Gespräch mit Alfons Schilling
Ich möchte das Sehen und den Sehvorgang in hier diskutierte
museale Zusammenhänge noch deutlicher miteinbeziehen,
könnten wir uns daher nicht darauf konzentrieren ? Betrachtung
von Kunst erfordert nach dem einen, dem sozusagen klassischen
Prinzip eine kontemplative Situation, ein Alleinsein mit dem
Bild, ein Vergessen der Zeit. Ihm konträr gibt es andere
Konzepte, die einen ganz anderen Umgang mit dem Optischen,
dem Akustischen, dem Räumlichen und dem Zeitlichen fordern.
Um auf das zu kommen, möchte ich davon ausgehen, daß
mir das Museum als Ort erscheint, an dem es um eine Überwindung
der Zeit geht. Dies gilt für das Historische, das die
Vergangenheit zugänglich macht; es gilt aber ganz besonders,
so scheint mir, für die Museen der aktuellen Kunst, weil
das Verstehen der Zeit eine Art Hauptthema ist in der Kunst
des 20. Jahrhunderts.
Das Museum heute ist der Austragungsort für diese Manipulation
der Zeit, für diese Verkürzung der Zeit. Und insofern
hat sich die Wahrnehmung und das Verständnis von den
grundsätzlichen Bedingungen her radikal verändert.
Wenn ich darüber nachdenke, wie das Museum einmal war,
dann kommt es mir so vor, als ob es eine Oase gewesen ist,
eine Art Zuflucht, eine naive Zuflucht zum nackten Auge. Man
ist hineingegangen wie in eine andere Zeit, um etwas herauszuholen
wie ein Räuber oder wie ein Tourist. Für mich als
Künstler war es immer sehr sonderbar, daß ich Eintrittsgeld
zahlen muß, obwohl ich doch komme, um meine lieben Kollegen
zu besuchen, um ihre Arbeiten anzuschauen. Das hat mich immer
befremdet, weil man mich dadurch zum Touristen macht.
Der Stellenwert der Kunst innerhalb der Gesellschaft verändert
sich natürlich laufend und wir stehen gerade jetzt vor
einer großen Verwandlung. Das zeigt sich auch im Massenandrang
in den Museen, wie ich ihn in Amerika erfahren habe und der
auch hier in Wien schon seine Anfänge zeigt. Den Begriff
des Besuchers sollte man vom Museum her gesehen neu definieren
und überdenken, weil auch der Künstler des 20. Jahrhunderts
angefangen hat, sich neu zu definieren und innerhalb der Gesellschaft
neu darzustellen. Da hinein gehört auch die Verwischung
der Grenzen der verschiedenen Kunstgattungen und die Verwischung
zwischen der sogenannten U- und E-Kunst, mit allen Unklarheiten,
die ich für sehr wichtig halte. Was unterhaltende und
was ernste Kunst ist, wird immer weniger unterscheidbar. Klären
kann sich das erst in der Zukunft, wahrscheinlich einfach
als gute oder schlechte Kunst. Und das hängt ja wieder
sehr mit der neuen Definition des Museums zusammen.
Wenn man heute Museen bauen will, dann sollen sie für
vergangene Kunst gebaut werden. Ich glaube nicht, daß
Architekten in dieser postmodernen Phase fähig sind,
Museen zu konzipieren, die sich der Zukunft gegenüber
öffnen. Alle jetzt gebauten Museen sind in Wirklichkeit
ein Abschluß der Kunst des 20. Jahrhunderts. Dort wird
sie verschlossen und dann ist sie vorbei.
Ein wichtiger Punkt wäre mir insbesonders, daß
das Museum eine Art Universität wird, wo du ein Ticket
kaufst für einen Tag und zu den aktuellsten Dingen Zugang
hast. Ein Zurückdrängen der E-Kultur muß doch
keineswegs mit Untergangsgefühlen verbunden sein, wie
so oft behauptet wird. Da müßte vorher schon der
Untergang eines Konzeptes, wie das vom Tafelbild festgestellt
werden, an dem - wie ich - so viele gearbeitet haben und weiterhin
arbeiten.
Die Besuchermassen, die ins Museum kommen, werden ja nicht
wegen der Bildungsmöglichkeiten angezogen, sondern weil
das inzwischen ein anderer Betrieb ist. Die Tatsache dieser
Massen allein wird auf jeden Fall die Kunst beeinflussen.
Das sieht man schon; man zeigt überall eine Kunst, die
sehr zugänglich ist. Ich glaube auch, daß der Künstler
in das hineinspielen wird. Er wird sich anders sehen, wenn
er anders aufgefaßt wird. Umgekehrt hat ja auch er eine
andere Auffassung von seiner Position geschaffen. Das sind
zwei Sachen, die Hand in Hand gehen und ich glaube auf jeden
Fall, daß man auf das eingehen muß, daß
eine neue Art der Betrachtung und eine neue Art der Kunst
entstehen wird.
Dazu kommt, daß der Mensch seine Sehgewohnheiten verändert.
Zuerst einmal beeinflußt durch die Fotographie, dann
durch die jetzigen und zukünftigen visuellen Technologien
wird er die Wirklichkeit anders erleben. Er wird eine andere
Art haben, ein Bild anzusehen, vom Lesen des Inhaltes bis
zur Geschwindigkeit. Vielleicht hat er nur mehr einen schnellen
Blick und dann ist alles erfaßt, ohne daß noch
jemand ein Bild liest wie ein Buch und mit den Augen in dieser
Landschaft herumwandert, um deren Details betrachten zu können.
Es wird also eine völlig andere Kunstbetrachtung stattfinden,
aus einem anderen Auge, mit völlig anderen Methoden,
mit einer anderen bildlichen Bedeutung. Das baut sich - aus
meiner Sicht - klar aus der Erfahrung auf, weil wir ja auch
das alte Bild zerstört haben oder zerstören wollten
und damit wahrscheinlich ein gewisses Auge verloren haben.
Der neue Blick verlangt auch ein anderes Dabeisein oder -
umgekehrt - das andere Dabeisein verlangt einen anderen, einen
dynamischen Blick, einen, der bewegliche Zeiträume versteht
oder die Simultaneität besser erfaßt als je zuvor.
Bei Museums- oder Ausstellungsbesuchen ist ja längst
feststellbar, daß es beginnt so zu funktioniert.
Warum sollte man denn heute noch den Blick der Renaissance,
den Blick des perspektivischen Betrachters haben, in einer
Zeit, wo wir alle laufend in Bewegung sind, während die
Perspektive einen fixen Punkt im Raum erfassen will, an dem
du stehen sollst, an dem du stehen mußt ? Das ist ja
ein völlig anderes Weltbild. Wir können das gar
nicht mehr so sehen. Es ist ja auch wunderbar, daß wir
das nicht mehr können. Das ist vorbei. Natürlich
hat es noch einen gewissen Wert, aber selbst den sehen wir
doch schon auf eine völlig andere Art und Weise. Weltbildlich
aber hat das keinen modernen Wert mehr. Wenn wir manchmal
noch glauben, das sei ein einfacheres, begreifbareres Weltbild
gewesen, so ist das pure Romantik. Wir jedenfalls leben in
einer Zeit, die auf Bewegung aufgebaut ist und auf Simultaneität.
Wir stehen nicht mehr wie ein Baum an einem Ort. Wir wollen
alles aus der Bewegung sehen. Wenn ich in ein Museum gehe,
bin ich laufend in Bewegung. Ich kann mich kaum lange aufhalten
vor einem Bild. Es ist auch völlig falsch, wenn solche
Veränderungen als Degeneration bezeichnet werden. Vielleicht
muß der Mensch dieses neue Auge in Wahrheit erst produzieren.
Vermutlich wissen wir noch gar nicht, was die Qualitäten
dieses neuen Auges sind. Wir sind ja erst dabei, diesen Blick
zu lernen.
Mitte des letzten Jahrhunderts haben wir durch die Fotographie
zum ersten mal die Geschwindigkeit der Wahrnehmbarkeit wie
eine Mauer durchbrochen. Alle Vorgänge unter 1/25 Sekunde
sind bis dahin unsichtbar gewesen. Wir haben damit ein neues
Empfinden und Bewußtsein erlangt, das mittels der Instrumentalisierung
das menschliche Erlebnis erweitert. Und das ist natürlich
eine wichtige Grundlage für den schneller werdenden Blick;
mit ihm ist ja nicht bloß ein rascheres, oberflächlicheres
Sehen gemeint, ganz im Gegenteil. Ich halte das für einen
einschneidenden Fortschritt, weil das bloße Auge seither
nicht mehr die Wahrheit zeigt, wie es sich schon im Mikroskop
und natürlich im Teleskop von Galilei angekündigt
hatte. Damit ist eine Welt sichtbar geworden, die das Auge
vorher nicht sehen durfte, im Sinne eines Spionierens jenseits
der erlaubten Wirklichkeit. Ich bin überzeugt, daß
die Verunsicherung des Menschen durch diese Instrumentalisierung
des Auges angefangen hat. Die Verunsicherung hängt aber
auch damit zusammen, daß der Mensch noch immer ein Renaissancemensch
sein will, d. h. er will noch immer von einem Punkt her perspektivisch
die Welt verstehen und überblicken können. Stattdessen
sehe ich uns heute in multiplen Punkten gleichzeitig, also
räumlich, holographisch und insofern bricht Autorität
- auch im Museum - zusammen.
Das neue Museum könnte in diesem Sinn ein Ort der Komprimierung
der jetzigen Situation sein, an dem erlebbare Wirklichkeit
produziert wird. Es müßte ein Ort sein, der einen
in unmittelbare Verbindung mit der Realität und den Möglichkeiten
der Realität bringt. Das neue Museum müßte
ein offener Platz sein für das Bekannte und Unbekannte,
für das Akzeptierte und Nichtakzeptierte. Es müßten
dort - innerhalb der Freiheit der Kunst - Tabus zerbrochen
werden können. So gesehen muß das neue "Museum"
ein ritueller Ort der Freiheit sein.
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Alfons Schilling,
Künstler
geb. 1934 in Basel, Mitbegründer des Wiener Aktionismus,
1962-1986 in New York, seither wieder in Wien; jüngste
Ausstellungen: "Sehmaschinen" im Museum für
angewandte Kunst in Wien (1987) und im Rahmen von "Aktionsmalerei
- Aktionismus Wien 1960-1965" im Museum Fridericianum
in Kassel, Kunstmuseum Winterthur und in der Scottish
National Gallery of Modern Art, Edinburgh (1988).
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