Information Aktuelle Projekte Biografie Publikationen Zentrum Transfer Transferprojekte-RD.org





www.ChristianReder.net: Publikationen: Aktionsmuster: societé anonyme
English language version
   

Aktionsmuster: societé anonyme
Nachrichten ohne Absender
Vorfragen zur Arbeit von * * * * * * *

In: * * * * * * * (Ed.): you do not need to pay, but you have to consume it. Conversations and Documents on a Four Year World Project.
Katalogbuch (englisch/deutsch)
Rio de Janeiro/Wien 1996

Text zu Fragen von Anonymität und Subversion

Anonym publizierter Katalog über anonyme Kunststrategien und die anonyme Arbeit von * * * * * * *.
Texte & Interviews von: F.M., B.R., P.R., R.C., V.V., S.A., B.L., K.M., T., A.A., D.J., D.F., W.H., J.B.

 

 

Ob ein wahrer Dichter oder eine Dichterin nicht, wie ständig vorausgesetzt, einen zustehenden oder schließlich zugewiesenen Platz einnimmt, sondern, im Gegenteil, diesen als Konsequenz der Arbeit aufgibt und so zur Öffnung des Raumes selber wird, fragt sich Emmanuel Lévinas in seinen literarisch-philosophischen Analysen über Eigennamen (1988). Anderswo heißt es in diesen Texten: Jedes Werk ist auf um so vollkommenere Art Werk, je weniger sein Autor zählt; so, als führte er einen anonymen Befehl aus. Künstlerische Tätigkeit verschafft dem Künstler das Bewußtsein, nicht der Urheber seiner Werke zu sein.

Solche subtilen Auffassungen über ein Eliminieren des Subjektiven, über einen entkoppelten Zusammenhang von Werk und Autor, wirken inzwischen eher antiquiert, ohne daß das deswegen abschätzig ausgelegt werden müßte. Anonymes realisiert sich, wie etwa Boris Groys betont hat, ohnehin exzessiv, z. B. im Geräuschpegel überall präsenter Kaufhausmusik. Für die Produktion anderer "Geräusche" ergibt sich daraus ein komplexer gewordenes Feld für Differenzen, weniger heroisch vielleicht, aber doch immer wieder romantisch an konzentrierte Isolation erinnernd. Produkte und Werke lösen sich zwar von Personen, dafür entkommt die Person nicht ihrer Stilisierung. Wertschätzung und Wirkung unterscheiden sich innerhalb, vor allem aber zwischen den Sparten so deutlich, man braucht bloß an die Autoren für Theater oder Film zu denken oder an Ingenieur- und Architektenleistungen, daß das Rituelle daran offenkundig wird. Anonymes Leben und Arbeiten ist das Übliche; sich einen Namen zu machen das Besondere. Wer das nicht schafft, bleibt offenbar namenlos, jedenfalls im Sinn eines Mitspielens, eines Mitspielens, das in gewissem Sinn auf Merkfähigkeit und Marktwerte angewiesen ist. Jeder Person ist zwar vorgeschrieben, einen Namen zu haben, aber erst wenn der über den engeren Kreis privater und beruflicher Beziehungen hinaus bekannt ist, wird von einem gemachten Namen gesprochen, ohne daß ein solches Hervortreten als Peinlichkeit gegenüber allen Unbekannten, von vornherein Vergessenen empfunden würde. Zurückhaltung oder Abwesenheit könnten erst etwas ergeben, wenn bereits ein Bedarf nach Präsenz besteht. Der Markenname, als Klischee oder Qualitätsstandard, ist der gültige Anhaltspunkt; jeder, der nichts besseres weiß, orientiert sich an ihm, ob bei Autos, beim Whisky oder in der Kunst. Er vermittelt Sicherheit, die irgendwann in Sackgassen führt.

Lange bevor sowas offensichtlich geworden ist, hat Marcel Duchamp im Zuge seiner Überlegungen zum vom Zufall geleiteten, findenden Künstler, zum Künstler, der sein Werk verstecken oder es nie zu Ende führen will, einmal behauptet: The great artist of tomorrow will go underground. Abgesehen von Zwischenspielen, wie den Situationisten, scheint das inzwischen eindeutig widerlegt zu sein; aber tomorrow bleibt tomorrow und auch ein underground ergibt sich immer wieder, selbst wenn das gar nicht beabsichtigt ist. Gerade weil die wahrnehmbaren Abläufe so vehement danach verlangen und alles erst durch mediale Vermittlung kommunizierbar, also existent wird, sind Identifizierung und Personifizierung zentrale Themen geblieben. Andy Wahrhols Spruch, daß ein paar Minuten Berühmtheit genügen, kommt längst jedem Attentäter zugute. Drahtzieher bleiben ohnehin im Hintergrund.

Ein anderes Feld ergibt sich für jene, die sich eine Sehnsucht nach Anonymität leisten. In Canettis Aufzeichnungen etwa findet sich der Satz: Der beste Mensch dürfte keinen Namen haben. Auch in H. C. Artmanns Proklamation des poetischen Actes ist davon die Rede, daß dieser, als alogische Geste, vielleicht nur durch Zufall der Öffentlichkeit überliefert werden wird. Das jedoch ist in hundert Fällen ein einziges Mal. Er darf aus Rücksicht auf seine Schönheit und Lauterkeit erst gar nicht in der Absicht geschehen, publik zu werden, denn er ist ein Act des Herzens und der heidnischen Bescheidenheit. Thomas Bernhards fiktiver Autor wiederum, der sein Manuskript solange ändert, bis schließlich nichts als der Titel Der Untergeher übriggeblieben ist, hat dauernd betont, eigentlich keine Spuren hinterlassen zu wollen.

Sowas bezieht sich nicht nur auf innere Auseinandersetzungen sondern auch auf allgemeine Zustände, weil vieles als Kampf erfahren wird, mit Helden und zahllosen unbekannten Soldaten und Partisanen; zumindest aber als Rivalität um gemachte Namen, um Bedeutung. Bedeutung erhält aber nicht nur das, was aus der Anonymität hervortritt, aus ihr hervorgeholt wird. Namenloses, Ungenanntes, Unbeachtetes gilt zwar defacto als fast wertlos, aber es gehört dazu, ist nicht wegzudenken, wird ständig irgendwie wahrgenommen, bloß nicht soweit isoliert, daß es in der Kommunikation eigene Rollen verkörpern könnte. So gesehen ist Exkommunikation das Übliche, trotz aller technischen Möglichkeiten zu kommunizieren. Ein Ausgeschlossensein ist viel häufiger als jedes Teilnehmen. Selbst im Internet dürfte die kurze - alles mit allem verbindende - kostenlose Freiheit bald wieder vorbei sein. Im Weltmaßstab wird das noch deutlicher, als im Blick auf überschaubare, durchorganisierte Gesellschaften. In den vielen, einander durchdringenden Societés anonymes kann selbst die Szenerie ihrer Repräsentanten, in der Wirtschaft, der Politik, der Kultur, der Kunst, bloß vortäuschen, daß sie aus selbständigen Individuen besteht. Wieweit sie von Systemen abhängen bleibt verborgen, sonst würde alles unverständlich. Was geschieht braucht aber einen Kontext um wahrgenommen zu werden. Jedes Überschreiten solcher Grenzen bekommt es mit journalistischen Simplifizierungsspiralen zu tun. Schon im Alltäglichen zeigt sich zur genüge, wie schwer sich der Antagonismus "Gewalt oder Verständigung" (Habermas) zugunsten weiterführender Kompromisse auflösen läßt.

Anonymität und Exkommunikation sind also etwas Normales, aus dem es für einige wenige unter Umständen eine Befreiung gibt, um den Preis des Drucks, der dann auf ihnen lastet. Wer sich jedoch freiwillig versteckt, also aus dem Hinterhalt heraus agiert, tut dies, so wird angenommen, aus Furcht vor Verfolgung oder Bloßstellung. Die Muster dafür kommen aus der Kriminalität oder von irregulären Kämpfern, die sich künstliche Identitäten aufbauen (Lenin, Stalin, Tito); im Zivilleben geht es um weniger exponierte ästhetische Überlegungen, vielleicht bloß um das Interesse daran, ein anderer zu sein (Madonna). Ohne oder unter falschem Namen unterwegs, ergibt sich vielleicht die Illusion von Doppelleben, also einer Potenzierung von Möglichkeiten. Ein Künstlername soll einfach besser klingen und von der Herkunft ablösen. Völlig anonymes Agieren kann einem zum verborgenen Beobachter dessen machen, was man anrichtet, so wie es als Terrorist oder in einem überall präsenten Tourismus funktioniert.

Andererseits: Von den alten Schriften, den Märchen, den Volksliedern, den klassischen Artefakten sind die Verfasser meistens unbekannt. Sie zu benennen ist unwichtig gewesen. Die Götter haben sowieso alles gewußt. Wer ist an ihre Stelle getreten: das Über-Ich und, in allgemeinerem Sinn, die Medien. Wen sie nicht zur Kenntnis nehmen, der kommt in dieser Wirklichkeit nicht vor. Wer sich nicht bemerkbar macht, fehlt einfach, ohne daß dies bemerkt werden könnte. Schweigen, als Kommunikationsform, bleibt wirkungslos; es erinnert mehr an Buße als an die permanente Schwierigkeit, mitzuteilen, was sich nicht so leicht mitteilen läßt. Solche Zusammenhänge zwischen Medien und Gewissen sind Spätfolgen von Allmachtsvorstellungen, in denen davon ausgegangen wird, daß irgendwer alles beobachtet und schließlich auch bewertet. Ein in Medien millionenhaft, aber freiwillig, verletztes Beichtgeheimnis gehört zu solchen Veränderungen; man will etwas loswerden. Die Rekonstruktion der Familie, der Aristokratie, als Prominenz, als virtueller Bekanntenkreis von Millionen, gehört ebenfalls dazu, als rekonstruierte Teilnahme an Intimem. Verteidigt werden bloß noch Staats-, Geschäfts- und Bankgeheimnisse.

"Architecture without architects", die wichtige Ausstellung Bernard Rudofskys im Museum of Modern Art in New York (1964), hat, als ganz anderer Zugang, mitgewirkt, die Dimensionen anonymer Qualität wieder ins Blickfeld zu rücken. Weil aber das, was anonym und arbeitsteilig passiert, niemandem zuordenbar ist, im Richtigen nicht und im Falschen nicht, und auch Theorie auf Beispiele angewiesen ist, bleiben gerade die Felder einer Bedeutungsproduktion ein Refugium für Persönliches. Wenn es dabei gelingt, daß Kommunikationsprozesse und die Herstellung von Zeichen wenigstens eine Zeitlang unter Ablösung von einer Autorenschaft Wirkung entfalten und dennoch ernstzunehmende, konzentrierte, distanzschaffende, ironische Dinge entstehen, dann kann immer wieder jene Öffnung des Raumes stattfinden, von der eingangs in bezug auf Dichtung die Rede gewesen ist.

Namen schließen bloß das ein, was mit ihnen in Relation gesetzt wird; was ansonsten passiert hat damit nichts zu tun. Sofern dadurch Überraschungen entstehen, deren Urheber und Interessenslagen nicht gewohnten Mustern entsprechen, wie im Fall von ooooo, der zwischen Rio de Janeiro, Paris, Wien, Zürich, Griechenland, der Türkei, Italien, Berlin, New York, Los Angeles, Hongkong, China oder Thailand in arbeitsaufwendiger und ungewöhnlicher Weise seine mysteriösen Botschaften unter verschiedenste Gruppen von Leuten bringt, die dabei a priori kaum an Kunst denken, etwa Taxifahrer, dann können sich daraus kettenreaktionsartige Situationen ergeben, weil Aufmerksamkeit und Irritation, Denken und Sprechen mit sonderbarem Material versorgt werden. Woher es kommt, weiß normaler Weise niemand. Zusammenhänge bleiben ostentativ unklar. Fragen nach ihnen stellen sich trotzdem. Die Einbeziehung von Fälschungen, insbesonders von Briefmarken, verbindet Praktikabilität mit Subversion und optisch-taktilen Nuancen. Aufzuzeigen, wie teuer es wäre, viele Menschen auf korrekte - aber seine - Weise anzusprechen, ist für H. B. Teil seiner Aktivitäten; allein deswegen ist er ständig Nachforschungen und Verfolgungen ausgesetzt. Seine in aller Welt angesammelten Adressen schaffen uneinsichtige, weit gestreute Verbindungen. Wer in solche Stichproben fällt, muß nicht seine Reaktionen vermarkten lassen, sondern ist mit ihnen alleingelassen. Alles weitere wird sich ergeben. Minimale Anstöße und leise Töne setzen etwas in Gang, was sonst einen viel größeren Einsatz erfordern würde. Weil Erwartungen unterbrochen werden, verschieben sich die gewohnten Reaktionen. Da alles darauf angelegt ist, unkontrollierbar zu bleiben, verschwinden Herkunft und Wirkung im Anonymen. Was möglich sein könnte erhält trotzdem eine momentane, fragenstellende, angreifbare Präsenz, ohne daß mehr als Spuren gelegt werden müßten.

 


Welcome Eurosex / from Venezia / date June 1995 / kind: transformed copied Italian stamp with envelope posted with the stamp / size 3 cm x 4 cm / situation: Venice Biennale
oben
 
© Christian Reder 1996/2001