Daß irgendwer wirklich ein Engel, also Heiligem ganz nah
sein will, ist mit bisher nicht untergekommen; offenbar geht
es eher darum, ob andere einen so sehen. Engelsgleiche Jünglinge
sind der speziellere Fall, obwohl himmlische Engel primär
männlich sind, allerdings von ewiger Jugend gezeichnet. Geläufiger
ist die Übertragung auf Kinder, auf Mädchen, auf Frauen. Die
Anrede "Mein Engel" betont Besitzverhältnisse; das englisch-amerikanische
"Angel" ist demgegenüber neutraler, dafür inflationär in der
Verwendung, bis hin zu den "Hell's Angels". Letztere erinnern
daran, daß Buben die längste Zeit Indianer und Piloten werden
wollten. Der nomadische Grundzug solcher Wünsche hat weitere
Dimensionen als bloße Fluchtphantasien. Auffallend ist, daß
richtige Engel ebenfalls etwas Nomadisches repräsentieren;
mit grenzenloser Bewegungsfreiheit, im Himmel und über Land
und Meer schwebend.
Den "Wunsch, Indianer zu werden", hat schon Kafka wichtig
genommen und die Sozialwissenschaften haben ihre entscheidenden
Grundlagen geschaffen, als die Situation österreichischer
Arbeitsloser, einschließlich der Träume von Kindern, erhoben
worden ist. "Ich will ein Flieger, Unterseebootskapitän, Indianerhäuptling
und ein Mechaniker werden", schrieb ein Zwölfjähriger für
diese berühmt gewordene Studie (Jahoda, Lazarsfeld, Zeisel:
Die Arbeitslosen von Marienthal, 1933). "Aber ich fürchte",
so setzt er fort, "es wird schwer sein, einen guten Posten
zu finden." Den zuerst in den USA populär werdenden Superman
(Jerry Siegel, Joseph Shuter, 1934) hat er noch nicht kennen
können. Daß sich derartiges mit eigenen Kindheitserinnerungen
deckt, dürfte eine geläufige Erfahrung sein, selbst wenn sie
später und unter besseren Bedingungen stattgefunden hat. Solche
Übereinstimmungen und Abweichungen ineinander verfließender,
idealisierter, in vielen Elementen konstant bleibender Vorstellungen,
die irgendwann mit unkontrollierbaren Reaktionen in Zusammenhang
gebracht werden können, schaffen Probleme und Arbeit für Spezialisten.
Die hätten, wenn damit befaßt, viel zu tun, weil Männerphantasien
mit ihren festgefügten Entstehungsmechanismen eine Ablösung
von diesem und jenem fast unmöglich machen. Engel sind die
diffusen Gegenbilder.
Als engelhaft angesehene Wesen können jedenfalls nichts dafür,
daß es Bewunderern so leicht fällt, sich immer wieder als
ihr Opfer darzustellen, bloß weil bereits Kindern so oft Vorstellungen
von Engeln mitgegeben worden sind, die, sobald sie auf Personen
übertragen werden, natürlich auf weibliche, offenbar ein Durchdringen
von Idealisierung und Enttäuschung, von Anbetung und Bestrafung
provozieren. Gerade weil schon mit naivem Zugang Engel immer
als mysteriöse Zwischenwesen erscheinen, bei denen nichteinmal
das Geschlecht klar ist, paßt es nicht ins Bild, wenn in ihrem
Namen solche Extrempositionen beliebig vertauscht und gegeneinander
ausgespielt werden; Überhöhung gegen Geringschätzung, sich
nicht mehr auszahlende Bewunderung gegen Verachtung. Die Verhaltensraster
für Unterwerfung, für den Umgang von Starkem und Schwachem,
von sich stark Fühlenden mit schwach Gehaltenen, sind trotzdem
davon geprägt. Irdische und überirdische Engel werden zur
Ästhetisierung von Zuständen gebraucht; sie sind Form, zugehörige
Inhalte könnten auch anders entstehen. Allgemein verehrte
"Engel der Armen" (Mutter Theresa) aber unterscheiden sich,
als Bild, deutlich von jenen, die von vornherein Figuren mit
dämonisch-erotischen Kräften sind. Werden die Regeln für Faszination
nicht eingehalten, geht die zugeschriebene Macht verloren.
Ausnahmen beweisen bloß, daß sich Ansprüche zu verschieben
beginnen. Vom Religiösen her kommende Prägungen tauchen also
überall wieder auf. Den Vatikan und Warner Brothers verbindet
mehr als es den Anschein hat. Biblische Muster, wie der Aufstieg
und Fall der Stadt Mahagonny, haben sich in ein unauffälliges
Dauergeschehen verwandelt (Jenny, auch ein gefallener Engel,
warnt ihre Freunde: "Segelt unter keinen Umständen gegen den
Wind und versucht jetzt nichts Neues").
Die Begriffe leben aber weiterhin mit ihren gewohnten Schichtungen:
Freude heißt aufsteigen, ein Orgasmus heißt Gipfel, das Unglück
heißt abstürzen, wie in den Bergen. Ein Fallen, ein Abstürzen
setzt Höhe voraus. Gleichzeitig ist es mit dem Fliegen eng
verwandt. Oben, näher dem Himmel, ist es wunderbar. Der gefallene
Engel erniedrigt sich, der gefallene Soldat ist geopfert worden.
Der abgestürzte Börsenkurs vernichtet Geld und gute Laune.
Gefallener Luftdruck bedeutet Schlechtwetter. Ein Luzifer
allerdings mußte sogar Kindern unverständlich bleiben, weil
er es doch so gut hätte haben können. Gefallen läßt sich aber
auch an etwas finden. Als bewundernder Ausdruck korrespondiert
er mit Endpunkten, mit dem Tödlichen. Ein Verfallen wiederum
beinhaltet Leidenschaft und Destruktion, jemand verfällt jemandem,
Verfallendes wird zur Ruine.
Mit dem Tod hat das alles sehr viel zu tun. Jedes Kind bekommt
mit, daß tote Kinder zu Engeln werden und Engel oft als Kinder
abgebildet sind. Nur stimmt dieser Inbegriff von Unschuld
mit den ständigen Strafandrohungen überhaupt nicht zusammen.
Ein Wunsch zu sterben ist stillschweigend mitprogrammiert,
denn die vielen kindlichen Engel in der Kirche sind ja tote
Kinder; und ihnen geht es offenbar bestens. Im Ausdruck Engel
machen (und der Engelmacherin; immer eine Frau) haben sich
solche Bezüge erhalten. Die Engel auf Friedhöfen wiederum
konnten sogar angefaßt werden, ihre Todesnähe bleibt in Erinnerung,
bevor man ahnt um was es geht. Warum aber die wirklich heiligen
Personen nicht ebenfalls Flügel brauchen, Flügel, die jeder
selbst gern hätte, wird nie erklärt. Die Engel singen hören,
ist, als Redewendung, ebenfalls in eine Doppelbedeutung aufgespaltet.
Weihnachtsengel sind Vorboten, die sich beim Fest dann im
Hintergrund halten; das macht sie Kindern besonders sympathisch.
Sie waren einem näher als die Heilige Familie, weil sie bei
der Beschaffung der Geschenke mitgeholfen haben. Vielleicht
kommen die gegenüber Ärzten verständlicheren Sympathiewerte
für Krankenschwestern auch von solchen Vorstellungen her.
Selbst Nachlässigkeiten der Schutzengel ergeben Chancen, als
Erleichterung darüber, Gefahren selbst meistern zu können.
Daß Kriegsprägungen und Kampfphantasien Schübe solcher Idealisierungen
erzeugt haben, macht nicht nur das Bild vom ständig anwesenden
Todesengel plausibel. Warum Karl May zu solchem Einfluß gelangt
ist, - bei seinem letzen Vortrag, "Empor ins Reich der Edelmenschen",
am 22. März 1912 in Wien, eine Woche vor seinem Tod, waren
Bertha von Suttner und Adolf Hitler im Publikum - hat Arno
Schmidt, Hans Wollschläger oder Hans-Jürgen Syberberg beschäftigt.
Mich beschäftigt es in diesem Zusammenhang auch, weil meine
Kindheitserinnerungen an die unmittelbare Nachkriegszeit wie
Wiederholungen und Variationen von immer gleichem gespeichert
sind. Weit zurückliegendes Ministrantenwissen über Engel kann
das bloß einkreisen. In dem Umfeld, das diesen Erfahrungsraum
gebildet hat, sind Helden und Idole verschwunden gewesen;
also auch die schützenden Engel. Gefehlt hat einem niemand,
weil alles unbekannt und neu erschienen ist. Nach der Märchenphase
sind daher die üblichen Ersatzhelden aufgetaucht; es waren
wiederum Indianer, die in den Weiten der Prärie unterwegs
gewesen sind und Flieger, die hoch über den Wolken schweben
konnten. Gefährlich ist das erwünschte Leben in beiden Fällen
gewesen. Ein durch Heldentum aufgewertetes Sterben hat also
in Kinderphantasien erneut einen Platz erhalten, fast so,
als sollten wiederum Todessehnsüchte aufgebaut werden. In
späteren Wünschen, gefährlich zu leben, ist das wiedergekommen.
Daß zu Helden Engel gehören und es Glücksmomente nur in Parallelwelten
geben kann, hat sich aus solchen Konstellationen wie von selbst
ergeben, nur mußten sie nichts mehr mit Geschöpfen aus dem
Religionsunterricht zu tun haben. Einsame Männer haben anderes
gebraucht. Offenbar ist jede Art von Fortbewegung und ein
Miterleben von Gefahr bald interessanter gewesen als Schutz
und Geborgenheit. Winnetous Schwester Nscho-tschi ("Schöner
Tag") war ein erstes dazu passendes Wunderwesen, edel, rein,
heiliger und wirklicher als die wenigen, sonst irgendwann
erwähnten außergewöhnlichen Frauen. Ein wiederaufgesuchtes
Zitat dazu: "Ich stand zwischen Winnetou und seiner Schwester.
Die große Ähnlichkeit der Geschwister trat heute besonders
hervor, weil Nscho-tschi Männerkleidung angelegt hatte. Ihr
Anzug glich dem ihres Bruders. Auch sie hatte keine Kopfbedeckung,
und ihr Haar war in einen Schopf geordnet, grad wie das seinige.
Am Gürtel hatte sie mehrere Beutel mit verschiedenen Inhalten
befestigt. Ein Messer und eine Pistole steckten darin, und
über ihrem Rücken hing ein Gewehr. Ihr Anzug war neu und mit
bunten Fransen und Stickereien verziert. Sie sah sehr kriegerisch
und dabei doch so mädchenhaft und reizend aus, daß alle Blicke
auf sie gerichtet waren." Hundert Seiten nach ihrem ersten
Auftreten ist sie umgebracht worden. Ein weiteres, nicht so
bekanntes Beispiel aus dem eigenen Archiv: Die Rote Schlange,
geheminisvolle Partnerin des Kapuzenmannes (von G. L. Hipkiss).
Sie hat ihren Kampf für das Gute unter kompliziert-kriminellen
Bedingungen geführt, mit modernen Mitteln, und ist einem besonders
lebensnah erschienen, vielleicht weil sie bloß in Schundheften
vorgekommen ist. Textproben: "Einen Augenblick spielte ein
Lichtschein über sie hin und zu meinem großen Erstaunen bemerkte
ich, daß jene Frau nicht mehr schwarz gekleidet war. Es war
die Rote Schlange. Sie trug wieder ihr rotes Kleid ..." Ihre
Identität ist die ganze Zeit geheimnisvoll geblieben. "Da
hob die Rote Schlange langsam ihre Hand zum Gesicht ... hob
einen Augenblick ihre Maske und ließ sie wieder fallen. Nun
war der Mann der Überraschte. Seine Lippen zitterten, ich
war gewiß, daß er nun einen Namen aussprechen würde. Aber
er hielt sich zurück, wahrscheinlich über einen warnenden
Blick der Frau. Deshalb sagte er nur: 'Du ... du bist die
Rote Schlange?'". Vom Namen her hätte sie auch Indianerin
sein können. Im Grunde ist es auch die gleiche Faszination
gewesen: Entrückte Wesen, die jenseits von allem Bekannten
existieren, Objekte totaler Bewunderung, Einschlafvisionen,
Tagträume, ostentative Konzentrate für alles, was einem im
Geheimen erstrebenswert erschienen, also abgegangen ist.
Engel und alle engelähnlichen Wesen waren bald eindeutig
weiblich, aber ohne die Attribute, die Weiblichem ständig
- trotz unbekannter Einzelheiten - als problematisch zugeschrieben
worden sind. Wie ihnen näher zu kommen wäre, ist noch nicht
das Problem gewesen. Anfangs waren sie ohnedies nichts Reales,
manchmal vielleicht als Ahnung, als Geruch; später dann als
Bilder, vor einem noch verbotenen Kino und schließlich in
den ersten ernstzunehmenden Filmen. Mit dem Körper hat das
alles nichts zu tun gehabt. Wer behauptet hätte, solche Engel
müssen aufs Klo gehen, wäre für völlig gestört gehalten worden.
Daß gleichzeitig jede Emotion dem anderen Geschlecht gegenüber
geächtet war, hat offenbar solche geheim bleibenden Übersteigerungen,
konfuse Brüche mit Idealbildern und latente Rückfälle begünstigt,
mit allen Absicherungen als kollektive Neurose, aber häufigen
Langzeitwirkungen für inzwischen Erwachsene. Als kollektive
Neurose, oder Schlimmeres, hat sich auch fortgesetzt, wie
stark über einsickernde Beeinflussungen diverse Formen von
Reinheit und Unberührtheit als lebbare Ideale hingestellt
worden sind, ausgerechnet eine Reinheit, wie sie zuvor, als
individuelles und kollektives Muster, zur Programmatik des
Entsetzlichen gehört hat. Aber bis das begriffen werden konnte,
hat es unter den gegebenen Umständen noch lange gedauert.
Selbst aus der Welt der Bilder und der Musik sind Impulse
für ein anderes Lebensgefühl erst Schritt für Schritt zugänglicher
geworden.
Ein von ganz wo anders her kommender Engel ist Lauren Bacall
gewesen, aber jemand, der 1944 geboren ist (als To Have and
Have Not, ihr erster Film, gedreht wurde, der sie, in ihren
eigenen Worten, "von einem Nichts in eine erlesene Mischung
aus Greta Garbo, Marlene Dietrich, Mae West und Katherine
Hepburn" verwandelte), hat noch viele Jahre warten müssen,
bis er solche Engel der anderen Art bewundern konnte.
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G. L. Hipkiss: Der Kapuzenmann und
die Rote Schlange, Fortsetzungsserie der 1950er Jahre
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