Den zweiten Jahrestag der sowjetischen Intervention am 27.
Dezember werden die Schwestern Fahima und Jamila als Flüchtlinge
in Wien verbringen, ohne konkrete Hoffnungen auf eine Änderung
der Situation in ihrem Land, in Sorge um ihre Angehörigen,
aber wenigstens mit einigermaßen gesicherten persönlichen
Zukunftsaussichten. Die Technische Universität hat sie erfreulicherweise
bereits zugelassen und sie können dort nach bestandener Deutschprüfung
ihre begonnenen Studien fortsetzen (Elektrotechnik, Architektur).
Nur Stipendien wären noch notwendig, um ihre Abhängigkeit
von vereinzelten privaten Spenden aufzuheben.
Den schweren Entschluß, nach Pakistan zu flüchten, wo keineswegs
irgendeine gesicherte Freiheit wartet, haben mit ihnen inzwischen
weit über zwei Millionen Afghanen getroffen (15 % der Gesamtbevölkerung).
Dort sind die beiden Mädchen mit dem österreichischen Hilfskomitee
in Kontakt gekommen, für das sie ein Jahr lang als medizinische
Hilfskräfte in den Lagern gearbeitet haben, bevor wir für
sie Visa nach Österreich vermitteln konnten und damit wenigstens
gewisse eigenständige Entwicklungsmöglichkeit.
Wie bei tausenden anderen überzeugt demokratischen, vielfach
zu revolutionären Veränderungen bereiten Angehörigen der Intelligenz,
hat auch bei ihnen der blutige Terror rasch wechselnder Regime
die Motivationen zu einer konstruktiven Beteiligung an der
Regierungspolitik restlos zerstört. Zuerst waren in Daud gewisse
Hoffnungen gesetzt worden (Ausrufung der Republik 1973), dann
verstärkt in Taraki ("April-Revolution" 1978). Das rasche
Scheitern seiner "Revolution per Dekret" schlug in die Schreckensherrschaft
von Amin um und dann kam die Sowjet-Armee. Während der folgenden
Unruhen und Protestdemonstrationen wurden auch Fahima und
Jamila verhaftet.
Die damals achtzehnjährige Jamila war über einen Monat im
berüchtigten Pul-i-charchi-Gefängnis, einer Art Konzentrationslager
im Norden Kabuls. Was sie dort selbst mitmachen und mitansehen
mußte, das deutet sie manchmal an, genauere Schilderungen
wollten wir ihr bisher ersparen, weil uns die Zustände dort
aus vielen anderen Aussagen vor Augen stehen. Aber auch nachdem
sie freikamen, blieb es bei einer ständigen Bedrohung. Jede
Äußerung, jeder Kontakt mit regimekritischen Personen, jede
Denunziation konnte zu einer neuerlichen Verhaftung mit ungewissem
Ausgang führen. Laufend verschwanden Freunde und Verwandte.
Weder im Stillhalten und Abfinden, noch im isolierten Aufbegehren
lag noch eine Chance.
Die große Masse der Flüchtlinge sind aber arme Bauern, die
ihre Dörfer verlassen mußten,weil sie dort keine Existenzmöglichkeit
mehr haben. Zahllose Häuser sind zerbombt, weite Flächen aus
der Luft vermint, die Bewässerungsanlagen unbrauchbar. In
den Kampfgebieten können die Felder nicht mehr bestellt werden.
Die Männer entziehen sich so gut es geht drohenden Verhaftungen
oder dem verhaßten Militärdienst, Familien, die nicht mehr
weiter wissen, schlagen sich über die Grenze durch.
Dort erwartet die Flüchtlinge ein elendes Dasein in einem
der zweihundert riesigen Lager, die notdürftig von der UNO,
der pakistanischen Verwaltung und einzelnen Hilfsorganisationen
versorgt werden.
Die ursprüngliche Hoffnung vieler, daß sich im Exil die komplizierten
gegensätzlichen Interessenslagen in einer nationalen Befreiungsfront
gegen die Fremdherrschaft zusammenfassen ließen, sie hat sich
bisher nicht erfüllt. Die sechs finanzstarken Exilparteien
sind in ihre eigenen Machtspiele verstrickt, ohne politische
Alternativen zu bieten, die wirklich eine breite Unterstützung
finden. Sie sind stark von ihren Führerfiguren geprägt und
nur undeutlich von einander zu unterscheiden. Einem "rechten"
Flügel der "Islamischen Allianz", in der sie sich nominell
zusammengeschlossen haben, sind die Parteien von Gulbuddin
Hekmatyar, Khales, und Rabbani zuzurechnen. Als "liberaler"
verstehen sich jene von Gailani, Mohammedi und Mujadidi. Alle
unterhalten bereits aufwendige Auslandsbüros, haben eine routinierte
Organisation für die Pressebetreuung und damit ein weit höheres
internationales Gewicht, als ihnen aufgrund ihrer Aussagen
und Anhängerschaft zukommen dürfte. Die Vertreter potenter
Medien (vom Time-Magazine bis zum Spiegel) lassen sich von
ihnen Ausflüge ins grenznahe Kampfgebiet organisieren und
verbreiten dann in der Regel in ihrem Sinn gefilterte Informationen.
Daß die Hauptlast des Widerstandskampfes regionale, unabhängige
Gruppen tragen, die ihre Dörfer und Gebiete verteidigen und
eine verhaßte Macht bekämpfen, sowie von der Existenz verschiedenster
politischer Gruppierungen, die sich um den Aufbau längerfristig
tragfähiger Konzepte und Strukturen bemühen, davon ist dann
bestenfalls ganz am Rande die Rede.
Im eingespielten Prozeß internationaler Berichterstattung
und Kontaktaufnahmen gehen die noch nicht etablierten Organisationen
unter. Es hat den Anschein, als ob man sich allgemein damit
abgefunden hätte, daß am afghanischen Status Quo nichts zu
ändern ist. Die islamischen Honoratiorenparteien und ihre
relativ gut ausgerüsteten, aber zahlenmäßig unbedeutenden
Kampfgruppen erhalten zwar nicht unbeträchtliche ausländische
Mittel, aber eher in Form von Abfallprodukten internationaler
Politik, als im Sinne eines erkennbaren Zweckes. Es werden,
wie sooft, die Falschen gwfördert, vielleicht weil kalkulierbare
Partner immer noch besser dazu passen, als solche, die schon
in einer Aufbauphase eine uneigennützige Förderung brauchen
würden.
Die über zwanzig kleineren, zwischen Kabul und dem Islamkurs
stehenden Parteien schaffen es bisher erst vereinzelt und
ansatzweise, zu konkreten Auslandskontakten zu kommen. Genausowenig
wie die, sich im Lande selbst gebietsweise formierenden Widerstandsorganisationen
verfügen sie noch nicht über hinreichend anerkannte Repräsentanten,
die sich im Ringen um Auslandshilfe und politische Unterstützung
durchsetzen könnten.
Demokratische Bestrebungen werden sehr rasch als maoistisches
oder sonst wie irregeleitetes Sektierertum verteufelt. Dies
fällt umso leichter, seit das Regime in Kabul das linke Vokabular
für sich gepachtet hat und es daher schwierig ist, sich über
weiterhin notwendige gesellschaftliche Veränderungen zu verständigen,
ohne eines Rückfalls in die verfemten - und quasi verbotenen
- Phrasen von Taraki, Amin und Karmal bezichtigt z u werden.
Mit zunehmendem Bewußtsein, daß auf eine gewisse Sympathie
von Teilen der Weltöffentlichkeit keine politisch wirksamen
Aktionen folgen, verstärken sich Rückzugstendenzen. Nicht
mehr die Exilszene, sondern der einsame, regional organisierte
Widerstand wird zum Zentrum der Aktivitäten. Die kampffähigen
Männer gehen immer wieder zurück nach Afghanistan und lösen
sich dort an den verfügbaren Waffen ab. Verschiedene der im
Ausland ohne Echo gebliebenen politischen Gruppen versuchen,
die Landbevölkerung in ihrem Sinn zu beeinflussen. Viele der
als "befreit" geltenden Gebiete haben defacto eigene Regierungen
gebildet, wie etwa jene von Hazarajat, Panjsher oder Nuristan.
Basis ist das traditionelle Ratsversammlungssystem (Djirga),
das sich bereits von den Feudalstrukturen abgelöst hat und
zu neuen - demokratisch geprägten - Formen führt. Sie wissen,
dass sie sich im Gebirge infolge ihrer Ortskenntnis und Genügsamkeit
sehr lange halten können und das ist vorerst ihre konkrete
Hoffnung.
In dieser tragischen Situation hat sich die Österreichische
Hilfsaktion darauf konzentriert, nicht einfach irgendwelche
Waren abzuliefern sondern eine wirkungsvolle Kleinorganisation
zu schaffen, die in einer Region - mit zwei großen Lagern
und 5o.ooo Flüchtlingen - einen Gesundheits-und Sozialdienst
aufgebaut hat, der auch längerfristig eine positive Funktion
erfüllen soll. Es wurde bewußt nicht mit den Stärken von Großorganisationen
wie der UNO konkurriert, die Massenprobleme angehen (Zelte,
Decken, Standardnahrung, Wasserversorgung, Seuchenbekämpfung),sondern
versucht, eigene Qualitäten einzusetzen. Unsere Mitarbeiter
sind fast durchwegs selbst afghanische Flüchtlinge, die Sprache,
Bedürfnisse und soziale Verhältnisse kennen. Auch der Leiter
des Programms, Nassim Jawad, der sonst in Wien lebt, ist ein
Afghane. Die Konzeption und Organisation wurden gemeinsam
entwickelt, die Finanzgebarung und Mittelverwendung unterliegen
einer rigorosen Kontrolle. So besteht inzwischen seit eineinhalb
Jahren eine wirkungsvolle afghanische Selbsthilfeorganisation,
die von uns finanziert, beraten und beaufsichtigt wird.
Indem es gelungen ist, praktisch die gesamte aus Österreich
kommende Hilfe in einem konzentrierten Programm zusammenzufassen
und qualifizierte ehrenamtliche Mitarbeiter zu finden, kommen
nachweisbar über 90 % der Mittel direkt den Flüchtlingen zugute
(der Rest ist unvermeidlicher Reise- und Verwaltungsaufwand).
Es sind drei mobile Ärzteteams mit knapp zwanzig Beschäftigten
im Einsatz, eines davon unter weiblicher Leitung speziell
für Frauen und Mädchen. Durch das Vertrauen, das wir uns in
monatelanger Arbeit erwerben konnten, gelang eine schrittweise
Programmausweitung, die von Vorsorgemaßnahmen (Initiativen
zur Wasserversorgung, Hygieneunterricht, Ausgabe von Zusatznahrung)
über den ständigen täglichen Ambulanzbetrieb, ein spezielles
Mutter-Kind-Programm, eigene Laboranalysen, die Versorgung
von Schwerkranken in Spitälern bis zum Aufbau von Lagerschulen
und Handwerks-Kooperativen reicht.
Zur Finanzierung haben viele tausend Spender, die Bundesregierung,
die Caritas und der "Solidaritätsfonds für die Kinder der
Dritten Welt', die Volkshilfe (mit ihren "Österreich-Paketen")
und verschiedenste Firmen mit Medikamenten- und Sachspenden
beigetragen. Die derzeit verfügbaren Mittel reichen nur mehr
für zwei Monate, es liegen aber Angebote englischer, norwegischer
und schweizer Organisationen vor, unser Programm weiterzufinanzieren,
weil es verschiedenste Delegationen und Berichte als besonders
wirkungsvoll bezeichnet haben. Wenn eine solche multinationale
Ausweitung einer österreichischen Initiative gelingt (um die
dafür notwendige Überbrückungsfinanzierung sind wir derzeit
bemüht), dann könnte sie durchaus zu einem Modellfall dafür
werden, wie an den Schnittstellen von Katastrophen- und Entwicklungshilfe
auch mit vergleichsweise geringen Mitteln sinnvoll eingegriffen
werden kann. Indem wir nicht einfach kommen und gehen wollten,
sondern eine im Kern afghanische Organisation aufgebaut und
vom Einfluß fragwürdiger Exilparteien abgeschirmt haben, ist
es uns vielleicht auch gelungen, gerade jenen Kräften Mut
zu machen, die zwischen der ferngesteuerten Militärdiktatur
Kabuls und den islamisch verbrämten Machtinteressen der etablierten
Exilparteien nach Möglichkeiten suchen.
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