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www.ChristianReder.net: Publikationen: Zur Meßbarkeit der sozialen Entwicklung

Zur Meßbarkeit der sozialen Entwicklung
Die französischen Sozialindikatoren

Die Zukunft. Sozialistische Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur.
Wien, Nr. 13-14/1975

Von Christian Reder und Udo Schreyer

 

 

Wer den tatsächlichen Zustand der heutigen Gesellschaft in welcher Form beeinflusst, beziehungsweise beeinflussen könnte, verbirgt sich hinter undurchsichtigen Prozessen und hinter unzureichenden, vielfach auch überflüssigen, jedenfalls aber schlecht strukturierten Informationen.
Vor allem für die Präzisierung von Tatbeständen und. Vorhaben, die sich nicht In Geldwerten ausdrücken lassen, ist man auf mehr oder minder große Worte und isolierte Einzeldaten angewiesen.
Für die Arbeit im großen wie in jedem kleinen Bereich, sind Lagebeurteilung, präzise Zielvorgaben, Planung und periodische Erfolgskontrolle wichtig. Aber gerade die nichtökonomischen Fakten und Resultate, die die Lebensbedingungen des Menschen betreffen, sind nicht greifbar.
Wie läßt sich unter diesen Bedingungen ein eifizienter Einsatz der Mittel erzielen, wie ein Lernprozeß fördern?
Was hat eine Regierung, ein Parteifunktionär, ein Manager oder der Bürgermeister eines Dorfes für sozial relevante Ergebnisse bewirkt? Welche Daten bestimmen seine Entscheidungen? Wie können Potemkinsche Dörfer "sozialer" Initiativen vermieden werden? Wie nimmt die Aufgeschlossenheit gegenüber Minoritäten, Andersdenkenden oder sozial Benachteiligten zu? Was bringen um 30 Prozent höhere Bildungsausgaben? Was ist sozialer Fortschritt und welche Richtung nimmt er?
Solche Fragestellungen belegen die Notwendigkeit grundlegender Entwicklungsarbeiten auf dem Gebiet der Datenerfassung, -verarbeitung und -verwertung. Dies enthebt aber Organisationen und Mitarbeiter nicht davon, sich auch schon kurzfristig konsequent mit einem erweiterten Resultatsbegriff für jede einzelne Einheit auseinanderzusetzen.
Um aus der Fülle theoretischen Materials zu Erfordernissen gesellschaftlichen Inhaltes brauchbare Entscheidungsunterlagen für die unmittelbare Arbeit in Politik, Verwaltung und Wirtschaft zu gewinnen, erscheinen die mittels Sozialindikatoren zu erfassenden Fakten und Argumente als wertvolle Hilfsmitte.

Der Begriff "Sozialindikator"

Die Leitidee für die Konzeption der Sozialindikatoren war das Bestreben, jenen Bereich der gesellschaftlichen Phänomene, die von der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht erfasst werden oder nicht erfasst werden können, einer Analyse und deswegen der Messbarkeit zugänglich zu machen. Zielvorstellung ist also eine Art Kennziffernsystem für das Sozialgeschehen.
Sozialindikatoren sind demnach Meßgrößen für die Lebensbedingungen des Menschen, gegliedert nach den Problemschwerpunkten der Gesellschaft.
Für die Datengewinnung werden alle brauchbaren Statistiken herangezogen beziehungsweise neue Kategorien definiert und Meinungsumfragen durchgeführt. Dabei sollen nur diejenigen Daten in den Rang eines Indikators erhoben werden, deren Aussagewert durch seinen empirisch überprüfbaren Zusammenhang mit einem bestimmten Konzept eines Sozialphänomens belegt werden kann, Wesentlich ist die Einbeziehung quantitativer und qualitativer Aspekte, die Vermittlung von Zugängen zur Analyse der Ursachen und Abhängigkeiten und die kompakte Darstellung der die soziale Wirklichkeit charakterisierenden Fakten.

Anwendungsgebiete

Bereits durch einen aussagekräftigeren Gliederungsrahmen und zusammengefaßte vorhandene Daten stehen besser strukturierte und leichter zugängliche Informationen zur Verfügung. Trends werden sichtbar, für periodische Analysen und Lageberichte verbessern sich die Voraussetzungen. Das Problembewusstsein kann sich ausbreiten und vertiefen. Die Interessengegensätze lassen sich fundierter diskutieren. In den Planungsprozeß der einzelnen Bereiche können schrittweise und entsprechend gewichtet gesellschaftsbezogene Daten einbezogen werden. Je greifbarer die spezifischen, positiven oder negativen Resultate sind, desto stärker werden sich Motivationen und Veränderungsenergien entfalten.
In der theoretischen Fundierung muß man sich bewußt sein, dass es um die konsequente Sichtbarmachung der sozialen Realität, ihrer Ursachen und Gestaltungsmöglichkeiten und nicht um Konfliktvermeidung oder -verschleierung.
Sozalindikatoren sollen Fakten liefern. Ihre Interpretation, Bewertung, ihre Umsetzung in Ziele, Prioritäten und Programme ist ein zweiter, ein politischer Schritt. Ob ein aufgezeigter Trend gut oder schlecht ist oder ob die Schwerpunkte da oder dort liegen, darüber wird in vielen Fällen keine Übereinstimmung herrschen.
In diesem Zusammenhang erhebt sich die Fragen nach den Institutionen, die für Lageberichte und Erfolgsbewertung heranzuziehen sind, damit sich nicht Pseudo-Objektivität und Selbstbelobigungsapparate entwickeln. Von der Erfassungsmethode her droht die Gefahr enger Normierung und überbewerteten Quantitätsdenkens. Die qm-Zahl von Wohnungen, Rasenflächen oder Kinderspielplätzen charakterisiert natürlich nicht die tatsächlich damit geschaffenen Lebensbedingungen. Die psychischen und unbewußten Belastungen und Wunschvorstellungen können nur sehr schwer in eine permanente Datenerhebung einbezogen werden. Die Fragen der Aktualität, Vergleichbarkeit, Bezugsgrößen und Flexibilität bedürfen einer Klärung. Der möglichen Manipulation von Zahlen kann nur dann entgegengewirkt werden, wenn ihr Entstehungsprozeß nachvollziehbar ist.
Insgesamt bestehen also eine Reihe von Gründen für ein skeptisches Vorgehen auf diesem Gebiet. Zu Euphorie, daß ein solches System bereits ein wichtiger Schritt zu einem funktionierenden Rückkoppelungsprozeß ist, der Bereichen der Makro- und Mikroebene ermöglicht, die sozialen Konsequenzen ihrer Handlungen zu steuern, besteht wenig Anlaß. Die weitreichende Problematik des Themas dokumentieren auch die praktischen Umsetzungsschwierigkeiten in den auf auf theoretischem Gebiet weit fortgeschrittenen Ländern. Doch keine dieser Einschränkungen liefert ausreichende Gründe gegen eine Weiterentwicklung der bestehenden Konzepte mit dem Ziel, das Ungleichgewicht ökonomischer und Nichtökonomischer Fakten in der heutigen Entscheidungsmethodik zu überwinden.

Internationale Aktivitäten

In den USA haben die Überlegungen rund um einen brauchbaren "Bericht, zur Lage der Nation" seit etwa1965 zu intensiven theoretischen Arbeiten auf Gebieten wie "Social Report", "Social Indicators", und "Social Accounts" geführt. Der Optimismus bei der Suche nach Systemen und Maßstäben war kurz darauf so groß, dass von einer ganzen Sozialindikatorenbewegung gesprochen wurde. 1969 erschien der erste von der Regierung in Auftrag gegebene Sozialbericht, eine ministerielle Kommission befaßt sich mit der gesellschaftlich interpretierten Neuordnung der amtlichen Statistik. Die "Russell Sage Foundation" in New York und das "Urban Institute" in Washington sind neben verschiedenen Universitäten Zentren der Entwicklungsarbeit.
In Großbritannien erschien 1971 die Publikation "Social Trends", ein benutzerorientiertes Kompendium der Sozialstatistik. Neben anderen Arbeiten wurden hier frühzeitig Lebensqualität-Studien forciert, in denen systematisch die Vorstellungen, Prioritäten und Unzufriedenheiten von befragten Personen verarbeitet wurden.
In der BRD hat sich seit 1968 die Goethe-Universität in Frankfurt zu einem Schwerpunkt der Sozialidikatorenforschung entwickelt (Professor Wolfgang Zapf). 1967 lag der erste "Bericht zur Lage der Nation" vor, 1971 die wesentlich erweiterten "Materialien zum Bericht zur Lage der Nation". Es gibt eine Arbeitsgruppe "Soziale Indikatoren" im Rahmen der Planungsaktivitäten der Bundesregierung. Diese hat ihrerseits die "Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel" beauftragt, bis 1975 einen umfassenden Bericht auszuarbeiten, in dem technische, wirtschaftliche und soziale Indikatoren im Rahmen der Problemdarstellung und des Aufzeigens von Aktionsmöglichkeiten entsprechendes Gewicht haben werden.
In Österreich ist speziell das Institut für Höhere Studien in Wien zu nennen, das sich mit Sozialindikatoren und Studien zu Einzelbereichen befaßt.
Auf internationaler Ebene arbeitet auf diesem Gebiet, neben verschiedenen Unterorganisationen der UNO, vor allem die OECD mit ihrem "Programme of Work on Social Indicators" (seit 1970). Als Rahmen wurden von den Mitgliedsländern zunächst 8 Themenschwerpunkte vereinbart:

1. Gesundheit
2. Persönlichkeitsentfaltung durch Lernen
3. Beschäftigungslage und Arbeitswelt
4. Zeit- und Freizeitverwendung
5. Verfügbarkeit von Gütern und Dienstleistungen
6. Umwelt
7. Sicherheit und Rechtsschutz
8. Chancengleichheit und Mitwirkungsrechte

1975 soll die zweite Etappe der Detailarbeiten abgeschlossen sein.

Die französischen Sozialindikatoren

Die vorliegende Zusammenfassung konzentriert sich auf die Arbeiten in Frankreich, weil der Entwicklungsstand der staatlichen Planung und die politische Situation hier auf besonders aussagefähige Zwischenresultate schließen ließ.
Ende der sechziger Jahre wurde an der Ecole Nationale d'Administration (ENA) im Auftrag des Planungskommissariates ein Forschungsseminar "Sozialindikatoren" (Leitung: Jaques Delors) eingerichtet. In diesem ersten französischen Versuch wurden die verfügbaren Forschungsergebnisse aus den USA analysiert, die vorhandenen Statistiken des Wirtschafts- und - Sozialgeschehens auf Aussagefähigkeit und technische Brauchbarkeit für die Konstruktion von Sozialindikatoren, untersucht und die so gewonnenen Kennzahlen zu problemorientierten Themen zusammengefaßt. Die dadurch zunächst gewonnenen 400 Größen wurden auf Aussagekraft, Vergleichbarkeit, Komprimier- und Aufschlüsselungsfähigkeit, technische Qualität und ihren Bezug auf die Struktur beziehungsweise auf die Leistung des Systems geprüft.

Das 1971 veröffentlichte Resultat beinhaltet eine Gliederung in 21 Themen, denen die verfügbaren Indikatoren mit entsprechenden Kommentaren zugeordnet sind:

1. Lebenserwartung: Angeführt werden hier Lebenserwartung, Geburtenfreudigkeit, Sterblichkeit, Todesursachen usw. nach verschiedenen Kategorien.

2. Gesundheitsvorsorge: Struktur und Leistungsdaten des ärztlichen und des Krankenhausbereiches, des Versicherungssystems, Pharmazeutikakonsum, Kostendaten usw.

3. Entwicklungen im Bereich der Familie: Eheschließungs- und Scheidungsrate, eheliche/uneheliche Geburten, Abtreibungen, Empfängnisverhütung, Amtsvormundschaftsfälle, gefährdete Kinder, Zeitverwendung innerhalb der Familie, Wohnungsgröße, Kindergärten, Schulen, Lebensstandard, Freizeitmöglichkeiten usw.

4. Beteiligung der Frau am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben: Berufstätigkeit nach Qualifikationsniveau/Branche, weiblich/männlich, Gehälter, Gesamtarbeitsstunden, Ausstattungsgrad der Haushalte, Ausbildung, Entlastungseinrichtungen, Kindergärten, Tagesheime, politische und gewerkschaftliche Organisiertheit, Zugehörigkeit zu Vereinigungen, zu politischen Gremien, Auflagen der Frauenzeitschriften usw.

5. Stellung der alten Leute in der Gesellschaft: Jahreseinkommen nach vorheriger Berufskategorie, Beihilfen, Nebeneinkommen, Alleinstehende, nicht auf fremde Hilfe Angewiesene, Forschungsaufwand, Gerontologie, Wohn- und Unterkunftsbedingungen, Intensität der Kommunikation usw.

6. Verhalten gegenüber gesellschaftlichen Randschichten: Anteil der Armen (unter 50 Prozent des Durchschnittseinkommens), der von der Sozialhilfe Abhängigen; der Körperbehinderten, der Analphabeten, der "sozial Unangepaßten", verfügbare/ erforderliche Pflegeplätze, Fall pro Sozialbediensteten, Vorbeugungsanstrengungen, Häftlinge in üblichen / fortschrittlichen Anstalten, Anteil der Reintegrierten in geschütztem Milieu

7. Beschäftigungslage. Hier werden die geläufigen Kennziffern bezüglich Arbeitslosigkeit, struktureller Maßnahmen, Umschulung, Unterstützung usw. eingeordnet.

8. Rolle des Unterrichtswesens: Hierzu zählen Daten über die Sozialstruktur in den verschiedenen Bildungswegen, Ausgabenkategorien, Klassengröße, Kosten der Bildungsforschung und der Schulexperimente.

9. Kulturelle Entwicklung: Einstellung zur Arbeit, Einkommenssteigerung, zur Sexualerziehung, zur Zukunft, "zu einem bestimmten zeitgenössischen Künstler", zur "Entwicklung der nationalen Realität", Zeitverwendung für Sport, Körperpflege, Lesen, Musikhören, Theater, Kino, Museum, TV, für eigene Versuche in Literatur, Musik, Kunst, für Basteln, Handwerk, Verschönerung des Wohnbereiches, für Freundschaftspflege, Vereinigungen, Spiele, Gewerkschaften, politische Parteien, Häufigkeit bestimmter Gesprächsthemen usw.,

10. Anpassungsfähigkeit an Veränderungen: Die eingeordneten Kriterien beschränken sich hier auf den Grad wirtschaftlicher Strukturveränderungen, die berufliche und regionale Mobilität der Bevölkerung, auf die Entwicklung der Verstädterung, des Wohnbestandes und der Freizeitgelegenheiten.

11. Soziale Mobilität: Hierunter fallen Fakten zur Chancengleichheit im Bildungswesen, zum beruflichen Aufstieg und zu den Kontakten zwischen den einzelnen Sozialschichten.

12. Aufgeschlossenheit der Gesellschaft gegenüber der übrigen Welt: Wirtschaftsbeziehungen, Entwicklungshilfe, Aus- und Einwanderungen, Gastarbeiter, Flüchtlinge, Eheschließungen, Umfang der Auslandskorrespondenz, Reiseverkehr, Jugendaustausch, kulturelle Beziehungen (ausländische Tageszeitungen, Bücher, Filme, Theaterstücke, Schallplatten in Relation zur Inlandsproduktion, zu Ausfuhren usw.).

13. Verteilung des Volksvermögens: Neben den traditionellen Kriterien werden hier genannt: Anteil der Ausgaben für öffentliche Einrichtungen an den Gesamtausgaben der Privathaushalte, Benützung dieser Einrichtungen nach sozialer Kategorie, Sozialkosten der Umweltbelastung.

14. Verteilung der Einkommen: Die zahlreichen hier eingeordneten Faktoren werden gegliedert nach Einkommensverteilung, Haushaltseinkommen, frei verfügbare Einkommen, Verwendung der Ersparnisse und Struktur des Konsums.

15. Struktur des Kapitalbestandes: Die Gliederung erfolgt hier nach differenzierten Anlageformen und ihrer Preisentwicklung beziehungsweise ihren Zuwachsraten.

16. Rolle der sozialen Einrichtungen: Die Definition beschränkt sich hier auf die Absicherung gegen diverse Risiken (Pensions-, Kranken-, Lebens-, Unfallversicherung, Arbeitslosenunterstützung, Sparförderung, Militärausgaben usw.).

17. Solidarisierung der Gesellschaft: Der Begriff umfaßt nur ganz eng gesteckt materielle Leistungen von Organisationen oder dem Staat an einzelne oder Gruppen, die ganz oder teilweise ohne Gegenleistung erfolgen. (Katastrophenhilfe, Infrastrukturausgaben usw.).

18. Wohnungswesen: Größe und Ausstattung der Wohnungen, Ein/ Mehrfamilienhäuser, Grünflächen, Gartenbenützung, Stadterneuerung, Wohnkosten/Konsum, Produktion schalldämmender Materialien usw.

19. Landschaftsschutz und Landschaftsplanung: Struktur- und Leistungsdaten zum landwirtschaftlichen Bereich, Ausgaben für Naturschutz, Umweltverschmutzung, erschlossene/nicht erschlossene Gebiete, Fischerei-, Jagd-, Wassersport-, Genehmigungen usw.

20. Stadtentwicklung: Umfang der Verstädterung und Aufschlüsselung der einzelnen Städte nach Struktur und Qualitätskriterien (Wohnraum/EW, Individual / Massenverkehr, Grünfläche pro Einwohner, Versorgung im Nahbereich, Schulen, kulturelle Einrichtungen, Freizeitwert, Unfälle pro Einwohzner usw.).

21. Freizeitgestaltung: Individuelle Zeitverwendung für Arbeit, Wegzeit, Haushalt, Ausbildung, Familie, Entspannung, Vergnügen, Essen, Kommunikation, Sport, Schlaf, Nichtstun

Im Anschluß an dieses hier in seinen wesentlichen Aussagen zusammengefaßte, insgesamt noch sehr unbefriedigende Zwischenergebnis bemühte man sich an der Ecole Nationale d'Administration um neue Erkenntnisse mittels einer Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung in Frankreich (1953 bis 1971) unter Benutzung von 450 statistischen Zeitreihen. Gegenstand waren Gesundheit, Kultur, Lebensweise, Stadt, Arbeitsbedingungen, soziale Ungleichheit, Konflikte und die gegenseitigen Zusammenhänge. Die auf diese Weise verbesserten Indikatoren wurden versuchsweise zu einem sozialen Globalindikator zusammengefaßt, der jeweils dem Brutto-Inlandsprodukt und den Daten zur öffentlichen Meinung gegenübergestellt wurde,um weitere Einsichten in die neuralgischen Punkte und Abhängigkeiten zu gewinnen.
Parallel dazu arbeitet das "Institut de Recherche Economique et de la Planification" (IREP) in Grenoble an einem Modell des sozialen Wandels, mit der Absicht dessen Schlüsselstellen zu identifizieren und ihnen Indikatoren zuzuordnen, kämpft dabei aber genauso mit enormen Quantifizierungsschwierigkeiten.
Das "Institut Nationale de Statistique et des Etudes Economiques" (INSEE), die statistische Zentralbehörde Frankreichs, konzentriert sich in Erkennung der politischen Problematik dieser Bestrebungen auf ihre Eigenschaft als Berater und Datenbank für die einzelnen Projekte. Koordinationszentrum und Informationsbörse der Sozialindikatorenforschung in Frankreich ist die Abteilung "Service des Affaires Sociales" des staatlichen Planungskommissariates. Sie vergibt auch selbst Forschungsaufträge, wie zum Beispiel die Studie "Arbeitswelt" an das "Laboratoire d'Economie et de Sociologie" in Aix-en-Provence.

Der hier gegebene Überblick zeigt die Intensität, mit der in Frankreich unter hohem Problemdruck daran gearbeitet wird, die systemgefährdenden Nebeneffekte des geplanten Wachstums in den Griff zu bekommen. Gemessen an der ursprünglichen Zielsetzung und dem Zeit- und Geldaufwand während fünfjähriger Arbeit müssen die tatsächlichen Ergebnisse als dürftig bezeichnet werden. Beabsichtigt war ja, die politischen Prioritäten der staatlichen Planung ("grandes options") und deren Auswirkungen zu untersuchen und die Sozialindikatoren in den VI. Plan (1971 bis 1975) mit einzubeziehen. Inwieweit einzelne Sozialindikatoren systematisch für die Ausarbeitung des VII. Planes (1975 bis 1980) Verwendung finden, ist fraglich. Hauptursache dafür war die technokratische Inangriffnahme des gesamten Themas, die zu einer unbefriedigenden Verwobenheit von Indikatoren, die faktische Feststellungen und solchen, die politische Bewertungen beinhalten, geführt hat. Von dem angestrebten Informationssystem über den sozialen Wandel und daraus abzuleitenden Steuerungsmöglichkeiten ist offensichtlich bisher nichts tatsächlich realisiert oder realisierungsfähig, was als wirklich neue Dimension bezeichnet werden könnte.
Dennoch werden die weitergehenden Forschungsbemühungen sicherlich eine Reihe ergiebiger Impulse theoretischer und methodologischer Natur bringen. Greifbarstes Ergebnis dieser Befruchtung ist die durch die Sozialindikatoenbewegung stimulierte Strukturierung, Ergänzung und Bereinigung der Sozialstatistiken. So wurde etwa in Frankreich für die Planperiode 1970 bis 1975 ein mit 12 Millionen Franc dotiertes Programm initiiert, dessen drei Hauptstoßrichtungen (Sozialprofil der Bevölkerungskategorien, staatlicher Maßnahmenapparat, Sozialausgaben und tatsächlich von diesen Begünstigte) eine Fülle neuer Daten und damit Entscheidungshilfen verspricht. Mit Bestimmtheit kann also mit einer rationelleren, weil problembezogeneren Informationsproduktion und -verwertung gerechnet werden.
Die dominierende Frage bei weiteren Arbeiten muß sein, welches Maß an Messung noch sinnvoll, vertretbar und überhaupt wünschenswert ist und ob für die Erfassung und Bewältigung der komplexen gesellschaftlichen Prozesse und der qualitäts- und -wertbestimmten Aspekte des Lebens nicht auch alternative Denkansätze gesucht werden müssen. Wieviel auch immer in Zukunft in Zahlen ausgedrückt wird: Keiner darf sich davon erwarten, daß es wissenschaftlich gebotene Entscheidungen geben wird.
Nichts spricht aber gegen die Vorteile einer Verwendung des Denkmodells "Sozialindikator" gerade auch im "kleinen" Bereich von Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Als zusätzliches Werkzeug kann es die Ökonomielastigkeit der traditionellen Beurteilung bewirkter Resultate und Nebeneffekte überwinden helfen.
Die politischen Risiken einer Perversion der Sozialindikatoren zu Manipulationsinstrumenten sowie die Frage ihrer durch hohe Technizität problematischen demokratischen Legitimation darf keinesfalls übersehen werden. Schließlich ist wohl mit Grund zu befürchten, daß buchhalterisch über Zahlen gesteuerte, sozialrelevante Maßnahmen zu einer allzu platten Fortschreibung bestehender Zustände und damit zum Verlust der Utopie führen könnten.

 

 
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© Udo Schreyer 1975 & Christian Reder 1975/2001