Kurt Kocherscheidt braucht natürlich/eigentlich/selbstverständlich
keinen Übersetzer, der sich irgendwo dazwischendrängt. Nützlich
sind höchstens Versuche, seiner Sprache und Sprachlosigkeit
etwas verwandt Autonomes gegenüberzustellen. Bilder mit Worten
zu illustrieren bringt nichts. Sätzen, die mit seiner Arbeit
zu tun haben wollen, sollte es gelingen, Blicke in Gedanken
zu verwandeln. Unausgesprochenes aber muß seine Kraft behalten.
Denn Gedanken schreibt die deutsche Sprache ein Umherirren
in Gedankengängen vor. Im Englischen wird statt kafkaesker
Gänge das Bild vom Zug (train of thought) und von der Kette
(chain of reasoning) bevorzugt, im Italienischen der Verlauf,
der Kurs, der Boulevard, das Promenieren (corso delle idee),
im Französischen schlicht die Reihenfolge, die Fortsetzung
und die - mit der Anordnung und dem Befehl verwandte - Ordnung
(suite oder ordre des idées). Im Ungarischen wiederum sind
die Sorge, das Sich-Kümmern (gond) im Gedanken (gondolat)
enthalten. Überall schaffen es Ideen, sich in Sachverhalte
einzuschleichen. Fragilität aber kann sich nur erklären, wenn
die Bestandteile sprachlich vermittelter Denkprozesse von
vornherein zugeben, wie sehr sie sich einer Präzision des
Ausdrucks widersetzen. Daher nennt Kocherscheidt seine Bilder
auch "Gedankenzapfen", "Augenecho", "Graugeographie" oder
"Große Teichruhe". Nicht Beschreibungen eines Themas, sondern
Ausdrücke für das Herangehen an sich entwickelnde Aufgaben
dominieren. Das Wort sehnt sich nach dem Bild. Ordnung und
Fließen bekämpfen einander. Selbst zugehörige Farben und Geräusche
sind unterschiedlich strukturiert. Es ist der Augenblick,
der Ruhe und Bewegung trennt, Natur und Geist, Endliches und
Unendliches. Für Kierkegaard ist er die Kategorie des Übergangs
schlechthin, "der erste Reflex der Ewigkeit in der Zeit, ihr
erster Versuch, gleichsam die Zeit anzuhalten".
So gesehen arbeitet Kurt Kocherscheidt zwangsläufig für den
Augenblick, für diesen umstrittenen, widerspruchsvollen Ort
in der Zeit. Nur nimmt er diesen Ort in Besitz wie ein verwildertes
Feld, auf dem seinem Denken zuordenbare Begriffe wie funktionslos
gewordene Grenzsteine herumliegen. Trennungen werden dort
aufgehoben. Alles ist Materie, Wirklichkeit, Natur. Und dennoch
entstehen dauernd neue Trennungen.
Naheliegendes schafft es zwar selbst unter dir Herrschaft
des Fremden manchmal, wärmende oder blitzende Intensität zu
erzeugen. Weithergeholtes hingegen ist fast immer Diskriminierungen
ausgesetzt. Ihm wird die Chance dazupassender Unmittelbarkeit
abgesprochen. Für die Herstellung entlegener Zusammenhänge
hat der Sprachgebrauch den Vorwurf sinnloser Künstlichkeit
parat, vielleicht, weil ohne das latente Plädoyer für Nähe
die letzten Vorstellungen von Harmonie verloren gingen. Andererseits
muß sich Erhofftes immer in der Ferne aufhalten, Also herrscht
selbst auf Abstraktionsebenen, wo statt Moralkriterien nur
Richtiges und Falsches Gültigkeit haben, eine elementare Ungerechtigkeit.
Radikale Nähe soll die Zeit anhalten oder wenigstens verlangsamen
und doch vergeht sie gerade dann wie im Flug. Angst vor Entfernungen
mündet in Angst vorm Unendlichen. Freude an Nähe kulminiert
im Exzeß und im Tod. Freiheit herrscht in Gebieten, die vom
Sinn noch nicht entdeckt sind. Und Sätze wie diese können
nicht mehr sein als Splitter der Absurdität.
Kurt Kocherscheidt ist auf ganz andere, sprachlose Beweise
aus. Er erzeugt Bilder, die deutlich machen, wie distanziert
jede Nähe bleibt und wie nah einem jede Distanz vorkommen
kann. Sie verbergen jenen Punkt, der diese Dialektik aufhebt.
Aber sie führen einen sehr nah an die Möglichkeit heran, sich
diesen Punkt, diesen Augenblick, diese Situation in einer
unbekannten Sprache vorstellen zu können. Ahnungen werden
zu Ahnungslosigkeit, Gesagtes wird zu Ungesagtem, Unbekanntes
zu Bekanntem. Mysteriöse Gegenstände heben vom Menschen eingeführte
Trennungen innerhalb der Natur wieder auf, ohne sich deswegen
einer Natürlichkeit unterzuordnen. Wenn alles fremd ist, müßte
nichts mehr fremd sein. Wenn alles zusammengehört, muß ich
anders unterscheiden lernen. Ob Teile fürs Ganze stehen oder
das Ganze wiederum bloß irgendein Teil ist, äußert sich als
Form, als weiterhin mysteriöse, zu erkundende Form. Materie
hat Gültigkeit, sonst nichts. Mit der Materie umzugehen ersetzt
die Nachahmung der Natur. Gehirn, Nerven, Empfindungen sind
auch Natur, sind Systemelemente, die Sachverhalte produzier
Natur ist "Inbegriff der Gesetzmäßigkeiten" und zugleich
Ideologie. Als Wertvorstellung wird sie, so Georg Lukács (in
"Geschichte und Klassenbewußtsein"), stellvertretend für alles
"Organisch-Gewachsene" immer wieder gegen Künstlichkeit, Willkür,
Regellosigkeit ausgespielt und auf eine stimmungsvolle Verteidigung
von Innerlichkeit reduziert. Wie "der gesellschaftlich vernichtete,
zerstückelte, zwischen Teilsystemen verteilte Mensch gedanklich
wieder hergestellt werden soll", bleibt somit ausgespart.
Kocherscheidt verweigert sich keineswegs diesen Fragen. Im
Gegenteil, er geht sehr nahe an sie heran. Er stellt sie unaufhörlich
von Neuem, als Subjekt, das etwas mit Konsequenz erzeugt.
Mit harter Sprache werden Dinge zurechtgerückt, ohne damit
Unrecht und Außenseitertum zu ästhetisieren. Wehleidigkeit
darf keine aufkommen, selbst nicht dem Tod gegenüber. Dazu
gehört auch die Überwindung des Spielerischen und Anekdotischen.
Aus der eigenen Biographie braucht nichts sichtbar werden.
Der Mensch mit seinem Körper kommt in den Bildern nur sporadisch
vor. Anderes - ihn betreffend - ist wichtiger.
Das Warten gilt dem Augenblick der List, in dem es gelingt,
automatischen Abläufen etwas Besseres zu lehren. Jeder weiß
um Überraschungen, die so geboten werden. Nervosität herrscht
deswegen, weil man auch den dazwischenliegenden Phasen genügend
Möglichkeiten abgewinnen kann. Irgendwann entsteht so Gewißheit.
Ernstzunehrnen ist sie erst, wenn sie sich durch unmerkliches
Lächeln befreit. Damit taucht etwas auf, das der durchscheinenden
Unsichtbarkeit in überzeugenden Texten und Bildern gleicht.
Eine davon unberührte Gewißheit aber kehrt sich leicht zum
Zeichen des Gegenteils um. Daß in Augen von anderen über solche
Unterschiede die subtilsten Andeutungen abgelesen werden können,
zeigt permanent, wie intensivierbar die Aussage- und Täuschungsfähigkeit
der Sinnesorgane noch wäre. Alleingelassen braucht Glaubwürdigkeit
die Bewegungsmomente und Anhaltspunkte einer komplizierten
Subjektivität. Henri Bergson hat darüber in "Materie und Gedächtnis"
folgende resümierende Feststellung getroffen: "Der Geist entnimmt
der Materie die Wahrnehmungen, aus denen er seine Nahrung
zieht, und gibt sie ihr als Bewegung zurück, der er den Stempel
der Freiheit aufgedrückt hat."
Die Bewegung von Dingen und Gedanken ist für Kurt Kocherscheidt
kein Darstellungsproblem. Bevor ihn Intellektualität zu Spitzfindigkeiten
verführt, rettet er sich in Zähigkeit. Diese Zähigkeit wird
überall sichtbar. Mit Bitternis will sie nichts zu tun haben.
So entstehen Formen jenseits von Erinnerung und Erfindung.
Dumpfe, dunkle, trübe, undurchsichtige Farben drücken Lichtverhältnisse
aus, wie sie vor oder nach irgendwelchen Elementarereignissen
herrschen dürften. Die schwarz-braun-grauen Flächen können
Himmel, Erde, Wasser, Finsternis und kosmische Fremdheit oder
etwas völlig Unbestimmbares und damit Unerreichbares sein.
Als Umgebung drängen sie sich ganz nah an jene Gegenstände
heran, die gerade sichtbar sind. An dieser - oft durchdringenden
- Nähe aber ist nichts Bedrohliches. Angst wird entwertet,
neutralisiert; dem Chaos mit durchdringender Wärme die Destruktivität
genommen. Spröde, mit groben Pinselstrichen gesetzte Farbschichten
lassen Spuren erfolgter Reduktionen durchscheinen. Die Oberflächen
wollen sich nicht von provisorischer Anstreicherarbeit unterscheiden.
Den Untergrund bilden oft ornamentale, schwarz-weiße Strukturen,
die dann Schritt für Schritt überdeckt werden, um technische
Ästhetizismen zugunsten einer direkten Sprache zu eliminieren.
Kompliziertheit wird solange zugedeckt, "bis übrig ist, was
übrig bleiben soll".
In bezug auf jene Geschichte, die sich als Veränderung des
Sehens und von Wertungen ausdrückt, ist im engeren Umfeld
für Kocherscheidts Bilder an einige signifikante Phasen künstlerischer
Gesetzgebung zu erinnern. In den fünfziger und frühen sechziger
Jahren herrschte Figurenverbot. Selbst Andeutungen von Gegenständlichkeit
provozierten Hohn. Parallel dazu entstand ein Tafelbildverbot.
Für längere Zeit war jedwede Malerei tabuisiert. Mit wenigen
Ausnahmen wurden Bilder - noch dazu in Öl - zu Marginalien
erklärt. Im ursprünglich gerade in Wien offensiv geführten
Kampf für radikale Öffnungen und eine andere Kunst schien
nichts beim Alten bleiben zu dürfen, solange, bis in der so
heraufbeschworenen neuen Vielfalt eine Amnestie unausweichlich
wurde. "unausweichlich" wurden damit auch neue, subtilere
Formen der Ausschaltung und Selbstausschaltung der Intelligenz.
Kurt Kocherscheidt hat sich angesichts dieser Umstände einer
Betriebsamkeit eher entzogen und dennoch in den knapp 30 Jahren,
die er nun auf Malerei setzt, eine Sonderposition unter den
prägenden, von Österreich aus wirkenden Künstlern erarbeitet.
Die große Einzelausstellung im Wiener Museum des 20. Jahrhunderts
(1986) war ein Signal dafür, daß nun auch offiziell die eigenständige
Kraft seiner Widerstandshaltung zur Kenntnis genommen wurde.
Geboren in Klagenfurt hat er an der Akademie der bildenden
Künste in Wien und dazwischen in Zagreb an der Akademija Likovnih
Umjetnosti studiert. Nach einer kurzlebigen Gruppenbildung
("Wirklichkeiten", 1968/69) ist er auf eine Zäsur ausgewesen.
Ein längerer Aufenthalt in London und eine einjährige Reise
durch ganz Lateinamerika wurden zu prägenden biographischen
Bruchstellen. Die brutale Atmosphäre des Londoner East End
und die Lebensbedingungen in Südamerika, wo sich durch unzählige
Einzelheiten die Logik der Macht auf ganz unmittelbare Weise
demaskiert, haben den Blick für überall herrschende Unterdrückungsmechanismen
geschärft. Es zeichnete sich ab, daß verständliche Gesten
des Kritischen ihre Zukunft als blind-parasitäre Systemergänzung
bereits in sich tragen. Für die weitere Arbeit hat diese Politisierung
einschneidende Konsequenzen. Geklärt war, daß es nicht um
agitatorische "politische" Malerei gehen konnte. Auf die Zustände
läßt sich nicht in deren Sprache antworten. Das hieße nur,
ihnen sinngebende Zusammenhänge zu unterstellen und mit dem
Desaster konventioneller Wahrnehmungsbereitschaft zu paktieren.
Wenn Offenheit in die Stabilität permanenter Aufmerksamkeit
umschlagen kann, dann als Auseinandersetzung mit dem So-Sein
und So-Sein, aber ohne Kalkulation mit einem ewigen Entwed-Oder.
Sorgfalt heißt daher auch Bereinigung. Literarisches wurde
eliminiert; ebenso Individuelles, Biographisches, Räsonierendes.
"Ernstzunehmende Kunst" ist für Kurt Kocherscheidt selbstverständlich
"von vornherein politisch, weil sie einen Menschen mit einem
Gewissen voraussetzt, der politisch reflektiert, der nachdenkt,
also auch zweifelt".
Ein alter, auf Kriegszügen (die von Gegenden zwischen dem
heutigen Budapest und dem heutigen Wien aus geführt worden
sind) verfaßter Text spricht - vermutlich in Kocherscheidts
Sinn - von der oft unansehnlichen, längst nicht jedermann
auffallenden Intensität und "Schönheit" gerade solcher Dinge,
"die, für sich allein betrachtet, weit davon entfernt sind,
schön zu sein". Die Rede ist von Brot, dessen Risse in gewisser
Hinsicht im Widerspruch zum Vorhaben des Bäckers entstehen
und doch nicht wegzudenken sind. Die Rede ist von aufplatzenden
Feigen, von überreifen, nahe an Fäulnis grenzenden Oliven,
von der runzligen Stirnhaut des Löwen, von der Blüte und Reife
der Greisin und vom offenen Rachen der Raubtiere. Sicher war
sich der Autor (Marc Aurel) auch in einem: "Ein Ding, das
gelobt wird, wird dadurch weder besser noch schlechter."
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Kurt Kocherscheidt: Große Teichruhe
(Tryptichon), 1987, je 180 x 160 cm
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