Für eine Ziege sind derzeit gerade noch fünfzehn Patronen
zu bekommen, und die muß sich jeder nach mühsamen Fußmärschen
in einem der Waffenbasare in Pakistan beschaffen, wenn der
lokale Nachschub durch Überläufer und Überfälle nicht ausreicht.
Ein Taglöhner muß dafür einen Monat, für eine Kalaschnikow
fünf Jahre lang arbeiten. Von zehn Mujaheddins (wie inzwischen
alle Widerstandskämpfer genannt werden) haben nie mehr als
zwei oder drei eine automatische Waffe, der Rest kämpft mit
alten Jagdgewehren. Selbst an diesen lösen sich mehrere Männer
ab, weil sie zuwenig davon haben.
In den abgeschlossenen Agrargebieten der Hindukush-Täler,
von denen hier berichtet wird, gibt es jetzt überhaupt keine
Verdienstmöglichkalten mehr, die Landwirtschaft produziert
keinerlei Überschüsse. Handel, Transportwesen, staatliche
Verwaltung haben aufgehört zu existieren. Nur in Pakistan
drüben läßt sich als Gelegenheitsarbeiter, beim Straßenbau,
als Erntehelfer oder als Händler gelegentlich etwas verdienen,
aber kaum mehr als 20 Rupien pro Tag (etwa 25 öS).
Die keine Überlebensmöglichkeiten mehr sehen, die der ständigen
Bedrohung entgehen wollen, die flüchten. Annähernd 100.000
von ihnen registriert die UNO weiterhin jeden Monat, 1,5 Millionen
sind es inzwischen in Pakistan, etwa eine halbe Million im
Iran. Endstation ist eines der derzeit 102 halbwegs betreuten
riesigen Lager.
Auch ohne Krieg war jede Mißernte in Afghanistan eine Massenkatastrophe.
Jetzt sind unzählige Dörfer zerbombt, Felder verwüstet, ein
großer Teil des Viehbestandes ist gegen Waffen und Munition
eingetauscht, das derzeit wichtigste "Lebensmittel" wie die
Afghanen es nennen.
Wir haben nicht den üblichen kurzen Weg von Peshawar aus
genommen, auf dem für die Kriegsberichterstatter Besichtigungstouren
veranstaltet werden, sondern eine Route im Norden, in Luftlinie
nur 100km von der sowjetischen und 300km von der chinesischen
Grenze entfernt. Wir sind zwei Wochen zu Fuß durch Nuristan
marschiert, im Gebiet zwischen der Frontlinie beim sowjetisch
besetzten Flughafen Barikot und den Orten Gawardesh, Pitigal,
Saret, Mandagal, Kamdesh.
Im Tal des Landay-Sin-Flusses, wo die einzige Straße verläuft,
sind die Zeichen des Krieges überall zu sehen: zerstörte Dörfer,
zerbombte Brücken, ausgebrannte Schützenpanzerwagen, Straßensperren,
Verteidigungsstellungen aus geschichteten Steinen, Kampfgruppen
der Mujaheddin, eilig errichtete Gräber. Der alte Verwaltungssitz
und die Kaserne in Ormol ist nur mehr eine Ruine, umgeben
von ausgebrannten Panzerwagen.
Oben in Kamdesh liegt der einzige hier abgeschossene Hubschrauber.
Teile wurden demontiert und an den umliegenden Häusern befestigt,
wahrscheinlich um damit das Böse abzuwehren.
Trotz der bis zum äußersten angespannten Versorgungslage
und ihrer elenden Bewaffnung verteidigen die Nuristanis ihr
Gebiet (das annähernd so groß wie die Schweiz ist) jetzt bereits
seit zwei Jahren erfolgreich. Seit dem Frühjahr 1979 hat es
kein feindlicher Soldat mehr betreten können, nur dem Luftkrieg
sind sie weiter wehrlos ausgeliefert. Nuristan ist heute die
einzige Ostprovinz, die vollständig von den Mujaheddin kontrolliert
wird, und dadurch eine immer wichtigere, wenn auch sehr gebirgige
Verbindung mit Pakistan und der Außenwelt.
Den vereinzelt schon früher in Nuristan aufgetauchten Anhängern
und Funktionären der Demokratischen Volkspartei stand die
lokale Bevölkerung zwar immer schon mißtrauisch gegenüber;
sie wurden als dubiose Fremde und Klugscheißer eingestuft,
von denen eher nichts gutes zu erwarten war, oder einfach
als Sowjetagenten.
Mit den Bauern kam im ganzen Land keine Verständigung zustande,
und in Nuristan gibt es nur Bauern und dörfliche Handwerker.
Die Besitzunterschiede sind dort minimal, für das simple Enteignungs-
und Umverteilungsprogramm der Zentralregierung gab es kaum
Ansatzpunkte.
Nicht einmal die Ärmsten und Abhängigsten konnten durch
diesen Versuch einer "Revolution per Dekret" auf deren Seite
gezogen werden. Angriffe auf das dichte soziale Netzwerk der
Familien-, Dorf- und Stammesbeziehungen führten vielmehr zu
einer "mechanischen" gemeinsamen Abwehrreaktion.
Zu einer unmittelbaren Auseinandersetzung über konkrete
Reformvorhaben ist es in Nuristan gar nicht gekommen. Der
Widerstand wurde durch wahllose Verhaftungen ausgelöst.
Die Nuristanis sind erst seit der Jahrhundertwende von der
Zentralregierung unterworfen und wurden zwangsweise islamisiert.
Aus Kafiristan, dem Land der Ungläubigen, wurde damals Nuristan,
das Land des Lichtes. Vom Gebiet der mongolischen Hazaras
sind die Nuristanis praktisch nur durch die Straße über den
Salang-Paß getrennt, die sowjetische Hauptnachschublinie.
Im Herbst 1978 führte die Regierung eine großangelegte Strafaktion
durch, Armeeverbände, verstärkt durch Stammeskrieger der Guiur,
Muschwani und Kohistani, die als Söldner gekauft und durch
Beuteversprechungen aufgehetzt worden waren, drangen mit überlegenen
Kräften in Nuristan ein, zerstörten im Süden die meisten Dörfer
und verwüsteten das Land.
Die Mujaheddin blieben mit kleinen Verbänden in den umliegenden
Bergen, sammelten im Frühjahr alle Kräfte für einen Großangriff,
befreiten Kamdesh, zerstörten die Garnison in Ormol und trieben
die gegnerischen Truppen durch das enge Flußtal nach Süden
bis zum Flughafen Barikot. Dort verläuft noch heute die Frontlinie.
Gegen Eindringlings aus allen anderen Richtungen ist Ostnuristan
(Kamdesh) durch vier- bis siebentausend Meter hohe Gebirgszüge
verhältnismäßig gut geschützt.
Seit eineinhalb Jahren gibt es also, wie die Bevölkerung
selbst sagt, ein "befreites Nuristan", ein "staatenloses",
selbstverwaltetes Gebiet in der Größe der Schweiz - ohne Regierung,
ohne Verwaltungsapparat, ohne Steuern, ohne formelle Wehrpflicht,
ohne Polizei, ohne Gefängnisse. Jedes Dorf bildet eine eigene,
vollständig autonome Einheit.
Grundlegendes System der Entscheidungsfindung ist überall
die Djirga, die Ratsversammlung, an der alle erwachsenen Männer
teilnehmen können. In ihr wird immer versucht, eine generelle
Übereinstimmung zu erreichen. Wenn es die äußere Lage erlaubt,
wird solange diskutiert, "bis Gegenstimmen verstummen", ohne
daß abgestimmt und damit überstimmt wird. Die Meinungen besonders
angesehener Ratsmitglieder haben stillschweigend ein größeres
Gewicht.
Hierarchien gründen sich hier primär auf Prestige und nur
indirekt auf Besitz. Besitz wurde immer wieder vernichtet,
um dafür Ansehen zu gewinnen, zum Beispiel durch die Veranstaltung
eindrucksvoller Festmähler für Gäste und das ganze Dorf oder
durch die Beschaffung militärischer Ausrüstung.
Der bewaffnete Widerstand wird von Kampfgruppen getragen,
die aus zehn bis zwanzig Mann bestehen und meist weit weg
von ihren eigenen Dörfern im Einsatz sind. Es gibt keine festgefügten
Kommandostrukturen. Gemeinsame Aktionen erfolgen auf Grund
kurzfristiger Absprachen. Für Bewaffnung, Munition und Nahrungsmittel
sorgen die Mitglieder jeder Gruppe jeweils selbst.
In jüngster Zeit wurde damit begonnen, dafür eine Art Mujaheddin-Steuer
einzuheben. Einzelne Kommandanten haben inzwischen soviel
Ansehen erlangt, daß ihre Zuständigkeit für große Gebietsabschnitte
und die dort operierenden Gruppen anerkannt wird. Die Grenzen
solcher Einflußbereiche sind aber fließend und Koalitionsvereinbarungen
müssen immer wieder erneuert, durch bewiesene Führungsqualitäten
bestätigt werden.
Die bisherigen Hierarchien haben sich bereits verändert,
konnten aber verständlicherweise noch nicht durch entsprechend
stabile Gegenmodelle ersetzt werden. Ganz vereinzelt beginnen
zum Beispiel auch Frauen schon Waffen zu tragen. Sogar traditionell
verfeindete Nachbarstämme kämpfen immer wieder gemeinsam.
Selbst mit den Stämmen, die vor zwei Jahren zusammen mit den
Regierungstruppen in ihr Gebiet eingefallen waren, haben die
Nuristanis inzwischen Frieden geschlossen.
Die zahllosen Überläufer aus der afghanischen Armee werden
integriert, auch wenn sie keine Nuristanis sind, ebenso wie
gelegentlich versprengte Mitglieder der städtischen Intelligenz.
Der Informationsstand ist zweifellos bei vielen gestiegen:
durch das zwangsweise stärkere Interesse an Lageberichten
von Reisenden, durchziehenden Flüchtlingen und anderen Mujaheddin-Gruppen.
Große Bedeutung haben auch die Radionachrichten, insbesondere
jene der Kurzwellensender. Mohammed Osman, der Dorfälteste
des winzigen Ortes Pitigal, hat mit uns zum Beispiel lange
über die Situation in Zimbabwe und Nicaragua diskutiert und
darüber ziemlich gut Bescheid gewußt.
Der bisherige Widerstand ist zwar nur sehr schwer zu zerschlagen,
weil es keine Kommandozentren gibt; die Nachteile der dezentralen
Organisation werden aber für die Aufständischen immer fühlbarer.
Noch immer konzentrieren sie alle Kräfte auf den unmittelbaren
Kampf. Was im Hinterland passiert, ist Nebensache, ebenso
jede Bemühung um eine Sicherung der Versorgung, weil sie in
den Traditionen nicht verankert ist.
Nach einer brutalen Hierarchie bekommen von einer Mahlzeit
zuerst die Männer, dann die Söhne, dann die Frauen, schließlich
die Mädchen. Daher verhungert im Extremfall zuerst die ganze
Familie, bevor es den kampffähigen Mann trifft. Auch während
der Erntezeit hat es für uns tagelang immer nur Fladenbrot,
einige Brocken Käse und ungezuckerten Tee gegeben, was nach
den strengen Regeln der Gastfreundschaft eben das beste war,
was das jeweilige Dorf zu bieten hatte. Selbst in den unzerstörten
Dörfern kann gerade das allernötigste produziert werden, es
fehlt die Arbeitskraft der Männer, die hauptsächlich für die
Viehhaltung und den Tauschhandel zuständig sind. Der Importbedarf
an Zucker, Salz, Tee, Reis, Petroleum, Stoffen kann mangels
Überschüssen kaum mehr gedeckt werden, und wenn, dann nur
höchst beschwerlich in Pakistan. Die Hochgebirgspässe dorthin
sind sechs Monate im Jahr zugeschneit. Wo die Felder verbrannt
und die Bewässerungsanlagen zerstört sind, leben alle am Rand
der Hungersnot, die im Winter voll spürbar wird.
In dieser Situation versuchen die sowjetischen Strategen,
den Widerstandswillen durch Terror gegen die Zivilbevölkerung
zu brechen. Mit dem laufenden Ausbau der militärischen Kontrolle
von Städten und Hauptverkehrswegen sollen die ländlichen Widerstandsgebiete
voneinander isoliert und ihre Versorgung mit Lebensmitteln
aus lokalen Basaren verhindert werden. Wiederholte Flächenbombardements
unterstützen diese Taktik. Besonders brutal wird das alles
im Hazarajat durchgeführt, dem praktisch eingeschlossenen
Kerngebiet Zentralafghanistans.
Neu angelaufen ist in diesem Sommer eine großangelegte Verminungsaktion.
Es werden Hunderttausende handtellergroße Plastikminen aus
der Luft abgeworfen, deren Sprengkraft perfiderweise so dosiert
ist, daß sie nicht tötet, sondern dem Opfer in der Regel nur
den Fuß oder das Bein abreißt. Diese Minen sind grün, haben
die Form eines gewellten Blattes und sind dadurch im Unterholz,
in den Wiesen und Feldern nur schwer zu erkennen.
Vor allem an Paßübergängen, aber auch in Landwirtschaftsgebieten
haben wir solche dicht verminten Zonen durchqueren müssen.
Jetzt üben die Menschen größtmögliche Vorsicht und bringen
möglichst viele Minen mit Steinwürfen zur Explosion, treiben
sogar ihre letzten Herden durch verminte Gebiete. Weil die
bewaffneten Kämpfer kaum mehr als ein Prozent der Bevölkerung
ausmachen sind fast ausschließlich Zivilisten, Frauen und
Kinder die Opfer der Bomben und Minen.
Der Widerstand im Land wird zum größten Teil von politisch
nicht organisierten Gruppen getragen, die erst vereinzelt
Verbindung miteinander haben, aber praktisch keinerlei Auslandskontakte.
Das macht es den afghanischen Exilparteien leicht, Erfolge
des lokalen Widerstandes an ihre Fahnen zu heften, Meldungen
zu manipulieren oder schlicht zu erfinden.
Die Mehrheit der anreisenden Journalisten läßt sich von
den Pressebüros dieser Parteien betreuen, die Agenturen übernehmen
ungeprüft ihre Aussendungen, wirre Darstellungen vom Widerstand
finden weltweite Verbreitung. Immer wieder ist von Hunderten
abgeschossenen Panzern die Rede, von vielen Tausend Mujaheddin,
die Kabul belagern.
Die Karl-May-Version vom grimmigen Stammeskrieger, der sich
in Todesverachtung den Streitkräften einer Großmacht entgegenwirft,
bloßfüßig und mit einem Steinschloßgewehr, paßt in ein künstliches
Bild von der Dritten Welt, dem man noch gewisse Sympathien
abgewinnen kann. Sogar sonst unverstandene islam!sche Motivationen
werden zu etwas Positivem, weil sie diesmal gegen "die anderen"
gerichtet sind.
So ziemlich jeder Journalist, dem ich da unten begegnet
bin, muß "heiße" Kriegsberichte nach Hause schicken. Für differenziertere
Darstellungen fehlt in den Redaktionen das Interesse. Die
Manager der fast durchwegs erst im Ausland gegründeten größeren
Exilparteien haben diesen Mechanismus rasch begriffen. Je
mehr Echo sie in den Medien für sich, ihre Parteien und ihre
Milizen erreichen können, desto größer werden ihre Aussichten
auf politische und materielle Unterstützung. Was sie mit der
dann machen, ist eine zweite Sache.
Deshalb gibt es auch die organisierten Touren "hinüber"
und die eifersüchtige Abschirmung jedes Ausländers von den
unabhängigen Gruppen. Da die Mujaheddin grundsätzlich bei
Nacht angreifen, läßt sich leicht einsehen, daß so ziemlich
alle Flime und Fotos von Kampfhandlungen gestellt sind oder
die Ereignisse eigens inszeniert wurden. Für potentere Fernsehstationen
werden exklusiv Tagesangriffe veranstaltet, die chancenlos
sind und bei denen es immer wieder Tote gibt. Beispielsweise
starben für den Film einer amerikanischen TV-Gesellschaft
in diesem Sommer sechzehn Widerständekämpfer.
Auf der Gegenseite verbreitet TASS weiterhin Bilder lachender
Afghanenkinder auf den Knien von Sowjetsoldaten.
Daß der Widerstand der Bevölkerung und der lokalen Kampfgruppen
zum größten Teil eine Art "Dritte Kraft" ist, geht in der
üblichen Berichterstattung unter, weil das in keine InteressensIage
paßt. Der Kampf richtet sich natürlich vor allem gegen die
Sowjetintervention und gegen das Kabul-Regime, politisch immer
vehementer auch gegen die Monopolansprüche der islamisch orientierten
Exilparteien.
In Nuristan etwa entwickelte sich der Widerstand sehr rasch
annähernd zu einem Volkskrieg, in dem Parteiauffassungen keine
Rolle spielen. Nuristan ist ein Gebiet, in dem keine feindlichen
Truppen stehen und das sich als von Pakistan relativ ungefährdet
erreichbarer Stützpunkt anbieten würde. Daß es trotzdem für
diese Provinz bisher keinerlei Auslandshilfe gegeben hat,
davon konnten wir uns während unseres Aufenthaltes recht glaubhaft
überzeugen. Die miserable, völlig uneinheitliche Bewaffnung
und der Mangel an so ziemlich allem waren dafür einprägsame
Beweise. Die Waffenlieferungen, die es bisher gegeben hat,
gingen nach einhelliger Aussage nur an die Exilparteien. Sie
sollen von geringem Umfang sein und aus islamischen Ländern
kommen. Insbesondere Ägypten wird genannt, inwieweit die USA
dahinter stehen, wußte von unseren Informanten niemand.
Von ganz verschiedenen Seiten wird aber nachdrücklich behauptet,
daß Pakistan einen Teil der Waffenlieferungen zurückhält.
Die Milizen der Exilparteien sind inzwischen die einzigen
halbwegs ausgerüsteten Kampfgruppen. Sie verfügen über Granatwerfer
und panzerbrechende Waffen, operieren aber nur in grenznahen
Provinzen. In einigen dieser Gebiete kommt es auch zu einer
Zusammenarbeit mit den lokalen Widerstandsgruppen. Allerdings
sind die Parteimilizen ungeliebte Verbündete, weil ihre Führung
einer undurchsichtigen Interessenpolitik und der Geschäftemacherei
beschuldigt wird.
Vage Hoffnungen auf eine dritte Lösung zwischen einem Regime
im Sinne Moskaus und einer islamisch verbrämten Rückkehr zu
den Zuständen vor 1978 sind heute so etwas wie eine unterschwellig
verbindende Kraft. Die eine Seite versucht, den Islam als
Disziplinierungsmechanismus einzusetzen, genauso wie auf der
Gegenseite im Namen der Linientreue Konkurrenten oder Kritik
ausgeschaltet werden. Als Ungläubiger oder Abtrünniger gilt
für die orthodoxen Extremisten im Exil jeder, der sich außerhalb
einer religiösen Gelehrsamkeit politische Gedanken macht.
Rund um Peshawar geschahen in letzter Zeit Dutzende politische
Morde.
Es gibt Spekulationen, daß der KGB die Orthodoxen unterstützt,
weil ihre Strategie ja durchaus in sein Konzept der Polarisierung
passen würde. Besonders die Intelligenz ist von beiden Seiten
in hohem Maß durch brutalen Terror betroffen, der oft die
Züge einer Ausrottungspoiitik trägt.
Schon ein Demokratie-Vokabular schafft in der offiziellen
Exilszerie Verdachtsmomente. Sozialistische Begriffe stehen
für die meisten Afghanen auf Jahre hinaus auf dem Index, weil
sie von Kabul und der Sowjetpropaganda in Besitz genommen
worden sind.
Der Islam wirkt in Afghanistan als ein übergreifender Integrationsfaktor
dadurch, daß er die gesamte Lebensweise prägt, nicht so sehr
als politisch nutzbare Ideologie. Eine Khomeini-artige Bewegung
zeichnet sich bisher nicht ab. Dafür fehlt im überwiegend
sunnitischen Afghanistan auch eine religiöse Infrastruktur,
die dem schiitischen Klerus im Iran vergleichbar wäre. Hier
hatten die Mullahs nie einen allzustarken politischen und
meinungsbildenden Einfluß.
Der Widerstand wird zwar im Zeichen des Islam geführt und
generell als Djihad, als "Heiliger Krieg" bezeichnet. Auch
nennen sich die Dorf-Djirgas durchwegs "lslamisches Reutionskomitee",
und jedes Schriftstück ist "Im Namen Allahs" abgefaßt. Das
alles sind aber Zeichen eines Strebens nach Identität, kultureller
Selbstfindung und antikolonialist!scher Haltung, und nicht
so sehr religiöse Kampfparolen. Die im täglichen Leben erkennbare
Religiosität hat erstaunlich wenig bigotte oder fanatische
Züge.
Oft wurde ich erst nach stundenlangen Gesprächen vorsichtig
gefragt, ob mein Land zum Ostblock gehöre, ob wir sozialistisch
regiert würden, ohne daß diese Befürchtung die Gastfreundschaft
im geringsten beeinträchtigt hätte.
Nach unseren Maßstäben sind die geäußerten politischen Absichten
eher undeutliche, naive Hoffnungen. Prägnant ist man nur in
dem, was abgelehnt wird: bekämpft werden die Russen, bekämpft
wird ihr Regime in Kabul. Die Exilparteien werden als Keil
in der Widerstandsfront empfunden. Ihre Alleinvertretungsansprüche
finden in Afghanistan selbst bisher recht wenig Unterstützung.
Die lokalen Widerstandsgruppen verstehen sich als geschlossene
Nationale Befreiungsbewegung, auch ohne gemeinsame übergeordnete
Organisation. Traditionelle Feindseligkeiten zwischen einzelnen
von den insgesamt etwa zwanzig ethnischen Gruppen wurden bereits
in bemerkenswertem Umfang abgebaut. Für separatistische Bestrebungen
haben wir keine Anhaltspunkte gefunden.
Die Sicherung ethnischer und regionaler Autonomierechte
hat in allen Zukunftsüberlegungen einen hohen Stellenwert.
Die Vorherrschaft der Pashtunen ist unter dem derzeit herrschenden
Druck kein vorrangiges Problem. Ihr soll mit einer stark föderalistischen
Staatsstruktur begegnet werden.
Für politische Parteien, die es in Afghanistan bisher immer
nur ansatzweise oder im Untergrund gegeben hat, fehlt das
Verständnis. Die Bestrebungen im Land selbst tendieren zu
einer Konsolidierung des jetzt zersplitterten Widerstandes
und zur schrittweisen Herausbildung von politischen Flügeln
innerhalb der Befreiungsbewegung. Aus ihnen könnten später
Parteien entstehen.
Im Frühjahr wurden große Hoffnungen in die Loya Djirga gesetzt,
die große afghanische Bundesversammlung mit gewählten bzw.
delegierten Vertretern allen Regionen. Sie tagte mehrere Wochen
lang in Peshawar (Pakistan) und richtete dort auch ein ständiges
Büro ein. Versammlung und Büro sollten die Plattform werden
für eine Koordinierurig des Widerstandes und eine Unterordnung
der Parteiinteressen erreichen.
Die Loya Djirga ist seit der Gründung Afghanistans im Jahr
1747 immer nur zu äußerst wichtigen Anlässen zusammengetreten.
Daß sie jetzt wieder zustandekam, wurde als wichtiges Anzeichen
für ein Zurückstellen partikularer Interessen angesichts der
Bedrohung des Landes gewertet. Das Gremium ist aber ziemlich
schnell dem professionellen politischen Spiel der Exilparteien
erlegen. Die hatten kein Interesse, ihre Strategie und ihren
Umgang mit Hilfsgeldern und politischen Verbindungen zu deklarieren
und einer gemeinschaftlichen Kontrolle zu unterstellen, Einer
der einflußreicheren Parteiführer, Gilani hat sich mittels
eines cleveren Überrumpelungsmanövers zum Vorsitzenden der
Loya Djirga wählen lassen. Dadurch ist sie zu einem Werkzeug
bestimmter Exilparteien geworden, und das Vertrauen in ihre
Möglichkeiten ist rapide geschwunden. Gilani selbst, ein reicher
Aristokrat, früher Peugeot-Importeur in Kabul, gibt sich sehr
westlich, hat bereits feudale Büros in London und Peshawar,
stützt sich aber auch auf das religiöse Ansehen, das seine
Familie ostentativ in Anspruch nimmt. In einem persönlichen
Gespräch mit ihm sind keinerlei greifbare politische Ideen
zutage getreten. Gegen ein Foto hat er sich lange gesträubt,
weil er nicht beim Friseur war. Sein fetter Sohn läßt sich
von Verehrern die Hände küssen.
Von den Exilparteien (nach unser Zählung dreiundzwanzig)
haben sich bis jetzt erst die sechs in der "lslamischen Allianz
zur Befreiung Afghanistans" zusammenarbeitenden "konservativen"
Parteien etabliert. Über sie laufen die internationalen Kontakte,
sie versuchen die Flüchtlinge und die Flüchtlingshilfe zu
kontrollieren, ihnen gelingt es, den größten Teil internationaler
Hilfsgelder für den Aufbau ihrer Organisationen zu verwenden.
Von den sechs Parteien der Allianz sind vier strikt islamisch
orientiert, zwei vergleichsweise "liberal". Die vielen kleineren
Parteien und parteiähnlichen Gruppen, die außerhalb der "lslamischen
Allianz" bestehen, operieren oft nur halboffiziell oder im
Untergrund. Sie könnten überwiegend links von den "Liberalen"
unter den Sechs eingeordnet werden. Das Spektrum reicht von
der sich als sozialdemokratisch verstehenden pashtunischen
"Afghan Meltat" in New Delhi bis zu maoistischen Kleingruppen.
Etliche von ihnen sind an der Organisation des Widerstandes
in Afghanistan selbst beteiligt. Viele tarnen sich als normale
Mujaheddin-Gruppen, ohne sich parteipolitisch zu deklarieren,
um so langsam einen Rückhalt zu gewinnen.
Bisher wurden jedenfalls wie üblich die Falschen hochgespielt,
jene, die das Spiel internationaler Beziehungen schon etwas
beherrschen und in die oberflächlichen Orientbilder seit dem
Khomeini-Phänomen zu passen scheinen. Die Wurzeln von Khomeinis
Erfolg gehen aber bis auf Mossadegh zurück, auf die jahrzehntelang
von allen Seiten im Stich gelassene Opposition gegen den Schah,
die jetzt ihrerseits von einer sogenannten Revolution gefressen
wird.
Der Widerstand in Afghanistan ist in Wahrheit noch immer
sehr isoliert. Nach dem vorläufigen Scheitern aller Versuche,
in Peshawar eine hinreichend akzeptierte Plattform afghanischer
Interessen zu schaffen, sind die unabhängigen Mujaheddin-Gruppen
immerhin seit dem Sommer intensiv dabei, sich eine eigene
überregionale Organisation aufzubauen. Die Nuristanis und
die Hazara, im Widerstand von Anfang an maßgeblich, operieren
intern bereits weitgehend koordiniert. Damit soll ein geschlossenes
Widerstandgebiet von Zentralafghanistan bis zur Ostgrenze
geschaffen werden, das sich im Hochgebirge sehr lange halten
könnte.
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