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Kurt Kocherscheidt
 

Härte, Distanz und Nähe
Über Kurt Kocherscheidt

in: Land in Sicht. Österreichische Kunst im 20. Jahrhundert.
Ausstellungskatalog (ungarisch/deutsch)
Mücsarnok, Wien/Budapest 1989
Nachdruck in: Kurt Kocherscheidt. Ausstellungskatalog. Wiener Secession, Wien 1992

Essay zur künstlerischen Arbeit von Kurt Kocherscheidt

 

 

Kurt Kocherscheidt braucht natürlich/eigentlich/selbstverständlich keinen Übersetzer, der sich irgendwo dazwischendrängt. Nützlich sind höchstens Versuche, seiner Sprache und Sprachlosigkeit etwas verwandt Autonomes gegenüberzustellen. Bilder mit Worten zu illustrieren bringt nichts. Sätzen, die mit seiner Arbeit zu tun haben wollen, sollte es gelingen, Blicke in Gedanken zu verwandeln. Unausgesprochenes aber muß seine Kraft behalten.

Denn Gedanken schreibt die deutsche Sprache ein Umherirren in Gedankengängen vor. Im Englischen wird statt kafkaesker Gänge das Bild vom Zug (train of thought) und von der Kette (chain of reasoning) bevorzugt, im Italienischen der Verlauf, der Kurs, der Boulevard, das Promenieren (corso delle idee), im Französischen schlicht die Reihenfolge, die Fortsetzung und die - mit der Anordnung und dem Befehl verwandte - Ordnung (suite oder ordre des idées). Im Ungarischen wiederum sind die Sorge, das Sich-Kümmern (gond) im Gedanken (gondolat) enthalten. Überall schaffen es Ideen, sich in Sachverhalte einzuschleichen. Fragilität aber kann sich nur erklären, wenn die Bestandteile sprachlich vermittelter Denkprozesse von vornherein zugeben, wie sehr sie sich einer Präzision des Ausdrucks widersetzen. Daher nennt Kocherscheidt seine Bilder auch "Gedankenzapfen", "Augenecho", "Graugeographie" oder "Große Teichruhe". Nicht Beschreibungen eines Themas, sondern Ausdrücke für das Herangehen an sich entwickelnde Aufgaben dominieren. Das Wort sehnt sich nach dem Bild. Ordnung und Fließen bekämpfen einander. Selbst zugehörige Farben und Geräusche sind unterschiedlich strukturiert. Es ist der Augenblick, der Ruhe und Bewegung trennt, Natur und Geist, Endliches und Unendliches. Für Kierkegaard ist er die Kategorie des Übergangs schlechthin, "der erste Reflex der Ewigkeit in der Zeit, ihr erster Versuch, gleichsam die Zeit anzuhalten".

So gesehen arbeitet Kurt Kocherscheidt zwangsläufig für den Augenblick, für diesen umstrittenen, widerspruchsvollen Ort in der Zeit. Nur nimmt er diesen Ort in Besitz wie ein verwildertes Feld, auf dem seinem Denken zuordenbare Begriffe wie funktionslos gewordene Grenzsteine herumliegen. Trennungen werden dort aufgehoben. Alles ist Materie, Wirklichkeit, Natur. Und dennoch entstehen dauernd neue Trennungen.

Naheliegendes schafft es zwar selbst unter dir Herrschaft des Fremden manchmal, wärmende oder blitzende Intensität zu erzeugen. Weithergeholtes hingegen ist fast immer Diskriminierungen ausgesetzt. Ihm wird die Chance dazupassender Unmittelbarkeit abgesprochen. Für die Herstellung entlegener Zusammenhänge hat der Sprachgebrauch den Vorwurf sinnloser Künstlichkeit parat, vielleicht, weil ohne das latente Plädoyer für Nähe die letzten Vorstellungen von Harmonie verloren gingen. Andererseits muß sich Erhofftes immer in der Ferne aufhalten, Also herrscht selbst auf Abstraktionsebenen, wo statt Moralkriterien nur Richtiges und Falsches Gültigkeit haben, eine elementare Ungerechtigkeit. Radikale Nähe soll die Zeit anhalten oder wenigstens verlangsamen und doch vergeht sie gerade dann wie im Flug. Angst vor Entfernungen mündet in Angst vorm Unendlichen. Freude an Nähe kulminiert im Exzeß und im Tod. Freiheit herrscht in Gebieten, die vom Sinn noch nicht entdeckt sind. Und Sätze wie diese können nicht mehr sein als Splitter der Absurdität.

Kurt Kocherscheidt ist auf ganz andere, sprachlose Beweise aus. Er erzeugt Bilder, die deutlich machen, wie distanziert jede Nähe bleibt und wie nah einem jede Distanz vorkommen kann. Sie verbergen jenen Punkt, der diese Dialektik aufhebt. Aber sie führen einen sehr nah an die Möglichkeit heran, sich diesen Punkt, diesen Augenblick, diese Situation in einer unbekannten Sprache vorstellen zu können. Ahnungen werden zu Ahnungslosigkeit, Gesagtes wird zu Ungesagtem, Unbekanntes zu Bekanntem. Mysteriöse Gegenstände heben vom Menschen eingeführte Trennungen innerhalb der Natur wieder auf, ohne sich deswegen einer Natürlichkeit unterzuordnen. Wenn alles fremd ist, müßte nichts mehr fremd sein. Wenn alles zusammengehört, muß ich anders unterscheiden lernen. Ob Teile fürs Ganze stehen oder das Ganze wiederum bloß irgendein Teil ist, äußert sich als Form, als weiterhin mysteriöse, zu erkundende Form. Materie hat Gültigkeit, sonst nichts. Mit der Materie umzugehen ersetzt die Nachahmung der Natur. Gehirn, Nerven, Empfindungen sind auch Natur, sind Systemelemente, die Sachverhalte produzier

Natur ist "Inbegriff der Gesetzmäßigkeiten" und zugleich Ideologie. Als Wertvorstellung wird sie, so Georg Lukács (in "Geschichte und Klassenbewußtsein"), stellvertretend für alles "Organisch-Gewachsene" immer wieder gegen Künstlichkeit, Willkür, Regellosigkeit ausgespielt und auf eine stimmungsvolle Verteidigung von Innerlichkeit reduziert. Wie "der gesellschaftlich vernichtete, zerstückelte, zwischen Teilsystemen verteilte Mensch gedanklich wieder hergestellt werden soll", bleibt somit ausgespart. Kocherscheidt verweigert sich keineswegs diesen Fragen. Im Gegenteil, er geht sehr nahe an sie heran. Er stellt sie unaufhörlich von Neuem, als Subjekt, das etwas mit Konsequenz erzeugt. Mit harter Sprache werden Dinge zurechtgerückt, ohne damit Unrecht und Außenseitertum zu ästhetisieren. Wehleidigkeit darf keine aufkommen, selbst nicht dem Tod gegenüber. Dazu gehört auch die Überwindung des Spielerischen und Anekdotischen. Aus der eigenen Biographie braucht nichts sichtbar werden. Der Mensch mit seinem Körper kommt in den Bildern nur sporadisch vor. Anderes - ihn betreffend - ist wichtiger.

Das Warten gilt dem Augenblick der List, in dem es gelingt, automatischen Abläufen etwas Besseres zu lehren. Jeder weiß um Überraschungen, die so geboten werden. Nervosität herrscht deswegen, weil man auch den dazwischenliegenden Phasen genügend Möglichkeiten abgewinnen kann. Irgendwann entsteht so Gewißheit. Ernstzunehrnen ist sie erst, wenn sie sich durch unmerkliches Lächeln befreit. Damit taucht etwas auf, das der durchscheinenden Unsichtbarkeit in überzeugenden Texten und Bildern gleicht. Eine davon unberührte Gewißheit aber kehrt sich leicht zum Zeichen des Gegenteils um. Daß in Augen von anderen über solche Unterschiede die subtilsten Andeutungen abgelesen werden können, zeigt permanent, wie intensivierbar die Aussage- und Täuschungsfähigkeit der Sinnesorgane noch wäre. Alleingelassen braucht Glaubwürdigkeit die Bewegungsmomente und Anhaltspunkte einer komplizierten Subjektivität. Henri Bergson hat darüber in "Materie und Gedächtnis" folgende resümierende Feststellung getroffen: "Der Geist entnimmt der Materie die Wahrnehmungen, aus denen er seine Nahrung zieht, und gibt sie ihr als Bewegung zurück, der er den Stempel der Freiheit aufgedrückt hat."

Die Bewegung von Dingen und Gedanken ist für Kurt Kocherscheidt kein Darstellungsproblem. Bevor ihn Intellektualität zu Spitzfindigkeiten verführt, rettet er sich in Zähigkeit. Diese Zähigkeit wird überall sichtbar. Mit Bitternis will sie nichts zu tun haben. So entstehen Formen jenseits von Erinnerung und Erfindung. Dumpfe, dunkle, trübe, undurchsichtige Farben drücken Lichtverhältnisse aus, wie sie vor oder nach irgendwelchen Elementarereignissen herrschen dürften. Die schwarz-braun-grauen Flächen können Himmel, Erde, Wasser, Finsternis und kosmische Fremdheit oder etwas völlig Unbestimmbares und damit Unerreichbares sein. Als Umgebung drängen sie sich ganz nah an jene Gegenstände heran, die gerade sichtbar sind. An dieser - oft durchdringenden - Nähe aber ist nichts Bedrohliches. Angst wird entwertet, neutralisiert; dem Chaos mit durchdringender Wärme die Destruktivität genommen. Spröde, mit groben Pinselstrichen gesetzte Farbschichten lassen Spuren erfolgter Reduktionen durchscheinen. Die Oberflächen wollen sich nicht von provisorischer Anstreicherarbeit unterscheiden. Den Untergrund bilden oft ornamentale, schwarz-weiße Strukturen, die dann Schritt für Schritt überdeckt werden, um technische Ästhetizismen zugunsten einer direkten Sprache zu eliminieren. Kompliziertheit wird solange zugedeckt, "bis übrig ist, was übrig bleiben soll".

In bezug auf jene Geschichte, die sich als Veränderung des Sehens und von Wertungen ausdrückt, ist im engeren Umfeld für Kocherscheidts Bilder an einige signifikante Phasen künstlerischer Gesetzgebung zu erinnern. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren herrschte Figurenverbot. Selbst Andeutungen von Gegenständlichkeit provozierten Hohn. Parallel dazu entstand ein Tafelbildverbot. Für längere Zeit war jedwede Malerei tabuisiert. Mit wenigen Ausnahmen wurden Bilder - noch dazu in Öl - zu Marginalien erklärt. Im ursprünglich gerade in Wien offensiv geführten Kampf für radikale Öffnungen und eine andere Kunst schien nichts beim Alten bleiben zu dürfen, solange, bis in der so heraufbeschworenen neuen Vielfalt eine Amnestie unausweichlich wurde. "unausweichlich" wurden damit auch neue, subtilere Formen der Ausschaltung und Selbstausschaltung der Intelligenz.

Kurt Kocherscheidt hat sich angesichts dieser Umstände einer Betriebsamkeit eher entzogen und dennoch in den knapp 30 Jahren, die er nun auf Malerei setzt, eine Sonderposition unter den prägenden, von Österreich aus wirkenden Künstlern erarbeitet. Die große Einzelausstellung im Wiener Museum des 20. Jahrhunderts (1986) war ein Signal dafür, daß nun auch offiziell die eigenständige Kraft seiner Widerstandshaltung zur Kenntnis genommen wurde. Geboren in Klagenfurt hat er an der Akademie der bildenden Künste in Wien und dazwischen in Zagreb an der Akademija Likovnih Umjetnosti studiert. Nach einer kurzlebigen Gruppenbildung ("Wirklichkeiten", 1968/69) ist er auf eine Zäsur ausgewesen. Ein längerer Aufenthalt in London und eine einjährige Reise durch ganz Lateinamerika wurden zu prägenden biographischen Bruchstellen. Die brutale Atmosphäre des Londoner East End und die Lebensbedingungen in Südamerika, wo sich durch unzählige Einzelheiten die Logik der Macht auf ganz unmittelbare Weise demaskiert, haben den Blick für überall herrschende Unterdrückungsmechanismen geschärft. Es zeichnete sich ab, daß verständliche Gesten des Kritischen ihre Zukunft als blind-parasitäre Systemergänzung bereits in sich tragen. Für die weitere Arbeit hat diese Politisierung einschneidende Konsequenzen. Geklärt war, daß es nicht um agitatorische "politische" Malerei gehen konnte. Auf die Zustände läßt sich nicht in deren Sprache antworten. Das hieße nur, ihnen sinngebende Zusammenhänge zu unterstellen und mit dem Desaster konventioneller Wahrnehmungsbereitschaft zu paktieren. Wenn Offenheit in die Stabilität permanenter Aufmerksamkeit umschlagen kann, dann als Auseinandersetzung mit dem So-Sein und So-Sein, aber ohne Kalkulation mit einem ewigen Entwed-Oder. Sorgfalt heißt daher auch Bereinigung. Literarisches wurde eliminiert; ebenso Individuelles, Biographisches, Räsonierendes. "Ernstzunehmende Kunst" ist für Kurt Kocherscheidt selbstverständlich "von vornherein politisch, weil sie einen Menschen mit einem Gewissen voraussetzt, der politisch reflektiert, der nachdenkt, also auch zweifelt".

Ein alter, auf Kriegszügen (die von Gegenden zwischen dem heutigen Budapest und dem heutigen Wien aus geführt worden sind) verfaßter Text spricht - vermutlich in Kocherscheidts Sinn - von der oft unansehnlichen, längst nicht jedermann auffallenden Intensität und "Schönheit" gerade solcher Dinge, "die, für sich allein betrachtet, weit davon entfernt sind, schön zu sein". Die Rede ist von Brot, dessen Risse in gewisser Hinsicht im Widerspruch zum Vorhaben des Bäckers entstehen und doch nicht wegzudenken sind. Die Rede ist von aufplatzenden Feigen, von überreifen, nahe an Fäulnis grenzenden Oliven, von der runzligen Stirnhaut des Löwen, von der Blüte und Reife der Greisin und vom offenen Rachen der Raubtiere. Sicher war sich der Autor (Marc Aurel) auch in einem: "Ein Ding, das gelobt wird, wird dadurch weder besser noch schlechter."

 


Kurt Kocherscheidt: Große Teichruhe (Tryptichon), 1987, je 180 x 160 cm
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© Christian Reder 1989/2001