In Zeit im Bild, der Nachrichtensendung des österreichischen
Fernsehens, müßte, wenn es wörtlich zuginge, bloß eine Uhr
zu sehen sein. Es wird auch eine Uhr gezeigt. Nur verschwindet
sie, wenn es los geht. Ihre Funktion übernimmt ein transparenter
Globus, der sich rasch von West nach Ost dreht. Zuerst taucht
Asien auf, dann werden die Tagesschlagzeilen eingeblendet,
Nordamerika rotiert vorbei und bleibt als durchscheinender
Schatten im Hintergrund erkennbar, wenn die Bewegung - mit
Blick auf Europa - abrupt zum Stillstand kommt. Die folgenden
Ausschnitte aus dem aktuellen Weltgeschehen beendet nach einem
Werbeblock der Wetterbericht. Wieder geht es um den Blick
aus dem Weltraum, nur ist die Erde >natürlicher< zu sehen,
zuerst ganz von fern, dann aus Satellitenperspektive, schließlich
liefern Landkarten die eigentlich wichtigen Bilder. Auf ihnen
können großräumige Strömungen, Ursachen, Wirkungen und selbst
Vorhersagen in anschaulicher Weise nachvollzogen werden, präsentiert
in analytische Übersichtlichkeit, wie sie bei politischen
Informationen nur in Ausnahmefällen erreicht wird. Deshalb
hat der Wetterbericht in aufklärungsinteressierten Zeiten
als Vorbild einer knappen, audio-visuellen Informationsarbeit
gegolten (vgl. Holzinger/Springer/Zeller: >Zeit im Bild<-Analyse.
Wien-München 1973).
Indem die TV-Philosophen uns täglich vorführen, wie die
Bewegung des Planeten anhält, sobald Europa in die Bildmitte
gerückt ist, wird ein Einvernehmen mit Hegels Sicht vom Lauf
der Dinge demonstriert. Er jedenfalls würde sich über die
massenmediale Bestätigung seiner Prophezeiung freuen: >Die
Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist
schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang<.
Die Computergrafik des Zeit im Bild-Signetfilms hat dieser
Feststellung jede bedenkliche Schwere genommen und pünktlich
um halb Acht wird ein durchsichtiger Globus zum Objekt allgemeiner
>Weltanschauung<. Anhand dieses Begriffs müßte nun Emanuel
Kant ins Spiel kommen; plausibler aber dürfte es sein, sich
von ihm und weiteren Überinterpretationen zu verabschieden,
um sich den >konkreten< Weltbildern von Globen und Landkarten
zuzuwenden. Als Methoden der >Erdbeschreibung< (gr. Geographie)
tragen sie zur >Lesbarkeit der Welt< (Hans Blumenberg) bei,
sogar wenn ihnen zugestanden wird, für sich allein zu sprechen.
Als Zeichensysteme führen sie, vielleicht weil ihr Gebrauch
so selbstverständlich ist, ein abseitiges, von Notwendigkeiten
diktiertes Dasein. Dabei ließen sich gerade Landkarten und
Stadtpläne einer Philosophie der Orientierungstechniken zuordnen;
siehe Kompaß, Sextant, Leitsysteme, Leitstrahlen, Geheimsprachen,
Codes, urbane Zeichen, Radar, Computersteuerung, Künstliche
Intelligenz. Im sich orientieren (von lat. oriens), nach dem
Sonnenaufgang, nach den Himmelsrichtungen, nach dem Lauf der
Gestirne bleibt - so oder so - Universalität erhalten. Landkarte
und Ansichtskarte, Stadtplan und Planspiel sind Sprachverwandtschaften,
die einiges von der darin verborgenen Antiquiertheit ausdrücken.
Denn: Koordinatensysteme im Raum machen anschauliche >Weltbilder<
und >Erdbeschreibungen< überflüssig. Bewegungen verlaufen
zwischen mathematischen Punkten. Die Pläne dafür sind entmaterialisiert
oder gar nicht mehr vorhanden. Alles arbeitet an der Abschaffung
von Distanzen (von kritischer Distanz insbesondere). Die Geschwindigkeit
der Bilder entwaffnet. Jedem Standort im Geschehen ist die
Qualität als Anhaltspunkt genommen. Dennoch und gerade deswegen
beruft sich etwa Frederic Jameson darauf (>Postmoderne - zur
Logik der Kultur im Spätkapitalismus<, New Left Review 146/1984),
daß unsere jetzige, vorerst nur hypothetisch zu fassende Kultur
hauptsächlich als >Ästhetik eines Kartographierens der Wahrnehmung
und der Erkenntnis (cognitive mapping)< verstanden werden
kann. Im >Welt-Raum des multinationalen Kapitals< müßten neue
Formen der Repräsentation dieses Raums gefunden werden, >mit
denen wir wieder beginnen können, unseren Standort als individuelle
und kollektive Subjekte zu bestimmen<, als Chance für eine
neue Handlungsfähigkeit angesichts der neutralisierenden gesellschaftlichen
Konfusion.
Kartographieren bezieht sich auf Oberflächen. Präzise Oberflächlichkeit
hat keinen Grund, sich benachteiligen zu lassen, nur weil
sie für ihre Art von Genauigkeit nicht auch noch Tiefe braucht.
Trotzdem bleibt ihr Problem die Schwierigkeit, Raum und vor
allem gekrümmten Raum auf Flächen zu übertragen; von der vierten
Dimension ganz zu schweigen. Selbst im konventionellen Bereich
von Landkarten kann Wahrheit also immer >nur fast< erreicht
werden. In der Erkundung unbekannter Gebiete spiegelt sich
das gleiche Problem. Welches Flächenausmaß der Erdoberfläche
- um Vermessungsfragen ganz direkt anzugehen - bekannt geworden
ist, läßt sich als einfache Kurve darstellen. Bis zum Mittelalter
verläuft sie flach, mit kaum merklichem Anstieg, ab dem 15.
Jahrhundert strebt sie steil nach oben, der 100 Prozent-Marke
entgegen. Im europäischen Kulturkreis nämlich, so sagen die
Statistiker (Quelle: W. Stein: Kulturfahrplan, 1979), sind
von der Land- und Wasseroberfläche der Erde folgende Anteile
bekannt gewesen: 400 v. Chr.: 2,8 % / 200 n. Chr.: 7.0 % /
1000: 8,1 % / 1400: 11,2 % / 1500: 22,1 % / 1600: 49,0 % /
1700: 60,7 % / 1800: 82,6 % / 1900: 95,7 % / 1950: fast 100
%. Das zu den Daten über den Weg zur Vollständigkeit des geographischen
Weltbildes. Sein schriftliches und zeichnerisches Fixieren
anhand von Naturbeobachtungen, Vermessungen, Dokumenten, Gerüchten,
Interessen, Fotos ist eine Geschichte für sich. Am Anfang
des beschriebenen Kurvenanstiegs stehen die Neuausgaben der
Ptolemäus-Karten, die Erfindung der Mercator-Projektion, der
älteste erhaltene Globus (von Martin Behaim, Nürnberg 1492).
Wissenschaftstheoretisch interessant ist der erreichte Bekanntheitsgrad
von >fast 100 %<, von dem in der Gegenwart weiter die Rede
sein muß. Daß andere von der Welt vieles längst kannten, bevor
es von europäischen Entdeckern erforscht worden ist, dürfte
angesichts der globalen Vereinheitlichung bloß noch als historisches
Kuriosum zu werten sein. Zur Not wurde zwar Chinesen, Indern,
Arabern ein passables Interesse an Grenzüberschreitungen zugestanden;
daß aber etwa Abubakaris II. von Mali aus schon 1303 mit 200
Schiffen nach Westen, in Richtung Amerika, aufgebrochen ist,
ohne daß jemand wieder von dieser Expedition gehört hätte,
dringt über Spezialwerke wie >Die Geschichte Schwarz-Afrikas<
(von Joseph Ki-Zerbo) kaum hinaus.
Die Bedingtheit dargestellter Weltbilder erweist sich auch
ständig am gewählten Ausschnitt. Der wie befohlen wirkende
Standard-Blickwinkel erfaßt Europa und Nordamerika. Die >freie
Welt<, das >Atlantische Bündnis< erzeugen bis in die Schulatlanten
hinein die gewünschten Perspektiven. Der Nullmeridian von
Greenwich - wo übrigens Heinrich VIII. geboren wurde - hat
eine ähnliche Wirkung. Ein Mittelpunktdenken setzt sich trotz
aller Vernetzungen fort und ist schwer zu verdrängen. Auf
den eingangs genannten Wetterkarten im Fernsehen liegt Österreich,
zwangsläufig und stark hervorgehoben, im Zentrum der gezeigten
Welt. Inwieweit solche täglich vermittelten >Reich der Mitte<-Ideologien
tatsächlich den Mitteleuropa-Hochmut bestärken, als Kraft
zwischen Europäischer Gemeinschaft und Comecon, wäre für Medien-
und Meinungsforscher ein durchaus ergiebiges Thema. Bis zur
mir lieb gewordenen Einschätzung von Marx und Engels, die
im reaktionären Österreich >das europäische China< gesehen
haben, bräuchte man dabei gar nicht zurückzugehen. Jedenfalls:
Andere Perspektiven schaffen verblüffend schnell Abhilfe;
so zum Beispiel die vom britischen Verteidigungsministerium
1974 publizierte >Demonstration Map: U. S. S. R. and Adjacent
Areas<, die Europa und Japan auf graue Anhängsel einer riesigen,
rosa und gelb kolorierten Sowjetunion reduziert. Ernest Dichter,
der aus Wien stammende amerikanische Motivforscher wiederum,
hat der Neuseeländischen Regierung schon vor Jahren die Herausgabe
eigener Kartenwerke empfohlen, auf denen ihr Land nicht als
Ende der Welt erscheint, etwa durch Betonung des Pazifischen
Raumes anstelle eines Europabezugs oder durch den Bruch mit
der Konvention, den Norden oben und den Süden unten anzunehmen.
Zu leugnen ist ja nicht, daß Kalifornien, Mexiko, Sibirien,
China, Japan, Korea, die Philippinen, Australien, Chile etc.
etc. an einem Ozean liegen, auf der Rückseite des für gewöhnlich
abgebildeten Globus, und das erst langsam ins Bewußtsein von
Vorderseitenbewohnern dringt. Nicht ohne Grund ist der Störfaktor
Datumsgrenze in diesen so lange als unwichtig geltenden Raum
verlegt worden.
An Landkartenausschnitten, die Gegebenheiten zurechtrücken,
Maßstäbe anpassen, Trennungen aufheben, Blickwinkel überprüfen,
kann also permanent weitergearbeitet werden, selbst wenn die
politischen Grenzen stabil bleiben. Eine andere Sache ist
die Ästhetik der Darstellungen. Besonders auffallend ist die
anhaltende Pink-Kultur bei den Globen, Atlanten und Kartenwerken.
Bis in die Hoch-Zeiten kolonialen Denkens ist der gediegen
gestaltete Globus Einrichtungsstück bürgerlicher Haushalte
gewesen, vergleichbar dem Totenschädel am Schreibtisch von
Faust-Lesern. Inzwischen hat sich da einiges verschoben, selbst
in Konzernzentralen wird auf die lange obligatorischen Weltkarten
hinter jedem Chefsessel verzichtet. Ein von kommerzieller
und touristischer Weltläufigkeit geprägtes Selbstwertgefühl
braucht solche Bestätigungen nicht mehr. Mit Inbesitznahme
der Welt auf die indirekte Weise sind auch die Zeichen dafür
hintergründiger geworden. Bestimmte Uhrenmarken drücken genügend
davon aus. Der weltweit übliche Ministermercedes ist auch
nichts anderes, und sei es als Kopie. Als Zäsurzeit solcher
Entwicklungen können die 50er Jahre geortet werden. In die
Ästhetik der Kartographen, bis dahin von den Traditionen gedeckter,
die Mühe genauen Zeichnens unterstreichender Farben geprägt,
ist damals der Rosa- und Blau-Kult nach dem Muster >optimistisches
Jugendzimmer< eingebrochen. Die >junge Welt< nach dem Krieg,
die >Family of Man< (so der bezeichnende Titel einer wichtigen
amerikanischen Foto-Wanderausstellung jener Zeit) fand ihren
Ausdruck in grellen Pastelltönen. In Landkarten hat sich viel
davon erhalten, bei Globen wird es durch Plastikmaterialien
noch plastischer.
Welche sonstigen Schwindel permanent in Kauf genommen werden,
symbolisiert die übliche Mercator-Projektion. Grönland erscheint
dabei größer als Australien oder China, Skandinavien größer
als Indien, Europa größer als Südamerika. Mit der Wirklichkeit
hat das nichts gemein. Weil ein anderes, solche Verfälschungen
eliminierendes >Weltbild< nicht erwünscht ist, bleibt die
flächentreue Darstellung der Peters-Projektion ein Hobby von
Entwicklungshelfern. Außerdem offenbart die monopolistische
Verwaltung von Landkarten immer wieder deren militärischen
Zweck. Geschickte Touristen können sich zwar hervorragende
Detailkarten von den Wüstengebieten im Dreiländereck Algerien,
Libyen, Tschad verschaffen, die vom Pariser Institut Géographique
National herausgegeben werden, erleben aber dann, wie bewundernd
örtliche Militärs auf diese fremden, ihnen unzugänglichen
Schätze starren. Für die einzige, vom nordöstlichen Afghanistan
erhältlichen Karte gilt das gleiche. Sie ist eine in St. Louis
herausgegebene >US Air Force Pilotage Chart< mit der Nummer
PC G-6C. Erstaunlicher Weise kann man sie in Wien, bei Freytag
& Berndt am Kohlmarkt, ganz einfach kaufen. Im Land, das es
auf ihr so exakt abgebildet ist, braucht sie höchstens ein
Fremder. Aber das Orientieren nach Plänen ist ja auch für
Fremde vorgesehen. Schon aus Zeitmangel müssen ihnen fragmentarische,
Auffälligkeiten verzeichnende Informationen genügen.
Wie auch immer: Pläne sind dazu da, Bestehendes abzubilden
oder zu verändern. Das Scheitern dabei mündet phasenweise
in eine Freude an Planlosigkeit. Diese Freude trifft sich
mit jener, die gegen Überwachungspläne gerichtet ist. Dagegen
hat eigentlich niemand etwas, denn sobald alles wie von selbst
passiert, kann Teilnahmslosigkeit in Euphorie verwandelt werden.
Anderen in die Karten zu schauen ist dann kein Thema mehr.
Dennoch lohnt es, daran zu erinnern, dass sogar Spielern das
Recht zusteht, beim geringsten Misstrauen neue Karten zu fordern.
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