Ob ein wahrer Dichter oder eine Dichterin nicht, wie ständig
vorausgesetzt, einen zustehenden oder schließlich zugewiesenen
Platz einnimmt, sondern, im Gegenteil, diesen als Konsequenz
der Arbeit aufgibt und so zur Öffnung des Raumes selber wird,
fragt sich Emmanuel Lévinas in seinen literarisch-philosophischen
Analysen über Eigennamen (1988). Anderswo heißt es in diesen
Texten: Jedes Werk ist auf um so vollkommenere Art Werk, je
weniger sein Autor zählt; so, als führte er einen anonymen
Befehl aus. Künstlerische Tätigkeit verschafft dem Künstler
das Bewußtsein, nicht der Urheber seiner Werke zu sein.
Solche subtilen Auffassungen über ein Eliminieren des Subjektiven,
über einen entkoppelten Zusammenhang von Werk und Autor, wirken
inzwischen eher antiquiert, ohne daß das deswegen abschätzig
ausgelegt werden müßte. Anonymes realisiert sich, wie etwa
Boris Groys betont hat, ohnehin exzessiv, z. B. im Geräuschpegel
überall präsenter Kaufhausmusik. Für die Produktion anderer
"Geräusche" ergibt sich daraus ein komplexer gewordenes Feld
für Differenzen, weniger heroisch vielleicht, aber doch immer
wieder romantisch an konzentrierte Isolation erinnernd. Produkte
und Werke lösen sich zwar von Personen, dafür entkommt die
Person nicht ihrer Stilisierung. Wertschätzung und Wirkung
unterscheiden sich innerhalb, vor allem aber zwischen den
Sparten so deutlich, man braucht bloß an die Autoren für Theater
oder Film zu denken oder an Ingenieur- und Architektenleistungen,
daß das Rituelle daran offenkundig wird. Anonymes Leben und
Arbeiten ist das Übliche; sich einen Namen zu machen das Besondere.
Wer das nicht schafft, bleibt offenbar namenlos, jedenfalls
im Sinn eines Mitspielens, eines Mitspielens, das in gewissem
Sinn auf Merkfähigkeit und Marktwerte angewiesen ist. Jeder
Person ist zwar vorgeschrieben, einen Namen zu haben, aber
erst wenn der über den engeren Kreis privater und beruflicher
Beziehungen hinaus bekannt ist, wird von einem gemachten Namen
gesprochen, ohne daß ein solches Hervortreten als Peinlichkeit
gegenüber allen Unbekannten, von vornherein Vergessenen empfunden
würde. Zurückhaltung oder Abwesenheit könnten erst etwas ergeben,
wenn bereits ein Bedarf nach Präsenz besteht. Der Markenname,
als Klischee oder Qualitätsstandard, ist der gültige Anhaltspunkt;
jeder, der nichts besseres weiß, orientiert sich an ihm, ob
bei Autos, beim Whisky oder in der Kunst. Er vermittelt Sicherheit,
die irgendwann in Sackgassen führt.
Lange bevor sowas offensichtlich geworden ist, hat Marcel
Duchamp im Zuge seiner Überlegungen zum vom Zufall geleiteten,
findenden Künstler, zum Künstler, der sein Werk verstecken
oder es nie zu Ende führen will, einmal behauptet: The great
artist of tomorrow will go underground. Abgesehen von Zwischenspielen,
wie den Situationisten, scheint das inzwischen eindeutig widerlegt
zu sein; aber tomorrow bleibt tomorrow und auch ein underground
ergibt sich immer wieder, selbst wenn das gar nicht beabsichtigt
ist. Gerade weil die wahrnehmbaren Abläufe so vehement danach
verlangen und alles erst durch mediale Vermittlung kommunizierbar,
also existent wird, sind Identifizierung und Personifizierung
zentrale Themen geblieben. Andy Wahrhols Spruch, daß ein paar
Minuten Berühmtheit genügen, kommt längst jedem Attentäter
zugute. Drahtzieher bleiben ohnehin im Hintergrund.
Ein anderes Feld ergibt sich für jene, die sich eine Sehnsucht
nach Anonymität leisten. In Canettis Aufzeichnungen etwa findet
sich der Satz: Der beste Mensch dürfte keinen Namen haben.
Auch in H. C. Artmanns Proklamation des poetischen Actes ist
davon die Rede, daß dieser, als alogische Geste, vielleicht
nur durch Zufall der Öffentlichkeit überliefert werden wird.
Das jedoch ist in hundert Fällen ein einziges Mal. Er darf
aus Rücksicht auf seine Schönheit und Lauterkeit erst gar
nicht in der Absicht geschehen, publik zu werden, denn er
ist ein Act des Herzens und der heidnischen Bescheidenheit.
Thomas Bernhards fiktiver Autor wiederum, der sein Manuskript
solange ändert, bis schließlich nichts als der Titel Der Untergeher
übriggeblieben ist, hat dauernd betont, eigentlich keine Spuren
hinterlassen zu wollen.
Sowas bezieht sich nicht nur auf innere Auseinandersetzungen
sondern auch auf allgemeine Zustände, weil vieles als Kampf
erfahren wird, mit Helden und zahllosen unbekannten Soldaten
und Partisanen; zumindest aber als Rivalität um gemachte Namen,
um Bedeutung. Bedeutung erhält aber nicht nur das, was aus
der Anonymität hervortritt, aus ihr hervorgeholt wird. Namenloses,
Ungenanntes, Unbeachtetes gilt zwar defacto als fast wertlos,
aber es gehört dazu, ist nicht wegzudenken, wird ständig irgendwie
wahrgenommen, bloß nicht soweit isoliert, daß es in der Kommunikation
eigene Rollen verkörpern könnte. So gesehen ist Exkommunikation
das Übliche, trotz aller technischen Möglichkeiten zu kommunizieren.
Ein Ausgeschlossensein ist viel häufiger als jedes Teilnehmen.
Selbst im Internet dürfte die kurze - alles mit allem verbindende
- kostenlose Freiheit bald wieder vorbei sein. Im Weltmaßstab
wird das noch deutlicher, als im Blick auf überschaubare,
durchorganisierte Gesellschaften. In den vielen, einander
durchdringenden Societés anonymes kann selbst die Szenerie
ihrer Repräsentanten, in der Wirtschaft, der Politik, der
Kultur, der Kunst, bloß vortäuschen, daß sie aus selbständigen
Individuen besteht. Wieweit sie von Systemen abhängen bleibt
verborgen, sonst würde alles unverständlich. Was geschieht
braucht aber einen Kontext um wahrgenommen zu werden. Jedes
Überschreiten solcher Grenzen bekommt es mit journalistischen
Simplifizierungsspiralen zu tun. Schon im Alltäglichen zeigt
sich zur genüge, wie schwer sich der Antagonismus "Gewalt
oder Verständigung" (Habermas) zugunsten weiterführender Kompromisse
auflösen läßt.
Anonymität und Exkommunikation sind also etwas Normales,
aus dem es für einige wenige unter Umständen eine Befreiung
gibt, um den Preis des Drucks, der dann auf ihnen lastet.
Wer sich jedoch freiwillig versteckt, also aus dem Hinterhalt
heraus agiert, tut dies, so wird angenommen, aus Furcht vor
Verfolgung oder Bloßstellung. Die Muster dafür kommen aus
der Kriminalität oder von irregulären Kämpfern, die sich künstliche
Identitäten aufbauen (Lenin, Stalin, Tito); im Zivilleben
geht es um weniger exponierte ästhetische Überlegungen, vielleicht
bloß um das Interesse daran, ein anderer zu sein (Madonna).
Ohne oder unter falschem Namen unterwegs, ergibt sich vielleicht
die Illusion von Doppelleben, also einer Potenzierung von
Möglichkeiten. Ein Künstlername soll einfach besser klingen
und von der Herkunft ablösen. Völlig anonymes Agieren kann
einem zum verborgenen Beobachter dessen machen, was man anrichtet,
so wie es als Terrorist oder in einem überall präsenten Tourismus
funktioniert.
Andererseits: Von den alten Schriften, den Märchen, den Volksliedern,
den klassischen Artefakten sind die Verfasser meistens unbekannt.
Sie zu benennen ist unwichtig gewesen. Die Götter haben sowieso
alles gewußt. Wer ist an ihre Stelle getreten: das Über-Ich
und, in allgemeinerem Sinn, die Medien. Wen sie nicht zur
Kenntnis nehmen, der kommt in dieser Wirklichkeit nicht vor.
Wer sich nicht bemerkbar macht, fehlt einfach, ohne daß dies
bemerkt werden könnte. Schweigen, als Kommunikationsform,
bleibt wirkungslos; es erinnert mehr an Buße als an die permanente
Schwierigkeit, mitzuteilen, was sich nicht so leicht mitteilen
läßt. Solche Zusammenhänge zwischen Medien und Gewissen sind
Spätfolgen von Allmachtsvorstellungen, in denen davon ausgegangen
wird, daß irgendwer alles beobachtet und schließlich auch
bewertet. Ein in Medien millionenhaft, aber freiwillig, verletztes
Beichtgeheimnis gehört zu solchen Veränderungen; man will
etwas loswerden. Die Rekonstruktion der Familie, der Aristokratie,
als Prominenz, als virtueller Bekanntenkreis von Millionen,
gehört ebenfalls dazu, als rekonstruierte Teilnahme an Intimem.
Verteidigt werden bloß noch Staats-, Geschäfts- und Bankgeheimnisse.
"Architecture without architects", die wichtige Ausstellung
Bernard Rudofskys im Museum of Modern Art in New York (1964),
hat, als ganz anderer Zugang, mitgewirkt, die Dimensionen
anonymer Qualität wieder ins Blickfeld zu rücken. Weil aber
das, was anonym und arbeitsteilig passiert, niemandem zuordenbar
ist, im Richtigen nicht und im Falschen nicht, und auch Theorie
auf Beispiele angewiesen ist, bleiben gerade die Felder einer
Bedeutungsproduktion ein Refugium für Persönliches. Wenn es
dabei gelingt, daß Kommunikationsprozesse und die Herstellung
von Zeichen wenigstens eine Zeitlang unter Ablösung von einer
Autorenschaft Wirkung entfalten und dennoch ernstzunehmende,
konzentrierte, distanzschaffende, ironische Dinge entstehen,
dann kann immer wieder jene Öffnung des Raumes stattfinden,
von der eingangs in bezug auf Dichtung die Rede gewesen ist.
Namen schließen bloß das ein, was mit ihnen in Relation gesetzt
wird; was ansonsten passiert hat damit nichts zu tun. Sofern
dadurch Überraschungen entstehen, deren Urheber und Interessenslagen
nicht gewohnten Mustern entsprechen, wie im Fall von ooooo,
der zwischen Rio de Janeiro, Paris, Wien, Zürich, Griechenland,
der Türkei, Italien, Berlin, New York, Los Angeles, Hongkong,
China oder Thailand in arbeitsaufwendiger und ungewöhnlicher
Weise seine mysteriösen Botschaften unter verschiedenste Gruppen
von Leuten bringt, die dabei a priori kaum an Kunst denken,
etwa Taxifahrer, dann können sich daraus kettenreaktionsartige
Situationen ergeben, weil Aufmerksamkeit und Irritation, Denken
und Sprechen mit sonderbarem Material versorgt werden. Woher
es kommt, weiß normaler Weise niemand. Zusammenhänge bleiben
ostentativ unklar. Fragen nach ihnen stellen sich trotzdem.
Die Einbeziehung von Fälschungen, insbesonders von Briefmarken,
verbindet Praktikabilität mit Subversion und optisch-taktilen
Nuancen. Aufzuzeigen, wie teuer es wäre, viele Menschen auf
korrekte - aber seine - Weise anzusprechen, ist für H. B.
Teil seiner Aktivitäten; allein deswegen ist er ständig Nachforschungen
und Verfolgungen ausgesetzt. Seine in aller Welt angesammelten
Adressen schaffen uneinsichtige, weit gestreute Verbindungen.
Wer in solche Stichproben fällt, muß nicht seine Reaktionen
vermarkten lassen, sondern ist mit ihnen alleingelassen. Alles
weitere wird sich ergeben. Minimale Anstöße und leise Töne
setzen etwas in Gang, was sonst einen viel größeren Einsatz
erfordern würde. Weil Erwartungen unterbrochen werden, verschieben
sich die gewohnten Reaktionen. Da alles darauf angelegt ist,
unkontrollierbar zu bleiben, verschwinden Herkunft und Wirkung
im Anonymen. Was möglich sein könnte erhält trotzdem eine
momentane, fragenstellende, angreifbare Präsenz, ohne daß
mehr als Spuren gelegt werden müßten.
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Welcome Eurosex / from Venezia /
date June 1995 / kind: transformed copied Italian stamp
with envelope posted with the stamp / size 3 cm x 4
cm / situation: Venice Biennale
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