Von den Erfolgsgeheimnissen einer weltweit agierenden, bewußt
undurchsichtig verschachtelten Unternehmensgruppe, ist in
letzter Zeit immer mehr bekannt geworden, weil sie in den
Blickpunkt öffentlichen Interesses gerückt ist und sich diverse
Insider, bedrängt von hartnäckigen Analytikern, nicht mehr
an gewohnte Loyalitäten halten. Vieles, was da offen gelegt
wird, entspricht durchaus einer geläufigen, eher antiquiert
wirkenden Logik der Macht; die innere Ordnung ist relativ
simpel, wird aber sehr wichtig genommen. Alles konzentriert
sich auf einige wenige, allerdings streng einzuhaltende Regeln
und auf konsequente Sanktionsmechanismen. Kompetenzen und
Entscheidungsebenen sind präzise festgelegt. Anfallende Arbeiten
werden von überschaubaren, ziemlich selbständig handelnden
Gruppen übernommen. Ihr Wettbewerb untereinander bildet die
dynamische Komponente, manchmal führt er zu Machtverschiebungen,
wirklich destruktiv wird er angesichts der Stärke der Gesamtorganisation
eigentlich nie. Es werden grundsätzlich nur freie Mitarbeiter
mit anderen Hauptberufen beschäftigt, damit breite Erfahrungen
aus unterschiedlichsten Arbeitsfeldern und ein verzweigtes
Informationssystem verfügbar sind. Ein hochentwickeltes firmeninternes
Sozialnetz sichert jedem eine lebenslange Versorgung. Geschenke
haben, als Zeichen von Respekt und gegenseitiger Verpflichtung,
einen hohen Stellenwert. Von einem Personalmangel ist nie
etwas bekannt geworden. Gefordert wird unbedingte Verläßlichkeit.
Auffallendes Verhalten, sei es bezüglich Bekleidung, Sexualität
oder politischer Einstellung, wird nicht gern gesehen, weil
es einen Unsicherheitsfaktor darstellen könnte. Gefühle zu
zeigen gilt als Schwäche. Um die Angelegenheiten anderer braucht
sich keiner zu kümmern; schon gar nicht um jene des geringgeschätzten
Staates. Was zählt, ist die eigene, gemeinsame Sache. Der
Zusammenhalt basiert also auf einem nach innen gerichteten
Konservativismus; Familie, Frau, Kinder, Kirche und Einsatzbereitschaft
sind zugehörige dominante Begriffe. Das schließt eine Anpassungsfähigkeit
keineswegs aus, im Gegenteil. Auf gesellschaftliche Entwicklungen
wird trotz solcher Traditionen sehr flexibel reagiert. Die
Methoden sind immer extrem pragmatisch, in geschäftlichen
Dingen ist die Wahl des kürzesten und billigsten Weges oberste
Handlungsmaxime. Erfolge zählen um so eher, wenn sie, sobald
der geeignete Augenblick da ist, auf möglichst einfache, unmittelbare
Weise erreicht werden. Insgesamt könnten also in diesen, auch
anderswo fragmentarisch anzutreffenden Organisationsprinzipien,
bloße Übersteigerungen üblicher Werte und Verhaltensweisen
gesehen werden, mit starker ästhetischer Komponente; denn
jedem Akteur sollte etwas selbstverständlich sein: "Alles
ist eine Frage des Stils."
Radikalisierung des Normalfalls
Der Stil, von dem die Rede ist, ist jener der sizilianischen
Mafia, der Cosa Nostra, wie ihn Giovanni Falcone, der am 23.
Mai 1992 mit seiner Frau und drei Leibwächtern ermordete Richter,
in dessen unverfänglicheren Zusammenhängen beschrieben hat.3
Er ist inzwischen zur Symbolfigur der breiten, landläufige
Formen einer Staatskrise radikalisierenden Anti-Mafia-Bewegung
geworden. Ihm zufolge beantwortet die provozierte Gegenmacht
öffentlichen Druck mit Strategien, sich noch unangreifbarer
zu machen. Das ehemals Charakteristische, wie die latente
Mordbereitschaft, das Eintreiben von Schutzgeldern oder brutale
Erpressungen, habe mit zunehmendem Vordringen in legale Wirtschaftsbereiche
an Bedeutung verloren. Kriminelle Energien bleiben - wie anderswo
auch - als Potential gespeichert, als Drohung und Absicherung
von Macht; ihre Anwendung wird zunehmend zum bloßen Zeichen,
das solche Erinnerungen wachhalten soll. In bezug auf Codes
ist die Mafia-Kultur übrigens besonders hochentwickelt; "man
muß wissen, daß alles Botschaft ist," berichtet Falcone; "die
Deutung der Zeichen, Gesten, Botschaften gehört zu den Hauptbeschäftigungen
der Ehrenmänner". Angesichts der enormen verfügbaren Kapitalien
ist zwangsläufig das Interesse gewachsen, sich auf scheinbar
saubere Geschäfte zu konzentrieren. Exzessiv zugenommen habe
die "Verpestung der legalen Wirtschaft". Um diesen Kurs abzusichern,
sind ertragreiche aber neuralgische Sparten vielfach in den
Privatbereich von Mafia-Mitgliedern ausgelagert worden (insbesonders
der Drogen- und Waffenhandel). Auch ein solcher Staat im Staat
folgt also den üblichen Privatisierungsbemühungen, vor allem,
um die obere Hierarchie noch besser von einer Strafverfolgung
abzuschirmen. Neu hinzugekommen ist der Betrug mit EU-Fördermitteln.
Ähnlichkeiten mit der "normalen" Gesellschaft nehmen also
eher zu. Analoge, bloß diffus unterscheidbare Interessen gibt
es, vielfach verwoben, vice versa. Denn die Mafia existiert
weiterhin "in vollkommener Symbiose auf dem Nährboden der
Massen von Protektoren, Komplizen, Informanten, Schuldnern
aller Art, großen und kleinen Erpressern, von Eingeschüchterten
oder Geprellten, die in allen Schichten der Gesellschaft zu
finden sind". Mit ihrem Gesetz des Schweigens (omertá ), des
Gehorsams, mit der Unerbittlichkeit gegen jeden Denunzianten
(den pentito ), der gegenseitigen Unterstützung und der geheimen
Zugehörigkeit kann sie Überlegenheiten ausspielen, von denen
in anderen Organisationen offenbar viele träumen. Selbst Giovanni
Falcone findet zu durchaus respektvollen Formulierungen: "Manchmal
scheint es mir, als wären diese Mafiosi die einzigen rational
denkenden Wesen dieser Welt voll Verrückter." "Warum müssen
sich Menschen, die ganz offensichtlich über enorme intellektuelle
Fähigkeiten verfügen, eine kriminelle Welt aufbauen, um in
Würde leben zu können?" Andererseits betont er insistierend,
daß es in einer Gesellschaft nicht zwei Rechtsordnungen geben
dürfe, als den ihm einzig möglichen, letztlich auf das Gewaltmonopol
des Staates pochenden Standpunkt, dem die "ironische Abgeklärtheit
(...), mit der die Mafia die Dinge betrachtet," gegenübersteht.
Ähnlich abgeklärt werden Informationen über andere vorkommende
Arten von Bandenbildung öffentlich behandelt. Die dabei angewandte
Diskretion bekräftigt permanent, wie sehr solche informellen
Formationen als Voraussetzung jedes Funktionierens angesehen
werden. Saubere Zustände sind eben nur als doppelsinniges
Negativbild vorstellbar. Als Ziel haben sie etwas Selbstverständliches
an sich. Es zu erreichen, ergäbe, als steriler Endzustand,
abstrakt mechanische Situationen. Angestrebt werden die sauberen
Zustände in diversen Subsystemen deswegen bloß fiktiv und
mit permanenter Risikoabwägung. Auch die mediale Öffentlichkeit,
inklusive der ihr zuarbeitenden Polizei und Justiz, reagiert
fortwährend im Sinn von Mafia-Taktiken, weil es im eigenen
und allgemeinen Interesse praktikabler ist, staatliche Energien
mit der Verfolgung von Kleinkriminalität zu beschäftigen und
auszulasten.4 Die Wiener "Presse" etwa begnügte sich mit neun
lakonischen Zeilen, um mitzuteilen, daß bislang offenbar weitgehend
unbekannte Täter aus dem Bereich Wirtschaft "während der deutschen
Wiedervereinigung einen Schaden von rund 18 Milliarden Mark
(126 Milliarden Schilling) angerichtet" hätten. Einer plausiblen
Automatik folgend, ist wesentlich ausführlicher dargestellt
worden, daß beim Kreditkartenbetrug Nigerianer und Hongkong-Chinesen
weltweit führend sind, "mit Banden bis zu 40.000 Mitgliedern".5
Sogar die weit über den eben genannten Beträgen liegenden
Mega-Summen, die sich in Japan für die Politikbeeinflussung
eingebürgert haben, tauchen meist bloß als Randbemerkungen
eifersüchtiger Erfolgsberichte auf. Die japanische Korruptionswirtschaft
funktioniert bisher offenbar effizienter als die italienische
und das drückt sich auch in unterschiedlichen Vorbildfunktionen
aus. Nur in zurückgebliebenen Gebieten, wo der übliche Standard
von Marktwirtschaft und Demokratie noch nicht erreicht ist,
so der durchgehende Tenor, seien konventionelle, also unterentwickelte
"Mafia"-Strukturen ein unvermeidliches Zwischenstadium, in
den kaputten Teilen der ehemaligen zweiten und dritten Welt
also. Von dort aus erfolgende Einmischungen in die ausbalancierte
innere Sicherheit des eigenen Bandenwesens erzeugen heftige
Irritationen. Selbst daß eine staatliche, als wenigstens halbwegs
geordnet empfundene Kriegsführung - die immer teurer und damit
unrentabel wurde - zugunsten exzessiver Bandenkriege deutlich
an Terrain verloren hat, muß letztlich in solche zivilisationsorientierte
Erklärungsmuster passen. Wenn allerdings auch die halblegalen
Wirtschaftskämpfe von Konzernen in das Szenario einer internationalen,
durch alle möglichen Umstände begünstigten Bandengesellschaft
einbezogen werden, wie es in der Managersprache oft genug
selbst anklingt, bekommt auch die erste Welt wieder das sonst
von ihr beanspruchte Gewicht.
Die Bande, effiziente Form der Gruppe
Mit einem Bandenbegriff, der sich von den einseitigen, ihm
für gewöhnlich zugeschriebenen Negativ-Aspekten löst, könnten
sozial-ökonomische Mechanismen, Verhaltensweisen und Codierungen
besser beobachtbar werden. Rechtsverletzungen wären dabei
a priori nicht zu unterstellen, zählen sie doch schlicht zu
den generellen Verhaltensmöglichkeiten des Menschen. Statistisch
werden in Österreich übrigens dem "organisierten Verbrechen"
ein Viertel der entsprechenden Straftatbestände zugeschrieben.
Banden sind Sonderformen der Gruppe und unterscheiden sich
durch ihre Aktivitätsorientierung, die sich primär in informellen
Bereichen, außerhalb offizieller Strukturen, unter deren Infiltration
oder Umgehung abspielt. Spontanes, kurzfristiges Kooperieren
würde genauso dazu zählen, wie ein organisiertes Vorgehen.
Durch bandenähnliche Formationen sind die Abgrenzungen fließend.
Zusammenhalt und Diskretion bilden verbindende Elemente. Oft
braucht die Kommunikation nur aktiviert zu werden, wenn es
für die Einflußnahme auf Transaktionen notwendig wird. Vielfach
regelt ein Patronagesystem, mit einem hohen Maß an informeller
Steuerung und diffusen Verpflichtungen (wie in Familien),
die materiellen und emotionellen Austauschbeziehungen. In
Machtstrukturen integrierte und davon isolierte Banden wären
zu unterscheiden. Daß Banden primär eine maskuline Angelegenheit
sind, verdient spezielle Aufmerksamkeit. Vom eigentlichen
Geschehen könnte unter dem Bandenaspekt also vieles sichtbarer
werden, und sei es als exemplarische Übersteigerung des Normalen.
Die Tautologie, überall hätten mafiose "Banden" das Sagen,
wie es umgangssprachlich gegenüber Politik, Wirtschaft, Wissenschaft,
Kunst, Sport, gegenüber einzelnen Firmen oder Institutionen
üblich ist, erfordert Unterscheidungen nach bestimmten Strukturmustern,
an denen Gemeinsames und Stereotypes am anscheinend Unvergleichlichen
deutlich wird, gerade wenn diverse abgeschwächte, vielleicht
aber bloß weniger spektakuläre, jedenfalls aber nicht zwingend
kriminelle Formen in ihrer Bandenähnlichkeit einbezogen werden.
Daß an solchen Gruppierungen generell Antidemokratisches,
Undurchsichtiges, sich Argumenten und jeder öffentlichen Kontrolle
Entziehendes, das Prägnante ist, wäre ein romantisch simplifizierter
Ansatz. Es werden sich vielfach auch spielerische und zahllose
unvernünftige Komponenten feststellen lassen oder schlicht
die Notwendigkeit, daß nur über Bandenbildungen überhaupt
ein Problem aufgegriffen oder etwas entschieden und durchgesetzt
werden kann. Die Funktionsweisen auf höheren sozialen Ebenen
haben, abgesehen von den äußeren Formen, durchaus Ähnlichkeiten
mit jenen in Slumgebieten, wo für Jugendliche ohne Mitgliedschaft
in einer Bande die Überlebensmöglichkeiten stark eingeschränkt
sind. Auch das einzige verbliebene intellektuelle Risiko,
durch abweichende Meinungen, abweichendes Verhalten, Verwendung
falscher Codes bei tonangebenden Banden in Ungnade zu fallen,
gehört in diesen Kontext. Die grassierende Aufwertung atavistischer
- die Gruppe gegen "die Masse", andere Gruppen und das Individuum
ausspielender - Strukturmuster dürfte einiges mit dem der
modernen Gesellschaft verlorengegangenen "Vertrauen in die
Richtigkeit der eigenen Selbstbeschreibung" zu tun haben;
nur sei eben die ständig geforderte Transparenz in Wirklichkeit
"unproduktiv" und deswegen wäre es naheliegend, "Intransparenz"
produktiv werden zu lassen, wie Niklas Luhmann es ausdrückt.
Als analytische Position ist dies genauso wichtig, wie sein
insistierendes Fragen "nach der Art des organisierten Umgangs
mit Nichtwissen".6
Banden sind in diesem Zusammenhang als Form der Reduktion
von Komplexität zu sehen. Ihre Ablehnung, als Furcht vor dem
Unbekannten, korrespondiert mit einem Bedürfnis nach Zugehörigkeit
und Mittäterschaft. Dabei zu sein, als die fortwährend kolportierte
gesellschaftliche Herausforderung, trifft so auf Steigerungsformen.
Erst mit Aufnahmeritualen und Ausschlußdrohungen erhalten
sie Gewicht. Es kommt jedoch genauso vor, daß einem irgendwelche
Mitgliedschaften gar nicht bewußt werden; solange andere bestimmte
Signale als Zeichen der Bereitschaft anerkennen, entstehen
auch ungewollt latente Kooperationspotentiale. Erstaunlicherweise
führen solche Wege nicht zwangsläufig nach oben, sondern einfach
in die Nähe. In Mehrfachzugehörigkeiten, mit diversen offiziellen,
halboffiziellen, privaten Schattierungen, einschließlich sich
daraus ergebender Widersprüche, drücken sich Differenzierungen
aus. Die zu beobachtende Aufwertung von Gruppenbildungen,
die ihrerseits oft das Geschehen in Bezugsgruppen simulieren
- von Karriereclubs und informellen "Seilschaften", über spontane
Politgruppen und Fraktionen, die sich eines Themas annehmen,
bis zu Skinheads in allen ihren Variationen, zu Korruptionsnetzwerken
oder verdeckten Staatsaktionen (Muster: Watergate, Irangate)
- könnte zum Teil als Reaktion auf diese diffusen Überlagerungen
verstanden werden, zum Teil als deutlich reduzierte Akzeptanz
vorgesehener aber verwahrloster Strukturen und defensiver
rechtsstaatlicher Institutionen. Sie sind also auch Kommunikationsformen
für Eigeninitiative. Greenpeace oder amnesty international
ist ein Bandencharakter nicht abzusprechen. Die Viererbande,
Piratensender oder Bazon Brocks "Gottsucherbanden" ("die Strategen
der Erzwingung des Ernstfalls, die Apokalyptiker und Erlösungspathetiker")7
sind sprachliche Bekräftigungen der Thematik. Ob "Gruppe"
oder "Bande", unter Ausklammerung rechtlicher Aspekte verschwimmen
die Unterschiede. Irgendein Stammlokal, ein Sportverein kann
die Basis für Cliquenwirtschaft, für Lobbyismus, für Pressuregroups
in ganz anderen Sphären werden. Daß der "White collar"-Bereich
wegen seiner Einbezogenheit in inoffizielle Machtmechanismen
durchwegs diskreter und als etwas substantiell anderes gesehen
wird, als vergleichbare Erscheinungen anderswo, hat sich als
Verhaltensmuster fest etabliert. Fragen dazu tauchen höchstens
routinemäßig auf. Wirtschaftlich und politisch starke Gruppen
schaffen "ein dem Gesetzbuch widersprechendes Recht", haben
die Sicherheit, "bestimmte Rechtsnormen brechen zu können",
durch Erwartungshaltungen und positive Sanktionen ist es "überraschend",
wenn korruptes Handeln überhaupt aufgedeckt wird, noch dazu,
wenn die Beteiligten es gar nicht als "illegal" ansehen (Roland
Girtler).8 In weiten Bereichen ist eine Kriminalisierung somit
ohnedies nur als ferne Drohung und mögliches Unglück präsent,
subjektiv spielt sie kaum eine Rolle. Reduziert wird damit
sogar die Chance, daß der Einzelne sich vor allem dann als
Individuum begreift und bestärkt, wenn er irgendwelche Vorschriften
verletzt.
Verbreitung und Konstitution bandenähnlicher Formationen,
unabhängig davon, wie ostentativ sie eigene Regeln befolgen,
geben somit Auskunft, wie im Schutz von Gruppen individuelle
Möglichkeiten wahrgenommen werden. Zur Bestätigung emotionaler,
sozialer, ökonomischer Defizite ließe sich vieles davon heranziehen.
Mit dem Schema, "schlechte Ereignisse mit schlechten Ursachen"
zu erklären, oder gute mit guten, bleibt der Rahmen aber ein
recht enger; selbst auf soziale Protestbewegungen oder den
Terrorismus (mit den zugehörigen Bandenaspekten) bezogen,
wird konstatiert, daß "die Entwicklung eines verallgemeinerungsfähigen
Verlaufsmodells bisher nicht gelungen ist".9 Von den sich
zur Bestärkung des alleingelassenen Individuums anbietenden
Gruppen sind jedenfalls Banden oft die leistungsfähigere Form.
Idealisiert kommen sie - um die Argumentation an einen Ausgangspunkt
zurückzuführen - in allen Jugendträumen vor, als Multiplikator
für Vitalität und Heldentum, einschließlich dafür notwendiger
Strategien des Verschwindens. Ohne Erzeugung von Geheimnissen
hätten sie nicht die bereits durch solche Mythen bestätigte
Attraktivität. Das kritische, reflektierende, persönlich verantwortliche
Subjekt hat, als moderneres Vorbild, dabei eher geringe Bedeutung;
wegen sich auf verschiedenste Weise aktualiserender Tendenzen
zu kollektiver Introvertiertheit, gerät es zwangsläufig immer
wieder unter starken Druck. Die "Moral der Klans, die sich
gegen das schützt, was über sie hinausgeht" und im "geheimen
Leben heutiger Mikrogruppen" Entsprechungen hat, baut aufs
Geheime - so Michel Maffesoli in seinem Text "Die Gesetze
des Geheimen" - als "Form der volkstümlichen Selbstbezogenheit".
Widerstand verschiedenster Ausprägung ist ein zugehöriger
Faktor. "Sobald man eine Ordnung der Dinge, eine Gemeinschaft
errichten, wiederherstellen oder korrigieren will, kommt man
auf das Geheime zurück, das die grundlegende Solidarität bestärkt
und annehmbar macht". Es als sozialen Tatbestand zu negieren,
gleicht der Unterlassung, daß man bisher die schon Kindern
geläufige "vereinigende Funktion des Schweigens nicht hinreichend
unterstrichen" hat.10
Angeblich abweichendes Verhalten
Eher grob sind auch die Unterscheidungen, die sich in diesem
Zusammenhang eingebürgert haben. In Meyers Enzyklopädischem
Lexikon etwa, wird mit einer gewissen Verbindlichkeit dargelegt,
daß unter "Banden" Gruppen mit nicht allzu vielen Mitgliedern
und einem besonderen Gruppenverhalten zu verstehen sind, "das
von den allgemeinen gesellschaftlichen Normen abweicht". Hervorgehoben
werden ausdrücklich Jugendbanden, als relativ häufige, nicht
prinzipiell kriminelle, auf Betonung des Andersseins zielende
Form. Sie werden, soferne eine gesellschaftliche Benachteiligung
erkennbar ist, mit pädagogischer Sympathie und Nachsicht behandelt,
bilde doch meist ein Aufwachsen in "sozialer Desorganisation"
den Hintergrund, aus dem ein Fehlen der Fähigkeit resultiert,
"das für die Mitarbeit in einer konstruktiven Gruppe notwendige
Verantwortungsgefühl aufzubringen". Als Positiva vermerkt
sind die von Banden gebotenen Möglichkeiten, sich zu orientieren
und trotz "begrenzten sozialen Leistungsvermögens Beziehungen
einzugehen und Funktionen auszuüben". Bei Erwachsenenbanden
hingegen werden grundsätzlich einschlägige Motive vorausgesetzt:
"Aus gesetzwidrigem und gewalttätigem Verhalten erwachsen
den einzelnen Bandenmitgliedern Prestige und Status innerhalb
der Bande". Auch ohne noch weiter auf diese sonderbar ausgrenzenden
Begriffsbildungen und Denkmuster einzugehen - die eine Suche
nach "konstruktiven Gruppen", gesellschaftlichen Normen, unbegrenztem
sozialem Leistungsvermögen oder radikaler Gesetzestreue miteinschließen
müßte - wird klar, daß bei Halbwüchsigen als Notlösung toleriert
wird, was später einfach andere Namen bekommt.
Gegen "künstliche" Familien gibt es latente Aversionen, obwohl
das gegenüber größeren Einheiten skeptische Zellendenken Rousseaus
- "Die älteste und die einzige natürliche unter allen gesellschaftlichen
Vereinigungen ist die Familie" - auch in abgewandelten, flüchtigeren
Formen immer wieder eine Bekräftigung erfährt. Praxisnäher
werden Interpretationen, wenn unter "Familie" genauso Sippen,
Banden oder Clans verstanden werden.11 Jugendliche, die über
Freundschaften, Gleichaltrigengruppen oder Banden das Gewicht
der Familie zu relativieren beginnen, haben offenbar früher
und heftiger ein wissenschaftliches Interesse erweckt, als
die Auswirkungen analoger Erscheinungen unter Erwachsenen.12
Für derartige Untersuchungen sind strafbare Handlungen immer
besonders anziehend gewesen, vielleicht, weil deren Quantifizierbarkeit
den Einfluß von Gruppen und Bezugsgruppen deutlicher machen
konnte. Angesichts der fortwährend aktualisierten Thematik
von Bandenbildungen wirkt es etwas voreilig, wenn - unter
dem Titel "Die Psychologie des 20. Jahrhunderts" - zugehörigen
Ansätzen, insbesonders den Subkulturtheorien, resümierend
bescheinigt wird, keiner hätte sich "empirisch belegen lassen"
und auf ihnen beruhende Vorbeugungsexperimente seien gescheitert.13
Daß übrigens im Englischen das Wort gang im Unterschied zur
tendenziell negativ gesehenen Bande eine eher neutrale Bedeutung
hat, läßt fließenden Übergängen den ihnen gebührenden Raum.
Nach dem, Ende der zwanziger Jahre, erstmals in Chicago entwickelten
kriminologischen Bandenbegriff, ist unter Bande eine Gruppe
zu verstehen, "die sich ursprünglich spontan gebildet und
durch das gemeinsame Bestehen von Konflikten sozial zusammengeschlossen
hat".13 Dieses weite Feld für verschiedenartige gemeinsame
Handlungen auf der Basis informeller Beziehungen erfährt offenbar
durch neuere Forschungen wieder eine markante Einschränkung,
indem das Typische krimineller Jugendbanden als "kollektive
Verantwortungslosigkeit" bezeichnet wird, weil normalerweise
folgende Kriterien erfüllt werden: "die mangelnde Ökonomie
ihres Verhaltens und ihre psychischen Erwerbsziele, die anti-sozialen
Zwecksetzungen ihrer Handlungen, ein Wir-Gefühl und eine Bandenseele
und die stereotype Behauptung der Bandenmitglieder, sie hätten
allein die Straftaten der Bande niemals begangen."13 Wird
den damit angesprochenen Taten die Eigenschaft als strafwürdig
genommen, klingt das meiste davon nach Realitätstherapie.
Verfügen solche Gruppen über keine ausgeprägtere Strukturierung,
wie es beim Bandencharakter vorausgesetzt wird, nähert sich
alles noch mehr der Realität. Denn die formlose Horde - oder
Clique - wird in diesem Zusammenhang sehr allgemein als "eine
Vergesellschaftung ohne Führung und ohne Dauerziel" gesehen.13
Vom despektierlichen Beiklang befreit, ist damit die Nähe
zum ánarchos (gr. führerlos, ohne Oberhaupt) wiederhergestellt,
nur haben sich zugehörige Vorstellungen von einer Politik
der Tat und von Revolutionen ohne Programm in zusammenhanglose
Spontaneitäten verwandelt. Anarchische Energien suchen sich
völlig unabhängig von früheren Bewußtseinslagen passende Eingriffsmöglichkeiten.
Mit seiner professionellen Aggression gegen abweichendes
Verhalten und gegen einen amerikanisiert dargestellten "Hooliganismus,"
hat gerade der Realsozialismus allen nichtetablierten Gruppierungen
außerhalb der Nomenklatura beweisen wollen, wie ein demokratischer
Zentralismus zu funktionieren hat. Daß in seinen ehemaligen
Territorien inzwischen mehr oder minder gut organisierte Banden
über weite Strecken das Geschehen bestimmen, könnte als zwangsläufige
Ökonomisierung unterdrückter anarchischer Kräfte interpretiert
werden. Zu erinnern ist vielleicht auch daran, daß für Karl
Popper der "neue Mythos von der Horde", in dem das Individuum
nichts zähle, Ansatzpunkt und Kapitelüberschrift seiner gegen
Hegel gerichteten Argumentation gewesen ist. Im reaktivierten
"Stammesideal des heroischen Menschen" sieht er, mit allen
Folgeerscheinungen, die Überhöhung der Kontroversen und Kämpfe
von Nationen, Klassen, Rassen betreffend, einen "Angriff auf
die Idee des zivilen Lebens selbst". Weil es um die Sache
gehe, für die sich einer einsetzt, sei vom heroischen Element
im Gangstertum genauso wenig zu halten, wie von jeder Lebt-gefährlich-Ideologie.
Geschichte als "Klassenstreitigkeiten" - oder als Summe der
Geschichten über Bandenkonflikte? - zu begreifen, hat er,
als abgemilderte Form, jedoch für plausibel gehalten.14
Facetten einer wirtschaftlichen Pragmatik
Im Zuge der einschneidenden, durch Elektronik geprägten Veränderungen
des Industriesystems in Richtung vernetzter Software- und
Symbol-Wirtschaft, ist viel von neuen Strukturen und freieren
Arbeitsweisen die Rede. Wie dabei jugendliche Phantasien über
Räuberbanden und Piraten in Managervorstellungen nachwirken,
wird zum Beispiel am öfter auftauchenden Wunsch nach einer
exterritorialen Insel als idealem Hauptquartier deutlich.
Was darin mitschwingt, ist die fixe Idee, daß trotz aller
Verflechtungen von anderswo, von einem imaginären Ort aus,
ungestörter und daher noch wirkungsvoller agiert werden könnte.
Selbst auf einer Konferenz über die Zukunft der industrialisierten
Welt im Weißen Haus in Washington ist, von Carl A. Gerstacker,
immerhin Vorstandsvorsitzender eines großen Multis, der Dow
Chemical Company, eingestanden worden: "Ich habe lange davon
geträumt, eine Insel zu kaufen, die keinem Staat gehört, und
auf dem wirklich neutralen Boden einer solchen Insel, wo ich
keinem Staat und keiner Gesellschaft verpflichtet bin, die
Weltzentrale von Dow zu gründen."15 Da der konkrete Ort längst
keine Bedeutung mehr für solche Intentionen hat und die Grenzen
für großräumiges Agieren zunehmend fallen, sind daran vor
allem die Outlaw-Aspekte signifikant. Ihre verschiedensten
Facetten kehren in Managerbüchern immer wieder. Das reicht
von der neuen Wertschätzung für "die chaotische Seite der
Innovation" über das forcierte Akzeptieren von "Kreativen
und Unangepaßten" (selbst "wenn ihre Arbeitsweise unorthodox,
ja manchmal schlampig auf uns wirkt"), bis zur Forderung nach
radikaler Dezentralisierung und nach weitgehend autonomen,
"am Rande der Unternehmenswelt" angesiedelten Werkstätten
für Querdenker.16 Projektgruppen, als das eigentliche dynamische
Element innerhalb von Organisationen, sollen außerhalb der
Hierarchien am Neuen arbeiten und dessen Durchsetzung beschleunigen.
In Bandenaspekte werden also Hoffnungen gesetzt, weil die
normalen Strukturen und Abläufe zu viele Barrieren und Unverläßlichkeiten
eingebaut haben. Auch deswegen ist betriebliche, institutionelle
Macht stets auf informelle Lobbybildungen und auf eine Mißachtung
der Dienstwege angewiesen. Von einem normalen Funktionieren
geht kaum noch jemand aus, denn im üblichen Fall, "ohne solide
Faktenbasis - ohne eine gute quantitative Vorstellung von
seinen Kunden, Märkten und Konkurrenten - kann man sicher
sein, daß die Prioritäten im Zuge verschlungener politischer
Manöver gesetzt werden".17
Mit "Krisen ihrer grundlegendsten Systeme - der Städtesysteme,
der Gesundheitssysteme, der Wohlfahrtssysteme, der Transportsysteme,
der ökologischen Systeme," sehen sich alle Industriegesellschaften
konfrontiert, so Alvin Toffler, als weitere Stimme aus dem
Managementbereich, deshalb plädiert er für "eine neue, wissensbasierte
Wirtschaft", mit der neugestaltete politische Institutionen
"in Einklang" zu bringen sind. Nach diversen "Machtbeben",
weil es sich eben nicht um eine "unpersönliche Angebots- und
Nachfragemaschine" (im Sinne Milton Friedmans) handle, würde
so eine "sich beschleunigende, kaleidoskopartige Wirtschaft"
auf elektronischer Basis entstehen, "die sich unablässig zu
neuen Mustern zusammensetzen kann, ohne zu zerfallen". Für
eine Bandengesellschaft lassen sich in Tofflers aktuellstem
Zukunftsszenario trotzdem noch genügend Hinweise finden. Wegen
der Wertschöpfung im Wissensbereich werde es zum Beispiel
demnächst "zu einer so hochgradigen Verschmelzung der Spionage
von Regierung und Privatwirtschaft kommen, daß davor alles
verblaßt, was es in der kapitalistischen Wirtschaft je gab,"
mit entsprechenden Verbindungen zur Computerkriminalität und
allen möglichen Formen von Datenmanipulation. Machtausübung
wird noch enger mit informeller Mitwisserschaft und der Ausschaltung
der Apparate verbunden sein müssen; je wichtiger ein Problem,
desto weniger befaßte Leute und höchstens rudimentäre schriftliche
Unterlagen. Vom FBI stammt die Prognose, daß "in den USA Haßgruppen
nur so aus dem Boden schießen" werden. Mit Kriegen zwischen
rivalisierenden Minderheitengruppen ist in Permanenz zu rechnen.
Eine "hochbeladene, schnell zickzackende Mosaik-Demokratie"
wird nach ganz eigenen Regeln funktionieren. Dafür nehme in
der Arbeitswelt die Organisationsvielfalt zu, steht doch einer
zu erwartenden Springflut zwangsläufiger Restrukturierungen
ein breites Repertoire erprobter Formen zur Verfügung, "von
der Jazz-Combo bis zum Spionagenetz, vom Stamm und Clan und
Ältestenrat bis hin zu Klöstern und Fußballmannschaften".18
In solchen - offenbar pragmatisch-handlungsorientiert angelegten
- Gedankenspielen über eine weiter zunehmende Ungleichzeitigkeit
gesellschaftlicher Strukturen, spiegelt sich die demokratische
Grundproblematik nichteinmal mehr wider, nach der schon die
Frage nach herrschenden Gruppen und nach Gruppen von Beherrschten
streng genommen ein Widerspruch zur grundlegenden Absicht
ist. Denn ihr zufolge habe, was als essentielles Selbstverständnis
angesichts der Tatsachen so utopisch wie eh und je klingt,
"unparteiisch und von allen Bürgern gleichermaßen legitimiert,"
die Verfassung zu herrschen, nicht ein Konglomerat privilegierter
Machtgruppen.19 In der Gewöhnung an die Existenz dessen, was
überwunden werden sollte und an ein pluralistisches Ausbalancieren
dieses Zwischenstadiums, werden strukturell tiefgreifendere
Weiterentwicklungen seit langem nichteinmal mehr zum Thema.
Sie können es offensichtlich nicht werden, "seit sich gesellschaftliche
Macht in technischen Standards, Frequenzen, Reichweiten und
Schaltplänen organisiert. Die virtuelle Medienwirklichkeit
der telematischen Netzwerke läßt sich nicht mehr im Sinne
bürgerlicher Öffentlichkeit als Forum oder politischer Schauplatz
begreifen" (Norbert Bolz).20 Was, um nochmals die eigentliche
Mafia, inklusive "niedrigerer" Aktionsebenen, ins Spiel zu
bringen, ein weiterer ihrer Analytiker auf diese gemünzt hat,
läßt sich de facto generalisieren: "Ökonomie und Politik sind
derart unauflöslich ineinander verflochten, daß man nie weiß,
wo das private Interesse aufhört und das öffentliche anfängt,
und umgekehrt." Selbst "die (immer noch stark moralisch konnotierte)
Kategorie der Korruption" greife nicht, denn wo die Trennung
von Politik und Ökonomie nicht stattgefunden hat und im Gegenteil
ihre Verbindung systematisch betrieben wird, "ist Korruption
ein so verbreitetes Phänomen, daß die Berufung auf sie keinerlei
Erklärungswert mehr beanspruchen kann." Gerade in peripheren
gesellschaftlichen Konstellationen, wie in Sizilien, würden
"die heimlichen Tendenzen der Zentren zuerst offen und rein
zutage treten." "Wie immer verrät die Abweichung von der Norm
das, was diese verborgen halten will"; "der Extremfall ist
nichts als eine Radikalisierung des Normalfalls".21
Strukturmuster und Fluchtmechanismen
Auf mikroökonomischer Ebene, und zwar gerade in Überlappungsbereichen
von öffentlichem und privatem Sektor, von staatlicher Verwaltung
und wirtschaftlich geprägter Normalität, wird vieles davon
auch in unmittelbar erfahrbaren Arbeitsbereichen bemerkbar.
Das überall grassierende, aber eher geduldig hingenommene
Unbehagen mit "den Strukturen", ist die bezeichnendste Gemeinsamkeit.
Für den Umgang mit ihm würden bereits lakonische Vorstellungen
einen halbwegs brauchbaren Entwicklungsraster hergeben: Ein
Staat, der, ohne sonstige Allüren, funktioniert, und eine
auch in Teilbereichen demokratisch orientierte Gesellschaft,
mit einer Ausstattung, die ein Aufgreifen und Weitergeben
des jeweils Besseren wenigstens nicht unwahrscheinlich macht.
Daß das Geschehen komplizierter ist, und unberechenbar, erklärt
weiterhin nicht wirklich, daß selbst in überschaubaren Feldern
kaum Gestaltungsfreiheiten genutzt und ausgeweitet werden.
An Universitäten und Hochschulen etwa ist jede Modellhaftigkeit
für "freies" Arbeiten sogar als Perspektive verlorengegangen.
Die Arbeitsstrukturen als solche sind kein Thema. Praktisch
nie stellt sich die Frage, investieren wir gezielt in Theorie,
in diese oder jene Sparten, bauen wir technische Bereiche
aus, den Computersektor, das überall geforderte Interdisziplinäre,
bestimmte Studienrichtungen. Nichteinmal wer das "wir" repräsentiert,
ist angesichts verzahnter Gremien und Verwaltungsstellen hinreichend
klargestellt. Keiner kennt das Budget, Finanzen werden anderswo
ausgehandelt. Keiner hat eine Übersicht über die internen
Geldflüsse, über Budgetentwicklungen. Keiner ist für Entscheidungen
wirklich verantwortlich, man stimmt - mangels Entscheidungsunterlagen
- irgendwie mit oder nicht. Luxus und Armut existieren, meist
unbegründbar, unmittelbar nebeneinander, als Abbild bürokratischer
Wertschätzungen. Durchsetzungsmanöver sind auf spontane oder
dauerhaftere Bandenbildungen angewiesen. Auch das, was sich
jeder allein irgendwie richten muß, braucht diesen informellen,
unobjektiven Aspekt (im strafrechtlichen Sinn genügen für
die Anerkennung als Bande ja auch zwei Personen). Vorschriften
werden primär dazu benützt, um anderen Fallen zu stellen.
Die Dinge entwickeln sich halt. Was bleibt, ist das Verbeißen
in Personalfragen und administrative Details. Auch die lapidarsten
Verfahren müssen irgendwie geheimnisvoll ablaufen, damit Intrigen
ihre entlastenden Funktionen erfüllen können. Vom System belohnt
wird, wer das System nicht irritiert und dessen Codes halbwegs
begreift. Antworten darauf, wie Universitäten anders funktionieren
könnten (auf Basis der für Österreich gerade aktuellen Reformpapiere
oder nicht) würden hier zu weit führen. Neue Strukturen, mit
denen sie besser in der Lage wären, sich ihrer internen und
externen Ökonomie - und daraus resultierenden "Inhalten" -
zu stellen, sind offenbar zur Zeit kaum denk- und durchsetzbar.
Daß wissenschaftliches Arbeiten Reflexion und Überprüfbarkeit
der Arbeitsweisen voraussetzt, dürfte als individuelle Grundregel
akzeptiert sein. Bezeichnend ist nur, wie sich Universitäten
- als Institutionen - diesem Anspruch widersetzen, ansonsten
hätten sie längst alle institutionalisierte Entwicklungsinstanzen,
die von sich aus die Evaluierung der eigenen Strukturen thematisieren.
Für zu vergebende Leitungsfunktionen halten die Bewerbungen
sich jetzt schon in Grenzen. Auch das ist ein Hinweis auf
den Phantomcharakter der "Autonomie", zu deren Präzisierung
kaum noch jemand Energie aufbringt. Daß Gestaltungsmöglichkeiten
mit Budgethoheit und eigenem Dienstrecht radikale Veränderungen
von Strukturen, Arbeitsweisen und Berufsbildern erfordern
würden, überlastet offenbar die Konsensfähigkeit. Die überall
angelaufene Propagierung tüchtiger Wissenschaftsmanager bekräftigt
nur neuerlich, daß Hilfe von anderswo her erwartet wird. Im
Rahmen jetziger Verhältnisse könnten sie auch nichts anderes
sein, als eine Ergänzung der gewohnten Bewilligungs-Bürokratie.
Inwieweit sich "ökonomieferne" Arbeitsfelder auf Dauer in
universitärer Forschung und Lehre behaupten lassen, kann sowieso
nicht latent von wohlwollenden Beamten abhängig bleiben. Ängste
konzentrieren sich eher auf hausintern drohende Gruppenkämpfe,
für die der Schiedsrichter abhanden kommen könnte. Der hohe
Auslagerungs- und Privatisierungsgrad der Forschung wird ohnehin
bloß durch allgemeines Schweigen gewürdigt. Was bleibt, entspricht
offenbar Perspektiven einer mittelständischen Trostlosigkeit,
belebt durch mafiose Zustände: "Die Massenuniversität ist
längst Fernuniversität geworden," "geistige Umschlagplätze"
vermutet niemand mehr dort, "die Arbeitsbedingungen sind skandalös",
die vormalige Lernfreiheit habe sich "in eine institutionalisierte
Desorganisation von Lehrfächern" verwandelt, größtenteils
zerstört hätte man "die Kooperation, den freien Gedankenaustausch
und den Wettbewerb der Ideen", "vor allem auf drängende Fragen
erfolgen keine Antworten" (Reinhold Knoll).22
Eine Parallele dazu: Das Gesundheitswesen, die Spitäler.
Trotz allen Wohlstandes ein Dauerthema für Unreformierbarkeit;
eine Megastruktur für verheimlichte Pannen und ständig in
Abrede gestellte ökonomische Interessen, vom Geschäft mit
der Verweildauer, mit den Privatpatienten, mit der angeblichen
Ärzteschwemme, über das Nichtfunktionieren ärztlicher und
pflegerischer Teambetreuung und Rehabilitation, bis zu den
Marketingprozeduren der Medizintechnik- und Pharmaindustrie
und den Korruptionsspielen mit Spitalsneubauten. Die vielen
insularen Positivansätze werden - wie anderswo auch - wie
störende Zellen behandelt. Wenigstens klimatisch ist, als
freundlicherer Umgangston, manches "liberaler" geworden. Gegen
eine sensible "Gesamtökonomie" der optimalen Rehabilitation
und sozialen Gleichbehandlung haben sich dicht verfilzte Barrieren
und Gruppeninteressen etabliert. Selbst der Fall "Lainz" mit
seinen monströsen Dimensionen hat nicht genügt, umfangreichere
Veränderungsintentionen in Gang zu halten. Wenn etwas anläuft,
dann eher diskret, um Gegenkräfte nicht zu alarmieren. Aus
der Einbildung, daß jeder Beteiligte und jeder (potentielle)
Patient, letztlich doch irgendwie profitiert, schon des technischen
Fortschritts wegen, ergibt sich eine perspektivelose Akzeptanz
teilweise inferiorer Zustände. "Gesundheitspolitik" kann,
angesichts dieser Strukturen, kaum stattfinden. Ersatzweise
werden - so das aktuellste, schon wieder verblaßte Beispiel
- Rauchverbote zu Republikthemen.
Zur Abrundung ein anderes Gebiet, die sogenannte "Kultur".
Ihre ökonomischen Funktionsweisen sind in markanter Weise
tabuisiert und dem keineswegs freien Spiel von Gruppeninteressen
überlassen, weil allein die staatlichen Normalaufwendungen
dafür in Österreich jährlich etwa 20 Milliarden Schilling
betragen. Die Geldströme insgesamt, einschließlich wirtschaftlicher
Nutzungen (Copyright-Industrie, Produktionssparten, Kunstvermittlung,
Medien, Export, Import) sind schlicht unbekannt; offensichtlich
kann sich kein Interesse entwickeln, entsprechende Analysen
zur Grundlage für eine strukturbezogene Kulturpolitik zu machen.
Verdienstvolle Ansätze, wie gewisse Budgetumschichtungen oder
die Kulturberichte auf Bundes- und Länderebene, betreffen
nur finanziell marginale Sektoren. Mit der Sponsoringdebatte
(geschätztes Volumen unter diesem Titel fließender Gelder:
maximal 3 % der Staatsausgaben) wird bloß von latenten Fixierungen
und Strukturschwächen des privaten Sektors abgelenkt. Die
künstlerische Produktion - also die von Komponisten, Autoren,
bildenden Künstlern, Architekten etc. - um die es im Kern
gehen müßte, trifft längst nicht auf Produktions- und Vermittlungsbedingungen,
die sonstigen professionellen Standards entsprechen würden.
Eine denkbare Normalausstattung damit, auf Grund derer aktivierende,
ökonomisch bestärkte Prozesse in Gang kommen können, von einer
hinreichend differenzierten Mediensituation bis zu halbwegs
potenten Buchverlagen, Galerien, Veranstaltern, Kulturinstituten
etc., wird erst zögernd zu einem ökonomischen und kulturpolitischen
Thema, und sei es in beobachtender, analysierender Weise.
An einem selbst erforschten Beispiel aus dem Museumsbereich
läßt sich eine Form strukturell begünstigten Gruppenverhaltens,
das völlig konform zu Medienmechanismen funktioniert, fast
bizarr deutlich machen. Die Österreichischen Bundesmuseen
geben jährlich etwa 30 Millionen Schilling für Sammlungsankäufe
aus. Ein systematisches Interesse dafür, was da eigentlich
angekauft wird, entsteht weder kulturpolitisch, noch in der
Öffentlichkeit, nichteinmal buchhalterisch. Verbucht werden
solche Eingänge auf dem selben Konto wie Schreibmaschinen
und Büromöbel. Der Stellenwert von Kunst zeigt sich auch darin,
daß im konkreten Fall 80 % der Ankäufe unterhalb des ministeriellen
Genehmigungslimits von 30.000.- (jetzt 50.000.-) Schilling
erfolgten; also sogar die Mühe des Antragschreibens gescheut
wird, um eventuell wertvollere Objekte zu erwerben. Eine andere
Form von Ökonomieflucht hat zu jahrzehntelang geduldeten Devastierungen
geführt, weil nicht thematisiert wurde, daß Museumsbestände
ein Milliardenvermögen darstellen, für dessen Pflege, Erhaltung,
wissenschaftliche Bearbeitung, Präsentation adäquate Betriebsmittel
und adäquate Arbeitssituationen erforderlich wären. Mit "unschätzbaren
Werten", noch dazu, wenn sie dem Warenkreislauf entzogen sind,
wird also oft besonders sorglos umgegangen; vielleicht, weil
so etwas jenseits begreifbarer ökonomischer Dimensionen angesiedelt
ist. Unschätzbares, Überfluß, Überflüssiges geraten in eine
sonderbare Nähe zueinander. Nur: Die dauernd geforderte Transparenz
bei den Kulturausgaben widerspricht, wie anderswo auch, kategorisch
gewohnten Funktionsweisen; nicht nur, weil, wie oft behauptet
wird, damit dem sowieso Gefährdeten, dem Schwierigen, dem
vorerst Resonanzlosen weiter geschadet würde. Künstlerische
"Produktivität" bleibt in vielen Bereichen ein völlig marginaler
Faktor. Es ergeben sich Pendelbewegungen; Durchsetzungskünste
binden Energien. Auch wenn die Umstände pro Sparte ihre Eigenheiten
haben, ist der Kunstbetrieb als solcher ein exemplarischer
Schauplatz für Bandenbildungen.
Zwischenresümee: Bei etwas grellerer Beleuchtung sieht es
so aus, als ob sich Arbeit, trotz aller Prosperität, auf einem
überwucherten Trümmerfeld ziemlich kaputter Organisationen
abspielen würde. Kaum wer - selbst fast jeder Privilegierte
- hält es in seinen Strukturen halbwegs aus. Fluchtbewegungen
erzeugen permanent neue Skurrilitäten. Mafiose Entwicklungen
sind die logische Parallelaktion dazu. Reformkonzepte kursieren
als bloße Demonstration, daß manches anders möglich sein müßte.
Gerade in staatlichen, halbstaatlichen Sektoren wird laufend
sichtbar, wie oft unabänderbare Strukturschwächen die Neugründung
irgendwelcher Einrichtungen provozieren; thematisiert wird
aber auch nicht, warum gerade für wichtige öffentliche Funktionen
Organisationssysteme aufrechterhalten werden, die, im Sinne
der generellen Privatisierungsbestrebungen, sogar für normale
wirtschaftliche Tätigkeitsfelder längst als ungeeignet erkannt
worden sind. Die zugehörigen Aufgeregtheiten und ihr Verschwinden
unterliegen Konjunkturen. In welchem Rhythmus sie auftauchen,
wäre zum Beispiel anhand der periodischen Medienpräsenz zu
beweisen. "Spiegel"- und "Krone"-Serien aus den 70er Jahren
über die Probleme des Gesundheitswesens ließen sich jetzt
1:1, mit ein paar Namens- und Zahlenänderungen, wieder abdrucken.
Die intellektuelle Produktion zu derartigen Themen unterliegt
analogen Intensitätsschwankungen. Bei der, zu jedem Regierungsprogramm
gehörenden, Verwaltungsreform ist eher die Statik auffällig.
Sie manifestiert sich auch in der offensichtlichen Unreformierbarkeit
des Schulwesens, der Sozialversicherung, des Justizbereiches,
der ÖBB, der Universitäten, der Bundestheater, der Ministerien,
des Parlaments. Jede dieser "pseudo-theologischen Welten",
wie Milan Kundera sie nennt, simuliert auf ihre Weise Rationalität.
Die anstehenden "wirklichen" Probleme bleiben entscheidungslos
präsent; selbst auf die kleineren färbt das ab.
Durch die Anforderungen an jahrelange Kontinuität, die kaum
durchzuhalten sind, zeigen sich bei Reformvorhaben ständig
Fragwürdigkeiten der gegenwärtigen Demokratieausstattung.
Die Dauerreform in Detailbereichen ist hilfloser Ausdruck
davon. Verfilzte, in ihrer Komplexheit unabsehbare Zusammenhänge
sind kaum kommunizierbar, dadurch entsteht kein Rückhalt in
den Medien und kein Rückhalt für die Politik. Letztlich werden
Strukturveränderungen aufgezwungen, mit oder ohne EU. Sie
ergeben sich, im Doppelsinn des Wortes. Für den privaten Sektor
sagt ohnehin der Markt, was unumgänglich wird. Deswegen entledigt
sich auch der öffentliche Sektor angestammter Kompetenzen.
Es sind also diverse Fluchtvorgänge zu beobachten, die viel
mit einem Ignorieren gegebener Strukturen zu tun haben. Der
informelle Sektor wächst, gleicht aus, als "Schwarzmarkt"
für Transfers und Transaktionen. Die Bandengesellschaft, als
ein Agieren außerhalb "normaler" Strukturen, ist eine der
mehr oder minder ausgeprägten Perspektiven, die sich daraus
ergeben - inklusive damit verbundener Freiheitsgrade. Motivationen
und Antriebskräfte bündeln sich um solche Vorstellungen. Die
Gegenmetapher dafür: Beim Dienst nach Vorschrift steht alles
still.
Niklas Luhmann betont im Rahmen solcher Zusammenhänge allerdings
unbarmherzig, daß "lange Enttäuschungslisten" vielfach grundlos
geführt werden, weil sich wegen der unzulänglichen Beschreibungs-
und Analysemethoden, die den Forderungen der modernen Gesellschaft
(nach mehr Demokratie, Emanzipation, Technik etc.), "nach
mehr von all dem, was als Zukunft versprochen war," zugrunde
liegen, diese teilweise eben als nicht einlösbar herausgestellt
hätten. Für eine entschieden informationsvermittelte Steuerung
sind überall erst Ansätze von Theorieangeboten und Instrumentarien
greifbar. "Jede Kritik läuft leer", hält er dem eingeübten
Klagepathos entgegen, "wenn sie ohne weitere Prüfung mit der
Unterstellung arbeitet, daß man könnte, wenn man nur wollte".
Ein wichtiges Aktionsfeld ergebe sich aus der Notwendigkeit,
wegen der unübersehbaren Abhängigkeiten die "Kommunikation
von Nichtwissen" als eine entscheidende Ebene zu begreifen.
Als "Politik der Verständigung" führt sie zu ausgehandelten
Provisorien. "Sie besagen weder Konsens, noch bilden sie vernünftige
oder auch nur richtige Problemlösungen. Sie fixieren nur dem
Streit entzogene Bezugspunkte für weitere Kontroversen."23
Anders und dadurch modellhaft funktioniert hat der österreichische
Weinskandal, die friedliche "Revolution" einer ganzen Branche.
Die Bandenherrschaft eines ancien régime ist in ziviler Weise
durch andere Banden, mit präziseren Vorstellungen von Qualität
und "political correctness" abgelöst worden. Nichtwissen ist
ein Angelpunkt dabei gewesen. Nach solchen Mustern könnten
auf vielen Gebieten die Dinge in ungewöhnlicher Weise in Gang
kommen (als abrupter Übergang zu anderen Formen der Stabilität,
wie Luhmann Katastrophen systemtheoretisch nennt), sobald
in Subsystemen durch Überschreitung kritischer Kipp-Punkte
etwas ausgelöst wird. Sichtbar werden auch dabei Anzeichen
für eine "Erschöpfung des Individuierungsprinzips" durch "die
Vervielfachung der Mikrogruppen" und eine Verlagerung "in
Richtung auf den Stamm". "Das einzig ernstliche Problem,"
so steht es in einem kürzlich erschienen Buch über das Schweigen,
"besteht in der Schwelle, von der ausgehend die Enthaltung,
die Tatsache des Sich-Absonderns, die Implosion einer bestehenden
Gesellschaft hervorruft."24
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Something is always happening.
John Cage1
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Jede Vorstellung von einem normalen
Funktionieren ist verlorengegangen.
Jean Baudrillard2
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zum Thema:
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Banden,
zivile, weniger zivile |
Ein Subtext
zur organisierten Welt |
springer - Hefte für Gegenwartskunst, Wien,
Nr 4/1995 |
Pressereaktionen:
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Geld
für Geistesmenschen |
Buchbesprechung
von Daniela Strigl |
Der Standard, Wien, 2.12.1994 |
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