Am 20. Juli verIieß ich die Grenzstadt Peshawar in Pakistan.
Unter dem Schutz einer Gruppe voll Mujahedin wollte ich zu
Fuß Kabul erreichen, um nach vielen Jahren meine Geburtsstadt
wiederzusehen und zugleich selbst die derzeitige Situation
im Land zu erleben. Auf dem ersten Paß erinnerte nur eine
verfallene Militärstation daran, daß wir die Grenze überschritten.
In Djadji, dem ersten afghanischen Dorf, war bis 1977/78 ein
großangelegtes Entwicklungshilfeprojekt der Bundesrepublik
betrieben werden, das dem Ausbau der Land-, Forst- und Holzwirtschaft
dienen sollte. Jetzt sind fast alle der damals errichteten
Gebäude nur mehr Ruinen, vereinzelt haben sich deutsche Aufschriften
wie "Waschraum", "Magazin" oder "Büro" erhalten. Die Leute
im Dorf sagen, sowjetische Bomben hätten alles zerstört, im
Radio werde dagegen behauptet, die Mujahedin seien es gewesen,
aber das würde dort immer gesagt. In dieser Gegend liegt ein
einziger Militärposten - in der Nähe von Sharif-kalei (kalei
heißt Dorf) - der aber keine echte Bedrohung bedeutete. Es
ging in beschwerlichen Märschen weiter über eine Reihe hoher
Pässe, und manchmal konnte ich mit den zehn ich begleitenden
Mujahedin nicht mehr Schritt halten. Dann brachte mich unser
Packpferd, auf dem wir einige Hilfsgüter und Medikamente transportierten
nach oben. Am dritten Tag waren wir endlich an unserem ersten
Ziel, dem Dorf Malang, nur mehr etwa 15 km von Kabul entfernt.
Dort hörten wir, daß ein Vortag in Anwesenheit von Lausenden
Einwohnern der Gegend und vieler Mujahedin drei Agenten exekutiert
worden waren. Etwa 300 Mujahedin waren in mehreren Gruppen
aus dem Norden, hauptsächlich aus Kundus und Balch, in den
Süden unterwegs gewesen. Einmal wurden sie völlig überraschend
in der Nacht auf dem Sarobi-Paß angegriffen und ein zweitesmal
in Chakari durch Bombenflugzeuge. Es tauchte der Verdacht
auf, daß ihre Route verraten wäre, alle wurden genau durchsucht
und man fand bei drei Leuten Funkgeräte und insgesamt 500.000
Afghani (etwa 100.000 Schilling). Nach dreitägiger Verhandlung
gab es Geständnisse, nach denen sie von der Regierung beauftragt
waren, sich in diese Gruppe einzuschleichen, sie Angriffen
auszuliefern und möglichst auch ihre Anführer zu töten.
Malang liegt in einem langgestreckten talartigen Gebiet.
Auf beiden Seiten der kleinen Dörfer erheben ich Bergabhänge
mit niedrigen Höhlen. Die sind bereits zu Zeiten der Briten
von der Bevölkerung ausgebaut und erweitert worden, so daß
sie oft mehrere Räume haben. Sie sind jetzt wichtige Stützpunkte
der Mujahedin. Im Tal unten bebaut die übrige Bevölkerung
die Felder, es zählt zu den vielen "befreiten Gebieten", die
praktisch vollständig vom Widerstand kontrolliert werden.
Von den Höhlen und Bergkämmen aus werden die wichtigen Verbindungswege
rund um die Hauptstadt überwacht und nächtliche Angriffe auf
sie unternommen. Praktisch jeder einzelne Kämpfer hat eine
Kalaschnikow und alle der dortigen 15 Gruppen haben auch noch
etliche "Daschkas", das sind schwere Maschinengewehre, und
sogar einige Lenkraketen. Diese Waffen stammen hauptsächlich
von Überläufern und von Überfällen auf Depots und Transporte.
Viele Leute haben davon gehört, daß auch aus bzw. über Ägypten
oder Saudi Arabien Lieferungen gekommen sein sollen, sie sprechen
aber auch davon, daß vieles in Pakistan hängen bleiben dürfte
und daß vom Ausland her kaum Nachschub kommt. Gesehen habe
ich auf der ganzen Reise jedenfalls nur russische Waffen.
Weiter weg von den Städten erfolgen hauptsächlich Luftangriffe
und wir haben auch auf dem ganzen Weg bis Malang viele Bombeneinschläge,
Splitter, tote Pferde und Kamele gesehen. Die wichtigen Verbindungswege
werden offenbar oft angegriffen, die Leute sagen aber, daß
viele Abwürfe sehr ziellos erfolgen, weil die Flugzeuge wegen
des MG-Feuers von den Berghöhen nur selten tief herunter gehen.
Deshalb gibt es auch nicht allzuviele Verletzte der Tote.
Die Mujahedin-Gruppe, zu der wir in Malang gestoßen waren
umfaßte etwa 50 Männer, ihr Anführer ist Fazul Rahman. Er
war früher ein Stadtguerillakommandant in Kabul, da aber er
uns seine Familie dann auf Regierungsseite zu bekannt geworden
waren, flüchtete er in die umliegenden Berge und führt voll
dort aus nächtliche Aktionen in Kabul durch. Bei seiner Gruppe
befand sich auch ein Arzt, ein Krankenpfleger und ein medizinischer
Assistent, von denen eine Bevölkerung von etwa 10.000 Menschen
betreut wird. Es kommen manchmal auch Patienten aus der Nachbarprovinz
Logar zur Behandlung, aber dafür müssen sie eine hohe Bergkette
überschreiten.
Auf unserem bisherigen Weg waren wir nur an einer einzigen
weiteren ärztlichen Station vorbeigekommen, die ebenfalls
in einer versteckten Höhle untergebracht war. Der afghanische
Arzt dort bekam manchmal eine minimale Unterstützung aus dem
Ausland, hatte aber in vielen Fällen kein Chance, den Verletzten
und Kranken wirklich zu helfen. Ein weiterer Arzt. von dem
wir hörten, war bei einem Luftangriff ums Leben gekommen.
Die wenigen inzwischen bestehenden Ärztestationen werden offensichtlich
häufig gezielt aus der Luft angegriffen, damit sogar dieses
Minimum an Versorgung unterbunden wird.
Nach zwei Tagen Rast in Malang brach eine Mujahedin-Gruppe
nach Kabul auf und ich schloß mich ihr an, um eine Chance
zu ergreifen, unerkannt in die Stadt hineinzukommen. Ich wollte
natürlich auch von ihr wieder einen Eindruck bekommen, wichtiger
noch war aber die Hoffnung, dort vielleicht meine Mutter nach
vielen Jahren wiedersehen zu können. Für den Fußmarsch in
die Stadt braucht man etwa sechs Stunden. Wir haben uns um
Mitternacht auf den Weg gemacht und mußten bis zum Tageslicht
ein steppenartiges Gebiet, das keinerlei Schutz bietet, hinter
uns haben. Denn ab sieben Uhr früh kommen fast immer die Hubschrauber
aus der Stadt und queren diese Gegend auf der Suche nach in
irgendeiner Weise verdächtigen Zielen. Gegen sechs Uhr früh
waren wir bereits fast am Ende der Ebene. Plötzlich tauchten
vor uns vier Hubschrauber auf. Wir waren zwölf, darunter auch
zwei Frauen, die ganz normal in die Stadt gehen wollten. Rundum
konnte nichts einen Schutz bieten, es gab nur kleine Büsche,
zwischen denen wir uns versteckt haben. Der Kommandant hat
uns noch angewiesen, alles was aufblinken oder spiegeln könnte
zuzudecken und ganz ruhig dazuliegen. Nach vielleicht fünf
Minuten waren sie über uns und jeden Augenblick glaubte ich,
sie würden tiefer gehen und schießen. Beschreiben kann ich
das nicht, was ich damals gefühlt habe. Aber sie flogen über
uns hinweg. Als wir gerade dabei waren, langsam wieder aufzustehen,
machten sie je doch kehrt und kamen erneut auf uns zu. Alle
warfen sich zu Boden, aber sie donnerten wieder über uns hinweg
und verschwanden schließlich ganz in der Ferne. Jeder von
uns war fast in Panik geraten, selbst die Mujahedin, die das
alles ja schon lange mitmachen. Wir erreichten schließlich
das Dorf Musaji und dann Charasjab, ein äußeren Stadtrand
von Kabul.
Dort waren nirgends Truppen zu sehen, alles war von Mujahedin
kontrolliert. Rundum ist eine sehr fruchtbare Gegend, die
Bauern arbeiteten auf den Feldern, es war ja Erntezeit, und
überall waren schon Weizenhaufen aufgeschichtet. Den Nachmittag
haben wir im Dorf verbracht und dann jemanden in die Stadt
geschickt, der meine Mutter benachrichtigen und sich erkundigen
sollte, wie die Lage um ihr Haus sei und ob ich dorthin gelangen
könnte. Außerdem sollte er einige Informationen für die mich
begleitenden Mujahedin herausbringen. Der Mann, der diese
Aufgabe übernahm, war im Besitz aller notwendigen Dokumente,
also des Personalausweises und des Militärzertifikates und
einiger anderer Papiere. Es war also ziemlich gefahrlos für
ihn. Er sollte am nächstenTag zurück sein. Wir übernachteten
im Haus jenes Kommandanten, der in Musaji praktisch die Führungsrolle
innehat, In aller Früh wurden wir benachrichtigt, daß heute
wahrscheinlich Truppen kommen würden, um Hausdurchsuchungen
zu machen. Es war klar, daß wir sofort das Dorf verlassen
mußten. In solchen Fällen ziehen sich die bewaffneten Männer
immer gleich zurück. Oft haben wir gehört, daß die Regierungs-
und Sowjetsoldaten, wenn sie nichts finden, wütend über Frauen,
Kinder und alte Leute herfallen.
Nach sechs Stunden Eilmarsch kamen wir nach Sangesafed in
der Provinz Logar, gingen aber noch weiter bis Pulekandahari,
denn erst dort waren wir sicher, daß die Truppen nicht so
weit kommen würden. Am Abend kehrten wir nach Musaji zurück,
wurden aber erneut um zwei Uhr früh geweckt und es hieß, daß
wieder Truppen kommen würden, da seit kurzem Helikopter über
Kabul kreisten. Ich war vom Vortag noch völlig erschöpft,
aber die ganze Gruppe zog mich mit beim Aufstieg auf den nahen
Bergkamm. Als es hell wurde, konnte ich mir nicht mehr vorstellen,
wie ich das noch geschafft hatte. Wir erfuhren dann, daß sich
die Flugzeug auf den Schutz der in Kabul von Mujahedin angegriffenen
Militärposten konzentrierten. Die ganze Nacht waren Schießereien
und Explosionen zu hören gewesen. Die Militärposten in Jachdara
(im Stadtteil Schewaki) sind heftig attakiert worden. Zwei
Panzer und ein Hubschrauber wurden angeschossen. Ein Mujahed
wurde getötet, zwei verletzt. Sie wurden am nächsten Tag ins
Dorf herein getragen. Um etwa 10 Uhr vormittags konnten wir
vom Berg aus beobachten, wie Truppen in das Tal unter uns
verrückten. Ein solcher Vormarsch wird normalerweise durch
bombardierende Flugzeuge vorbereitet. Aber da die Mujahedin
ziemlich enge und gute Kontakte zu vielen Afghanen in der
Armee oder in den Behörden haben, werden sie meistens frühzeitig
benachrichtigt, welche Aktionen gerade geplant sind. So können
sie sich fast immer rechtzeitig in die Berge retten, wenn
sie sich in den Dörfern aufhalten. Dort waren sie vor allein
wegen der Ernte, um mitzuhelfen sie rechtzeitig einzubringen.
Alle haben Angst, daß sie durch Bombardements verbrannt wird
und dadurch im Winter zusätzlich Hungersnöte drohen.
In den Tagen, die ich am Rande voll Kabul verbrachte, war
die Situation immer sehr angespannt. Es ist ein Militärflughafen
angegriffen worden, und es hieß, dabei seien 40 Flugzeuge
am Boden zerstört oder beschädigt worden. Der Sitz des Premierministers
ist zweimal mit schweren Waffen angeschossen worden, auf die
hauptsächlich von Russen bewohnte Siedlung Mekerojan wurden
Angriffe verübt. Mitten in der Stadt wurden drei Lokale gesprengt,
eines davon sei ein Nachtclub gewesen, in dem angeblich gerade
wichtige Parteimitglieder eine Sitzung abhielten. In dieser
Situation sah ich keinen Sinn darin, mich alleine ins Stadtzentrum
durchzuschlagen oder hier weiter abzuwarten. Unsere Gruppe
zog sich wieder die 15 Kilometer bis Malang zurück, aber kaum
waren wir dort, kam uns ein Bote nach, der mir mitteilte,
meine Mutter würde in einem bestimmten Haus um Stadtrand von
Kabul auf mich warten.
Als ich Stunden später auf dieses Haus zuging, sah ich von
unten eine gealterte Frau an einem Fenster stehen, ohne Zähne
und mit sichtlich schlechtem Gesundheitszustand. Neun Jahre
hatte ich sie nicht gesehen und jetzt wußten wir wieder, daß
wir nur kurze Zeit zusammenbleiben konnten. Mein Großvater
hatte sie begleitet. Meine Fragen nach dem oder jenem bekamen
oft die Antwort: getötet, verschwunden, geflüchtet.
Um zwei Uhr früh mußte ich zurück nach Malang, da es wegen
zu erwartender Hausdurchsuchungen zu gefährlich wurde. Dort
hatte es inzwischen einen Bombenangriff gegeben und am nächsten
Tag habe ich selbst einen miterlebt. Plötzlich tauchten sechs
Flugzeuge auf. Wir glaubten, unsere Höhle würde einstürzen,
als die Bomben explodierten. In der unmittelbaren Umgebung
wurden jedoch glücklicherweise nur zwei Personen leicht verletzt,
aber zwei Kamele und ein Pferd hat es total zerrissen. Im
Dorf unten verbrannten drei große Hügel aus aufgeschichtetem
Korn und damit war ein beträchtlicher Teil der eben eingebrachten
Ernte vernichtet. Es waren Phosphatbomben abgeworfen worden,
die sofort Brände entfachen und Splitterbomben, aus denen
nach dem Aufschlag Dutzende kleinerer Sprengkörper weit in
die Umgebung fliegen und dort explodieren. Mit solchen Aktionen
soll der Widerstandswille geschwächt und die Nahrungsmittelversorgung
gestört werden.
Während der drei Wochen, die ich in Afghanistan unterwegs
war, haben wir auch nur zweimal eine etwas bessere Mahlzeit,
als die übliche mit etwas gekochtem Reis, trockenem Brot und
Tee (meist ohne Zucker) bekommen können. Im Winter wird sich
die ökonomische Situation noch brutal verschärfen, ich habe
aber den Eindruck gewonnen, daß dadurch eher der Haß auf die
Verursacher dieser Lage und der Kampfgeist geschürt werden.
Von einem Aufgeben redet niemand. Manchmal wurden regionale
Waffenstillstände abgeschlossen, dies aber nur zwecks Ernteeinbringung
und Neuformierung der Mujahedin-Gruppen. Diese sind in der
großen Mehrzahl autonome lokale Verbände, die sich zunehmend
zu größeren Einheiten zusammengeschlossen haben. Die alten
ethnischen Feindschaften spielen derzeit nur mehr selten eine
wichtige Rolle. Die Informiertheit der Bevölkerung hat in
erstaunlichem Umfang zugenommen, das abendlichen Hören aller
erreichbaren Sender und die Diskussion der empfangenen Nachrichten
sind zu wichtigen Bestandteilen des Alltags geworden. Entscheidungen
werden weiterhin, wenn immer möglich im Rahmen des traditionellen
Djirga-Systems, also durch Ratsversammlungen getroffen. Dort
hatten früher mächtige Khans, Feudalherren oder Maleks einen
dominierenden Status, jetzt haben Kommandanten, kämpfende
Mujahedin und Dorfälteste die größte Reputation. Die Djirgas
durchleben eine wichtige Phase der Demokratisierung schon
durch ihre andersartige Besetzung. Mit dem wichtigen Stellenwert
dieser Einrichtung hängt auch die fast generelle Ablehnung
der Exilparteien in Peshawar zusammen, die sich im Ausland
als die Vertreter des Widerstandes darstellen. Weder die Vertreter
der islamisch-fundamentalistischen "Sieben-Parteien-Allianz"
noch jene der liberal-nationalistischen "Drei-Parteien-Allianz"
haben im Land selbst eine nennenswerte Zahl von Anhängern.
Waffenlieferungen und Hilfsgüter werden von diesen zwar angenommen,
"den Widerstand" repräsentieren jedoch nach allgemeiner Ansicht
nur die im Land selbst kämpfenden Kommandanten. Daß es nicht
einmal Versuche gibt, diesen Tatbestand international zur
Kenntnis zu nehmen schafft Verbitterung und ein genereIles
Mißtrauen gegen die Verhandlungen in Genf und anderswo. Gekämpft
wird für ein unabhängiges Afghanistan, nicht um eine islamische
Republik. Weggenommen habe man ihnen das Land, sagen viele,
und das wollen wir für uns wiederhaben, nicht die Religion,
denn die kann uns niemand wegnehmen. Gegen von Khomeini entsandte
Einheiten hat es sogar schwere Kämpfe gegeben. Die allgemeine
Stimmung läßt sich vielleicht so zusammenfassen: Zu verlieren
haben wir praktisch nichts mehr und deswegen werden wir weiterkämpfen,
bis die Sowjets hinausgehen und uns auch die Amerikaner oder
Chinesen nicht erneut abhängig machen.
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Nassim Jawad
wurde 1950 in Kabul geboren, lebte nach 1970 als Student
in Wien, ist mit einer Psychologin verheiratet und leitet
seit 1980 das Flüchtlingshilfeprogramm des "Österreichischen
Hilfskomitees für Afghanistan" in Pakistan, das dort
für 50.000 Flüchtlinge einen Gesundheits- und Sozialdienst
aufgebaut hat.
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