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www.ChristianReder.net: Publikationen: Nachkriegsengel, Indianer und Piloten
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Kunsthalle Wien
Engel:Engel
Springer Wien New York
   

Nachkriegsengel, Indianer und Piloten
Erinnerungen an Nscho-tschi, die Rote Schlange und Lauren Bacall

In: Cathrin Pichler (Hg.): Engel:Engel - Legenden der Gegenwart.
Ausstellungskatalog
Springer Wien New York 1997

Buch zur Ausstellung Engel:Engel - Legenden der Gegenwart in der Kunsthalle Wien 1997

Weitere Beiträge von Andrei Plesu, Neda Bei, Dietmar Kamper, Cathrin Pichler, Thomas Macho, Walter Seitter, August Ruhs u.a.

 

 

Daß irgendwer wirklich ein Engel, also Heiligem ganz nah sein will, ist mit bisher nicht untergekommen; offenbar geht es eher darum, ob andere einen so sehen. Engelsgleiche Jünglinge sind der speziellere Fall, obwohl himmlische Engel primär männlich sind, allerdings von ewiger Jugend gezeichnet. Geläufiger ist die Übertragung auf Kinder, auf Mädchen, auf Frauen. Die Anrede "Mein Engel" betont Besitzverhältnisse; das englisch-amerikanische "Angel" ist demgegenüber neutraler, dafür inflationär in der Verwendung, bis hin zu den "Hell's Angels". Letztere erinnern daran, daß Buben die längste Zeit Indianer und Piloten werden wollten. Der nomadische Grundzug solcher Wünsche hat weitere Dimensionen als bloße Fluchtphantasien. Auffallend ist, daß richtige Engel ebenfalls etwas Nomadisches repräsentieren; mit grenzenloser Bewegungsfreiheit, im Himmel und über Land und Meer schwebend.

Den "Wunsch, Indianer zu werden", hat schon Kafka wichtig genommen und die Sozialwissenschaften haben ihre entscheidenden Grundlagen geschaffen, als die Situation österreichischer Arbeitsloser, einschließlich der Träume von Kindern, erhoben worden ist. "Ich will ein Flieger, Unterseebootskapitän, Indianerhäuptling und ein Mechaniker werden", schrieb ein Zwölfjähriger für diese berühmt gewordene Studie (Jahoda, Lazarsfeld, Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal, 1933). "Aber ich fürchte", so setzt er fort, "es wird schwer sein, einen guten Posten zu finden." Den zuerst in den USA populär werdenden Superman (Jerry Siegel, Joseph Shuter, 1934) hat er noch nicht kennen können. Daß sich derartiges mit eigenen Kindheitserinnerungen deckt, dürfte eine geläufige Erfahrung sein, selbst wenn sie später und unter besseren Bedingungen stattgefunden hat. Solche Übereinstimmungen und Abweichungen ineinander verfließender, idealisierter, in vielen Elementen konstant bleibender Vorstellungen, die irgendwann mit unkontrollierbaren Reaktionen in Zusammenhang gebracht werden können, schaffen Probleme und Arbeit für Spezialisten. Die hätten, wenn damit befaßt, viel zu tun, weil Männerphantasien mit ihren festgefügten Entstehungsmechanismen eine Ablösung von diesem und jenem fast unmöglich machen. Engel sind die diffusen Gegenbilder.

Als engelhaft angesehene Wesen können jedenfalls nichts dafür, daß es Bewunderern so leicht fällt, sich immer wieder als ihr Opfer darzustellen, bloß weil bereits Kindern so oft Vorstellungen von Engeln mitgegeben worden sind, die, sobald sie auf Personen übertragen werden, natürlich auf weibliche, offenbar ein Durchdringen von Idealisierung und Enttäuschung, von Anbetung und Bestrafung provozieren. Gerade weil schon mit naivem Zugang Engel immer als mysteriöse Zwischenwesen erscheinen, bei denen nichteinmal das Geschlecht klar ist, paßt es nicht ins Bild, wenn in ihrem Namen solche Extrempositionen beliebig vertauscht und gegeneinander ausgespielt werden; Überhöhung gegen Geringschätzung, sich nicht mehr auszahlende Bewunderung gegen Verachtung. Die Verhaltensraster für Unterwerfung, für den Umgang von Starkem und Schwachem, von sich stark Fühlenden mit schwach Gehaltenen, sind trotzdem davon geprägt. Irdische und überirdische Engel werden zur Ästhetisierung von Zuständen gebraucht; sie sind Form, zugehörige Inhalte könnten auch anders entstehen. Allgemein verehrte "Engel der Armen" (Mutter Theresa) aber unterscheiden sich, als Bild, deutlich von jenen, die von vornherein Figuren mit dämonisch-erotischen Kräften sind. Werden die Regeln für Faszination nicht eingehalten, geht die zugeschriebene Macht verloren. Ausnahmen beweisen bloß, daß sich Ansprüche zu verschieben beginnen. Vom Religiösen her kommende Prägungen tauchen also überall wieder auf. Den Vatikan und Warner Brothers verbindet mehr als es den Anschein hat. Biblische Muster, wie der Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, haben sich in ein unauffälliges Dauergeschehen verwandelt (Jenny, auch ein gefallener Engel, warnt ihre Freunde: "Segelt unter keinen Umständen gegen den Wind und versucht jetzt nichts Neues").

Die Begriffe leben aber weiterhin mit ihren gewohnten Schichtungen: Freude heißt aufsteigen, ein Orgasmus heißt Gipfel, das Unglück heißt abstürzen, wie in den Bergen. Ein Fallen, ein Abstürzen setzt Höhe voraus. Gleichzeitig ist es mit dem Fliegen eng verwandt. Oben, näher dem Himmel, ist es wunderbar. Der gefallene Engel erniedrigt sich, der gefallene Soldat ist geopfert worden. Der abgestürzte Börsenkurs vernichtet Geld und gute Laune. Gefallener Luftdruck bedeutet Schlechtwetter. Ein Luzifer allerdings mußte sogar Kindern unverständlich bleiben, weil er es doch so gut hätte haben können. Gefallen läßt sich aber auch an etwas finden. Als bewundernder Ausdruck korrespondiert er mit Endpunkten, mit dem Tödlichen. Ein Verfallen wiederum beinhaltet Leidenschaft und Destruktion, jemand verfällt jemandem, Verfallendes wird zur Ruine.

Mit dem Tod hat das alles sehr viel zu tun. Jedes Kind bekommt mit, daß tote Kinder zu Engeln werden und Engel oft als Kinder abgebildet sind. Nur stimmt dieser Inbegriff von Unschuld mit den ständigen Strafandrohungen überhaupt nicht zusammen. Ein Wunsch zu sterben ist stillschweigend mitprogrammiert, denn die vielen kindlichen Engel in der Kirche sind ja tote Kinder; und ihnen geht es offenbar bestens. Im Ausdruck Engel machen (und der Engelmacherin; immer eine Frau) haben sich solche Bezüge erhalten. Die Engel auf Friedhöfen wiederum konnten sogar angefaßt werden, ihre Todesnähe bleibt in Erinnerung, bevor man ahnt um was es geht. Warum aber die wirklich heiligen Personen nicht ebenfalls Flügel brauchen, Flügel, die jeder selbst gern hätte, wird nie erklärt. Die Engel singen hören, ist, als Redewendung, ebenfalls in eine Doppelbedeutung aufgespaltet. Weihnachtsengel sind Vorboten, die sich beim Fest dann im Hintergrund halten; das macht sie Kindern besonders sympathisch. Sie waren einem näher als die Heilige Familie, weil sie bei der Beschaffung der Geschenke mitgeholfen haben. Vielleicht kommen die gegenüber Ärzten verständlicheren Sympathiewerte für Krankenschwestern auch von solchen Vorstellungen her. Selbst Nachlässigkeiten der Schutzengel ergeben Chancen, als Erleichterung darüber, Gefahren selbst meistern zu können.

Daß Kriegsprägungen und Kampfphantasien Schübe solcher Idealisierungen erzeugt haben, macht nicht nur das Bild vom ständig anwesenden Todesengel plausibel. Warum Karl May zu solchem Einfluß gelangt ist, - bei seinem letzen Vortrag, "Empor ins Reich der Edelmenschen", am 22. März 1912 in Wien, eine Woche vor seinem Tod, waren Bertha von Suttner und Adolf Hitler im Publikum - hat Arno Schmidt, Hans Wollschläger oder Hans-Jürgen Syberberg beschäftigt. Mich beschäftigt es in diesem Zusammenhang auch, weil meine Kindheitserinnerungen an die unmittelbare Nachkriegszeit wie Wiederholungen und Variationen von immer gleichem gespeichert sind. Weit zurückliegendes Ministrantenwissen über Engel kann das bloß einkreisen. In dem Umfeld, das diesen Erfahrungsraum gebildet hat, sind Helden und Idole verschwunden gewesen; also auch die schützenden Engel. Gefehlt hat einem niemand, weil alles unbekannt und neu erschienen ist. Nach der Märchenphase sind daher die üblichen Ersatzhelden aufgetaucht; es waren wiederum Indianer, die in den Weiten der Prärie unterwegs gewesen sind und Flieger, die hoch über den Wolken schweben konnten. Gefährlich ist das erwünschte Leben in beiden Fällen gewesen. Ein durch Heldentum aufgewertetes Sterben hat also in Kinderphantasien erneut einen Platz erhalten, fast so, als sollten wiederum Todessehnsüchte aufgebaut werden. In späteren Wünschen, gefährlich zu leben, ist das wiedergekommen.

Daß zu Helden Engel gehören und es Glücksmomente nur in Parallelwelten geben kann, hat sich aus solchen Konstellationen wie von selbst ergeben, nur mußten sie nichts mehr mit Geschöpfen aus dem Religionsunterricht zu tun haben. Einsame Männer haben anderes gebraucht. Offenbar ist jede Art von Fortbewegung und ein Miterleben von Gefahr bald interessanter gewesen als Schutz und Geborgenheit. Winnetous Schwester Nscho-tschi ("Schöner Tag") war ein erstes dazu passendes Wunderwesen, edel, rein, heiliger und wirklicher als die wenigen, sonst irgendwann erwähnten außergewöhnlichen Frauen. Ein wiederaufgesuchtes Zitat dazu: "Ich stand zwischen Winnetou und seiner Schwester. Die große Ähnlichkeit der Geschwister trat heute besonders hervor, weil Nscho-tschi Männerkleidung angelegt hatte. Ihr Anzug glich dem ihres Bruders. Auch sie hatte keine Kopfbedeckung, und ihr Haar war in einen Schopf geordnet, grad wie das seinige. Am Gürtel hatte sie mehrere Beutel mit verschiedenen Inhalten befestigt. Ein Messer und eine Pistole steckten darin, und über ihrem Rücken hing ein Gewehr. Ihr Anzug war neu und mit bunten Fransen und Stickereien verziert. Sie sah sehr kriegerisch und dabei doch so mädchenhaft und reizend aus, daß alle Blicke auf sie gerichtet waren." Hundert Seiten nach ihrem ersten Auftreten ist sie umgebracht worden. Ein weiteres, nicht so bekanntes Beispiel aus dem eigenen Archiv: Die Rote Schlange, geheminisvolle Partnerin des Kapuzenmannes (von G. L. Hipkiss). Sie hat ihren Kampf für das Gute unter kompliziert-kriminellen Bedingungen geführt, mit modernen Mitteln, und ist einem besonders lebensnah erschienen, vielleicht weil sie bloß in Schundheften vorgekommen ist. Textproben: "Einen Augenblick spielte ein Lichtschein über sie hin und zu meinem großen Erstaunen bemerkte ich, daß jene Frau nicht mehr schwarz gekleidet war. Es war die Rote Schlange. Sie trug wieder ihr rotes Kleid ..." Ihre Identität ist die ganze Zeit geheimnisvoll geblieben. "Da hob die Rote Schlange langsam ihre Hand zum Gesicht ... hob einen Augenblick ihre Maske und ließ sie wieder fallen. Nun war der Mann der Überraschte. Seine Lippen zitterten, ich war gewiß, daß er nun einen Namen aussprechen würde. Aber er hielt sich zurück, wahrscheinlich über einen warnenden Blick der Frau. Deshalb sagte er nur: 'Du ... du bist die Rote Schlange?'". Vom Namen her hätte sie auch Indianerin sein können. Im Grunde ist es auch die gleiche Faszination gewesen: Entrückte Wesen, die jenseits von allem Bekannten existieren, Objekte totaler Bewunderung, Einschlafvisionen, Tagträume, ostentative Konzentrate für alles, was einem im Geheimen erstrebenswert erschienen, also abgegangen ist.

Engel und alle engelähnlichen Wesen waren bald eindeutig weiblich, aber ohne die Attribute, die Weiblichem ständig - trotz unbekannter Einzelheiten - als problematisch zugeschrieben worden sind. Wie ihnen näher zu kommen wäre, ist noch nicht das Problem gewesen. Anfangs waren sie ohnedies nichts Reales, manchmal vielleicht als Ahnung, als Geruch; später dann als Bilder, vor einem noch verbotenen Kino und schließlich in den ersten ernstzunehmenden Filmen. Mit dem Körper hat das alles nichts zu tun gehabt. Wer behauptet hätte, solche Engel müssen aufs Klo gehen, wäre für völlig gestört gehalten worden. Daß gleichzeitig jede Emotion dem anderen Geschlecht gegenüber geächtet war, hat offenbar solche geheim bleibenden Übersteigerungen, konfuse Brüche mit Idealbildern und latente Rückfälle begünstigt, mit allen Absicherungen als kollektive Neurose, aber häufigen Langzeitwirkungen für inzwischen Erwachsene. Als kollektive Neurose, oder Schlimmeres, hat sich auch fortgesetzt, wie stark über einsickernde Beeinflussungen diverse Formen von Reinheit und Unberührtheit als lebbare Ideale hingestellt worden sind, ausgerechnet eine Reinheit, wie sie zuvor, als individuelles und kollektives Muster, zur Programmatik des Entsetzlichen gehört hat. Aber bis das begriffen werden konnte, hat es unter den gegebenen Umständen noch lange gedauert. Selbst aus der Welt der Bilder und der Musik sind Impulse für ein anderes Lebensgefühl erst Schritt für Schritt zugänglicher geworden.

Ein von ganz wo anders her kommender Engel ist Lauren Bacall gewesen, aber jemand, der 1944 geboren ist (als To Have and Have Not, ihr erster Film, gedreht wurde, der sie, in ihren eigenen Worten, "von einem Nichts in eine erlesene Mischung aus Greta Garbo, Marlene Dietrich, Mae West und Katherine Hepburn" verwandelte), hat noch viele Jahre warten müssen, bis er solche Engel der anderen Art bewundern konnte.

 


G. L. Hipkiss: Der Kapuzenmann und die Rote Schlange, Fortsetzungsserie der 1950er Jahre
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© Christian Reder 1997/2001