kulturpolitik muß also auf solche Projekte aus sein, nur in deren Schatten läßt sich anderes protegieren ?

Ja - dies ist früher oder später zu erwarten. Die Unterhaltungskultur finanziert die Problemkultur. Auf publikumswirksame Ausstellungen bezogen sehe ich die Zwangsläufigkeit so: Das Thema muß in synästhetischen Panoramen ausgedrückt werden, in denen Dokumentation und Kunst, Künstler und Publikum, alte und neue Medien, Heiteres und Ernstes gemischt werden. Alles kommt zusammen und aus dieser Synthese des Disparaten entsteht Erfolg und solche Erfolge ziehen Geld an und sie ziehen den Kulturtourismus an und der zieht wieder Investoren an und so fort.

Die Auflehnung vieler bildender Künstler gegen solche Automatismen ist aber auch im Zusammenhang mit ihren vergleichsweise marginalen Verwertungschancen zu sehen, wie hoch auch immer Preise für aktuelle Kunst sein mögen. An die Tantiemen im Musiksektor reichen sie, den "Erfolg" vorausgesetzt, kaum heran.

Sehr viele Künstler klagen, weil sie in Wahrheit in den Genuß dieser profitablen Massenkultur und ihrer Inszenierung kommen wollen. Die Klage des Künstlers gegen den allgemeinen kulturellen Trend als solchen ist heute selten anzutreffen. Sie gilt eher seiner Ausgrenzung zum Außenseiter, nicht aber der Kommerzialisierung des Kunst- und Kulturbooms überhaupt. Sehr viele Künstler sind doch voll in diese Kommerzialisierung eingebunden; sie haben den richtigen Distributionsapparat, die richtigen Galerien also, sie haben publizistisch ihr Hinterland. Der "Erfolg" des Künstlers ist damit auf eine Ebene der Trivialität transferiert worden, wo sich alles darum dreht, wie sich jemand verkauft, egal ob dabei elitäre Standards oder Standards der Massenkultur angewendet werden. Wichtig ist die Machbarkeit der Sache.
Wichtig bleibt für den Kritiker daher aber umso mehr, daß man sich die Struktur einer künstlerischen Arbeit sorgfältig ansieht, damit einem klar wird, ob tatsächlich eine eigensinnige kritizistische, in sich verschlossene Form eine Abwehr signalisiert oder ob eben auch formal offen gespielt wird. Den Unterschied gibt es ja immer noch, den Unterschied nämlich zwischen Systembenutzung und tatsächlicher Aussage der Arbeit.

Für künstlerische und intellektuelle Arbeit, die sich einer Integration in Markt- und Nachfragesysteme versperrt, könnten - ohne daß das jetzt zynisch gemeint ist - museumsähnliche Institutionen neuer Art doch eine wichtige öffentliche Funktion erfüllen, ob das nun bildende Künstler, Komponisten oder Dichter betrifft ?

Solche Institutionen gibt es nicht. Wer sollte Interesse daran haben - außer die betroffenen Künstler und Intellektuellen selber? Im neuen Museumstyp der inszenierten Kultur funktioniert Öffentlichkeit nur, wenn man sie sich anpaßt oder anpassen lassen.kann. Man muß etwas von seiner Substanz hergeben. Nehmen wir den Komponisten "schwieriger" Musik als Beispiel. Er kann wegen der Sprache und der Codes, die er verwendet, nur begrenzt in die Massenkultur eindringen. Die Entscheidung ist, ob er, um Adorno zu zitieren, für den emotionalen Hörer arbeitet, der keine Noten und Partituren lesen kann, der vom Komponieren nichts versteht oder für den rationalen Hörer, der sehr viel mehr als Zuhören mitbringen muß, um das künstlerische Formgesetz eines Musikstückes zu beurteilen. Die Komposition im intellektuellen, streng künstlerischen Sinn wird daher immer eine elitäre Sache bleiben.

Nur wissen wir doch, daß selbst ein in kleinster Auflage existierendes Buch auch weiterhin eine geistige Kraft entwickeln kann, unabhängig von diesen ausführlich beschriebenen Inszenierungsmustern.

Natürlich; ich spreche ja auch ausdrücklich von Antagonismen. Neben der inszenatorischen Gestaltung der Massenkultur gibt es weiterhin eine Verweigerungs- und Protestkultur, eine residuale Intellektuellenkultur, mit vielen Vermischungen zwischen E-Kultur und U-Kultur, in der "Schwieriges" sein kleines Publikum hat und auch die Massenmedien nehmen sich in bescheidenem Umfang und als Alibi für ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag dieser Materie an.
Mit Blick auf die gesamte Kulturgesellschaft sind das aber völlig marginale Sektoren. Grundsätzlich sehe ich eher massive Nivellierungstendenzen. Es sei denn, unsere Medienkultur würde sich doch noch zu einem emanzipativen Instrument entwickeln mit einem echten Feedback zwischen Produzenten und Rezipienten. Ansätze dazu entdecke ich nirgends, als theoretische Perspektive ist das aber durchaus möglich.(und historisch bekannt). Die Technologie könnte theoretisch unserer Freiheit dienen; es müßte nicht zwingend so sein, daß sie in Richtung Krieg, Vernichtung und Ressourcenverbrauch wirkt. Andererseits sehen wir doch überall, wie schwer kulturelle Notwehrmaßnahmen greifen, wie wirkungslos Gegenkräfte bleiben. Das hängt natürlich auch damit zusammen, daß sich Kultur zur totalen Vergesellschaftungsform entwickelt hat, daß Kultur und Kunst nicht mehr ein autonomes Medium sind, das kritisch und kontroversiell gegen die Gesellschaft gerichtet ist. Ich selbst hänge natürlich auch dieser Tradition an und versuche Reibungsflächen zwischen Kultur bzw. Kunst und Gesellschaft zu erhalten, das Nivellement der Kulturgesellschaft zu relativieren. Es nützt mir aber nicht viel. Von aufklärerischen Positionen aus sind angesichts der Wirkungen der Massenmedien, der Kulturindustrie, der Bewußtseinsindustrie eben nur unvergleichlich geringere Einflüsse zu erzielen.

Damit wären wir - nach den Schwerpunkten Kunst und Museum - bei meiner abschließenden Frage nach Ihrer Argumentation zum Thema "Öffentlichkeit". Alles starrt, auch wenn es um Museumsfragen geht, gebannt auf die Resonanz der Öffentlichkeit, der massenmedialen Öffentlichkeit natürlich, und Gehör finden Forderungen praktisch nur dann, wenn mit Medienunterstützung ein erpresserisches Spiel oder wenigstens eine Skandalisierung gelingt. "Erfolge" sind Inszenierungserfolge. Müssen Reformen als Schauspiel funktionieren, mit Regisseuren, mit Stars, mit Souffleuren, mit Abonnenten, mit Rezensenten usw. ? Inhalte einer gründlichen Diskussion zuzuführen ist in den herrschenden Mechanismen ja nicht vorgesehen.

Das hängt alles damit zusammen, daß heute der Öffentlichkeitsbegriff selbst vollkommen diffus und falsch, ja selbst propagandistisch angewendet wird. Wenn ein Markt da ist, ist das noch keine Öffentlichkeit. Öffentlichkeit ist etwas, das man heute erst herstellen muß. Öffentlichkeit ist ein Wert, der aus der bürgerlichen Aufklärung kommt und er meint, daß sich Bürger über einen Diskurs, etwa über Kunst, untereinander verständigen. Heute hingegen haben wir Formen einer refeudalisierten Öffentlichkeit. Die Massenmedien nehmen stellvertretend unsere kulturellen Interessen wahr oder glauben es zu tun. Die einzelnen Menschen können nur in ihren Parteien, den Gewerkschaften, kurzum ihren verschiedenen Interessensvertretungen Beifall klatschen oder ihr Mißfallen äußern. Das ist kein Diskurs. Das ist keine Auseinandersetzung im Sinne einer funktionierenden Öffentlichkeit.
Diese refeudalisierte Öffentlichkeit prägt eigentlich unser heutiges Leben, und es ist klarerweise eine Forderung von äußerster Wichtigkeit, daß andere Formen der Öffentlichkeit gefunden werden, in denen das bloße Akklamieren bereits getroffener Entscheidungen aufhört und eine rechtzeitige Teilnahme an den Entscheidungsprozessen selbst möglich wird. In fortgeschrittenen, durchorganisierten, industrialisierten Gesellschaften ist dieser Anspruch auf Partizipation sehr schwer einzulösen, denn er würde eine basisdemokratische Kritik der Massenmedien, der Parteien, der Gewerkschaften, der Interessenvertretungen erfordern, eine Kritik der weit aufgefächerten, manipulativen Prozesse der Entscheidungsfindung. Für eine wirklich öffentliche Kultur- und Kunstpolitik ist unverzichtbar, daß ein direkter Kontakt zwischen Produzenten und Konsumenten hergestellt wird.
Das Öffentlichkeitsdefizit in der Kunstszene läßt sich ja nicht durch weitere Anhäufung und Stapelung von Kunstwerken in funkelnagelneuen Museen kompensieren. Bei all dem hektischen Nachholbedarf an Museumsarchitektur, die den Berg der objektiven Kultur weiter auftürmen hilft, wird vergessen, die eigentlich Betroffenen und rechtlichen Nutznießer, die Kunstrezipienten, für das Neue argumentationsfähig und sensibel zu machen, also jenen Prozeß der Entmündigung des Publikums mit zu korrigieren, der seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts zum Verlust der ästhetischen Urteilsfähigkeit, einer sachlich kompetenten, sich begründet erklärenden öffentlichen Meinung geführt hat.
Wenn man mit Werner Hofmann Kunst als einen von Epoche zu Epoche wechselnden "Vereinbarungsbegriff" versteht, der vom "museal konditionierten", mündigen Betrachter der Kunst getroffen wird, stellt sich bei so viel Zweckoptimismus zwangsläufig die Frage, ob es diese räsonable Diskussionsöffentlichkeit eines kunstverständigen Publikums überhaupt noch gibt oder vielmehr, wie sie heute wiederherzustellen wäre. Man muß doch erkennen, daß wir heute generell diese Öffentlichkeitsform nicht haben. Ich halte es für einen groben Mißbrauch des Begriffs, wenn dem Staat, oder auch einem Museum, einfach eine angebliche Öffentlichkeit - die durch den freien Markt garantiert sein soll - gegenübergestellt wird. Wir wissen doch inzwischen von den manipulativen Mechanismen genug, als das so akzeptieren zu können.
Auch im Museum spiegeln sich der Markt und die Warengesellschaft und das steht in Widerspruch zu seiner eigentlichen Öffentlichkeitsaufgabe, in Widerspruch zur antimanipulativen Position, die es haben müßte. Das Museum der zeitgenössischen Kunst sollte doch kritisch zu dem stehen, was auf dem Kunstmarkt passiert, es sollte ein Ort der Reflexion sein, an dem über den Vereinbarungsbegriff "Kunst", der Kunst zu Kunst macht, rational diskutiert und argumentiert wird. Dem kommen die Museen des 20. Jahrhunderts aufs Ganze gesehen nicht nach, sie sind in diverse Mechanismen eingespannt, sie geben oft unglaublich schnell und unkritisch Tendenzen nach. Sie sind nicht mehr die kritischen Richter, die in öffentlicher Auseinandersetzung mit dem Publikum für oder gegen etwas argumentieren, sondern lassen sich mehr oder weniger vom Markt für die "Nobilitierung" der Kunstwaren zu wertsteigender oder wertschaffender Museumsreife einspannen. Für die Kunst der Vergangenheit gilt das nicht so sehr, weil von ihr nur mehr wenig Relevantes auf dem Markt ist; nur müssen auch hier Sachdiskussionen geführt werden, alle Bereiche der Kunst betreffend.
Eine kritische, bürgerliche Öffentlichkeit haben wir nicht mehr. Eine vergleichbar sachkompetente Öffentlichkeit zu gewinnen - auch unter Mitwirkung selbstkritischer "antimanipulativer" Museen - wäre eine permanente Aufgabe und ein Versprechen einer alternativen Kulturpolitik. Die Forderung nach Öffentlichkeit bedeutet, kulturpolitische Herrschaft in rationale, sachkundige Beherrschung der Kunstmaterie zu überführen und nicht, wie die Kritiker des Öffentlichkeitsgedanken unterstellen, in plebiszitären Analphabetismus oder eine kompetenzlose Abstimmungsmaschine der parteipolitischen Bonzokratie.

Der "Kunstmaterie", so sehe ich das, werden aber auch weiterhin die Irritation durch Geheimnisse der Kunst, durch Prinzipien, die wo anders nicht Geltung erlangen können oder die Faszination eines Nichtverstehenkönnens gegenüberstehen - trotz oder gerade wegen aller Manipulierbarkeit - als eine wesentliche Möglichkeit, gerade aus solchen Spannungsverhältnissen heraus einen Zugang zur Kunst zu finden, die Wahrnehmungsfähigkeit zu sensibilisieren.

Daß die "Krise" der modernen Kunst zu einem nicht geringen Teil auf einen Mangel oder sogar Verlust an Öffentlichkeit zurückzuführen ist, wurde in den letzten Jahren von vielen Seiten kritisch bemerkt und hat die Forderung nach mehr Partizipation in der Architektur und Stadtgestaltung, nach mehr "Kunst im öffentlichen Raum" dringend gemacht. Wenn an die Stelle des öffentlichen Auftrages Markt und Sponsorship treten und - wie heute - die meisten öffentlichen Aufträge an bewährte, anerkannte Künstler mit hohem Marktwert vergeben werden, muß für viele aufstrebende Künstler die Wunschvorstellung von Staat, Stadt und Kommune als marktunabhängigen autonomen Auftraggebern besonders attraktiv werden. Leider gehört der kreative Interessenskonflikt zwischen Kunstmarkt und Kunstöffentlichkeit immer mehr zu den Ausnahmen innerhalb einer eintönigen geschlossenen Meinungsindustrie, die den einzelnen Menschen die Entscheidungsfreiheit darüber, was Kunst und ausstellungswürdig sei, abgenommen hat.
Majoritäten herrschen über Minoritäten - auch in Kunst- und Geschmacksfragen. Selbst die den sozio-kulturellen Geltungsbereich vertretenden Institutionen haben sich weitgehend den Kunstmarkt, personifiziert durch seine etablierten Experten, zum Partner gemacht, anstatt selbst ein sachkundiges, kunsterfahrenes Richteramt zu beanspruchen. Neben den Experten sind, wie bemerkt, die Kunstmuseen in den Marktmechanismus mehr verstrickt, als sich mit ihrem allgemeinen (meist liberal bürgerlich deklarierten) Bildungsauftrag gegenüber der Gesamtbevölkerung verträgt. Niemand kann sich mehr darauf verlassen, daß das Museum noch die Öffentlichkeit eines breiten, nicht nur marktkonformen Liebhaberpublikums vertritt, eines sachkundigen Laienurteils über Kunst, das während des 18. Jahrhunderts in Ausstellungen und Salons in direkter Begegnung mit den Kunstwerken zustande kam und sich noch nicht von spezialistischer Fachkritik vertreten lassen mußte.

Als vorläufiger Schluß dieser fortzusetzenden Debatte erscheint mir Ihr vorhin genanntes Statement sehr geeignet: Eine kritische, bürgerliche Öffentlichkeit haben wir nicht mehr. Eine vergleichbar sachkompetente Öffentlichkeit zu gewinnen - auch unter Mitwirkung selbstkritischer "antimanipulativer" Museen - wäre eine permanente Aufgabe und ein Versprechen einer alternativen Kulturpolitik.

 

Peter Gorsen, Kunsthistoriker
geb. 193 in Danzig. Studium der Philosophie, Psychologie, Kunst- und Literaturwissenschaft in Frankfurt/M (Dr. phil.). Arbeiten auf Gebieten der Kultur- und Kunstwissenschaft, ferner im Grenzbereich von Psychologie und Sexualforschung. Jüngste Publikationen: Kunst und Krankheit. Metamorphosen der Ästhetischen Einbildungskraft, Frankfurt/M 1980; Transformierte Alltäglichkeit oder Transzendenz der Kunst. Reflexionen zur Entästhetisierung, Frankfurt/M 1981; Sexualästhetik. Grenzformen der Sinnlichkeit im 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1987. Professor an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien (Vorstand der Lehrkanzel für Kunstgeschichte).

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© Peter Gorsen 1988 & Christian Reder 1988/2002