DER TURM, also ein Gebäude, dessen Höhe die Abmessungen seiner
Grundfläche wesentlich übertrifft, ist immer seltener gewesen
als andere Bauformen. Das dürfte, neben Konstruktionsproblemen
und Kostengründen, viel mit seiner Symbolkraft zu tun haben.
Auch heute darf sich keineswegs jeder einen Turm bauen, wahrscheinlich
weil das stets diversen Mächten vorbehalten war.
Bezugsfelder dafür: Höher hinaus wollen, höher stehen als
andere, Stärke zeigen, Überlegenheit, Verteidigungskraft;
sehen und nicht gesehen werden. Was sich nach außen so darstellt,
ist im Inneren oft das Gegenteil, ein Ort der Angst, des Rückzugs,
der Gefangenschaft, der Meditation. Daß der ursprünglich militärische
Zweck - Übersicht, Schutz, Positionsvorteil, Signale, Vorräte
- früh sakralisiert worden ist (Kirchturm, Minarett), paßt
zu diesem gespaltenen Dasein. Aus Abwehr äußerer und innerer
Feinde sollte geistige Anziehung werden, hin zu einem Mittelpunkt.
Moderner werdende Kriegstechnik hat den Turm überflüssig
gemacht und seine romantische Transformation zu Ruinen, Museen,
Aussichtswarten ermöglicht. Elektronik braucht, außer Sendetürmen
und Empfangsschirmen, keine auffälligen Militärbauten mehr.
Auch Fabriken ist der stolze Schornstein abhanden gekommen.
Stattdessen hat sich, begünstigt von neuen Techniken und hohen
Grundstückspreisen, der Wolkenkratzer weltweit durchgesetzt,
als zivile Demonstration ökonomischer Macht. Die alle Kirchen
überragenden Raiffeisen-Silos erinnern sogar in österreichischen
Dörfern daran, wie sich die Verhältnisse geändert haben.
Unberührt von solchen Entwicklungen sind, auch formal, die
Wachtürme geblieben, wie sie in Gefängnissen, Lagern oder
an neuralgischen Grenzen weiterhin üblich sind: auf Stelzen
stehende geschützte Plattformen, von denen aus verdächtige
Bewegungen im umliegenden Gebiet kontrollierbar werden. Daß
sie für den Eisernen Vorhang typisch waren, bis sich 1989,
beginnend in Ungarn, ihre Funktion erübrigt hat, wird durch
die inzwischen auf ehemals westlicher Seite errichteten Gegenstücke
relativiert. Diese machen wenigstens einen provisorischen
Eindruck, gleichen aber gerade dadurch der Jagd dienenden
Hochständen. Die stabileren Türme jenseits der Grenze sollten
mithelfen, Menschen zu ihrem Glück zu zwingen, die neuen auf
"unserer" Seite sollen sie von ihm fernhalten. Der Fortschritt
liegt in der Legalität und darin, daß nicht mehr geschossen
wird.
Die beiden ungarischen Wachtürme, die Peter Pilz zu einer
neuen Konstruktion zusammengebaut hat, sind zu einem zweckfreien
Observatorium geworden, das die Symbolhaftigkeit seiner Herkunft
ad absurdum führt. Daß gleiches mit einem Mauthausen-Turm
nicht möglich wäre, ihm auch nie in den Sinn hätte kommen
können, macht durch Offensichtlichkeit klar, daß Totalitärem
weiterhin differenziert zu begegnen ist. Es wird die alltägliche
Erfahrung an dieser Grenze thematisiert, die von außen bloß
als einem selber nicht gefährlich werdende Abweisung begriffen
werden konnte. Diese schweigende Aggression wird aufgelöst,
ohne daß dafür eine komplementäre Nützlichkeit notwendig wäre.
Der neue, nur von seiner unmittelbaren Umgebung aus bemerkbare
Turm steht in einem Teich, die oberste Plattform hat die Höhe
der umliegenden Hügel. Man sieht nicht weiter als es auch
von dort möglich ist. Die transparente Durchsichtigkeit von
Gestänge, Stufen und Standflächen läßt keinen Gedanken an
Bedrohung aufkommen. Höchstens die Höhe und die Schwingungen
des Ganzen erzeugen ein leichtes Unbehagen. Von der Künstlichkeit
der Situation wird es wieder egalisiert, ins Erfreuliche gewendet.
Im Schachspiel beherrscht der Turm übrigens die gerade Linie,
der Läufer ist für schräge Richtungen zuständig. Die Dame
vereinigt die Fähigkeiten von beiden.
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