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Falter Verlag
   

Afghanistan
Unerkannt nach Kabul
Eine Reise ins Niemandsland

Falter, Wien, Nr. 19/1983

Ein Bericht von Nassim Jawad, aufgezeichnet von Christian Reder
In der Umgebung von Kabul, Sommer 1983. Ein Bericht vom Alltag in Afghanistan, draußen auf dem Lande, in dem die seit dreieinhalb Jahren von der Sowjetarmee besetzten Städte nur Inseln bilden.

 

 

 

 

Am 20. Juli verIieß ich die Grenzstadt Peshawar in Pakistan. Unter dem Schutz einer Gruppe voll Mujahedin wollte ich zu Fuß Kabul erreichen, um nach vielen Jahren meine Geburtsstadt wiederzusehen und zugleich selbst die derzeitige Situation im Land zu erleben. Auf dem ersten Paß erinnerte nur eine verfallene Militärstation daran, daß wir die Grenze überschritten. In Djadji, dem ersten afghanischen Dorf, war bis 1977/78 ein großangelegtes Entwicklungshilfeprojekt der Bundesrepublik betrieben werden, das dem Ausbau der Land-, Forst- und Holzwirtschaft dienen sollte. Jetzt sind fast alle der damals errichteten Gebäude nur mehr Ruinen, vereinzelt haben sich deutsche Aufschriften wie "Waschraum", "Magazin" oder "Büro" erhalten. Die Leute im Dorf sagen, sowjetische Bomben hätten alles zerstört, im Radio werde dagegen behauptet, die Mujahedin seien es gewesen, aber das würde dort immer gesagt. In dieser Gegend liegt ein einziger Militärposten - in der Nähe von Sharif-kalei (kalei heißt Dorf) - der aber keine echte Bedrohung bedeutete. Es ging in beschwerlichen Märschen weiter über eine Reihe hoher Pässe, und manchmal konnte ich mit den zehn ich begleitenden Mujahedin nicht mehr Schritt halten. Dann brachte mich unser Packpferd, auf dem wir einige Hilfsgüter und Medikamente transportierten nach oben. Am dritten Tag waren wir endlich an unserem ersten Ziel, dem Dorf Malang, nur mehr etwa 15 km von Kabul entfernt.

Dort hörten wir, daß ein Vortag in Anwesenheit von Lausenden Einwohnern der Gegend und vieler Mujahedin drei Agenten exekutiert worden waren. Etwa 300 Mujahedin waren in mehreren Gruppen aus dem Norden, hauptsächlich aus Kundus und Balch, in den Süden unterwegs gewesen. Einmal wurden sie völlig überraschend in der Nacht auf dem Sarobi-Paß angegriffen und ein zweitesmal in Chakari durch Bombenflugzeuge. Es tauchte der Verdacht auf, daß ihre Route verraten wäre, alle wurden genau durchsucht und man fand bei drei Leuten Funkgeräte und insgesamt 500.000 Afghani (etwa 100.000 Schilling). Nach dreitägiger Verhandlung gab es Geständnisse, nach denen sie von der Regierung beauftragt waren, sich in diese Gruppe einzuschleichen, sie Angriffen auszuliefern und möglichst auch ihre Anführer zu töten.

Malang liegt in einem langgestreckten talartigen Gebiet. Auf beiden Seiten der kleinen Dörfer erheben ich Bergabhänge mit niedrigen Höhlen. Die sind bereits zu Zeiten der Briten von der Bevölkerung ausgebaut und erweitert worden, so daß sie oft mehrere Räume haben. Sie sind jetzt wichtige Stützpunkte der Mujahedin. Im Tal unten bebaut die übrige Bevölkerung die Felder, es zählt zu den vielen "befreiten Gebieten", die praktisch vollständig vom Widerstand kontrolliert werden. Von den Höhlen und Bergkämmen aus werden die wichtigen Verbindungswege rund um die Hauptstadt überwacht und nächtliche Angriffe auf sie unternommen. Praktisch jeder einzelne Kämpfer hat eine Kalaschnikow und alle der dortigen 15 Gruppen haben auch noch etliche "Daschkas", das sind schwere Maschinengewehre, und sogar einige Lenkraketen. Diese Waffen stammen hauptsächlich von Überläufern und von Überfällen auf Depots und Transporte. Viele Leute haben davon gehört, daß auch aus bzw. über Ägypten oder Saudi Arabien Lieferungen gekommen sein sollen, sie sprechen aber auch davon, daß vieles in Pakistan hängen bleiben dürfte und daß vom Ausland her kaum Nachschub kommt. Gesehen habe ich auf der ganzen Reise jedenfalls nur russische Waffen.

Weiter weg von den Städten erfolgen hauptsächlich Luftangriffe und wir haben auch auf dem ganzen Weg bis Malang viele Bombeneinschläge, Splitter, tote Pferde und Kamele gesehen. Die wichtigen Verbindungswege werden offenbar oft angegriffen, die Leute sagen aber, daß viele Abwürfe sehr ziellos erfolgen, weil die Flugzeuge wegen des MG-Feuers von den Berghöhen nur selten tief herunter gehen. Deshalb gibt es auch nicht allzuviele Verletzte der Tote.

Die Mujahedin-Gruppe, zu der wir in Malang gestoßen waren umfaßte etwa 50 Männer, ihr Anführer ist Fazul Rahman. Er war früher ein Stadtguerillakommandant in Kabul, da aber er uns seine Familie dann auf Regierungsseite zu bekannt geworden waren, flüchtete er in die umliegenden Berge und führt voll dort aus nächtliche Aktionen in Kabul durch. Bei seiner Gruppe befand sich auch ein Arzt, ein Krankenpfleger und ein medizinischer Assistent, von denen eine Bevölkerung von etwa 10.000 Menschen betreut wird. Es kommen manchmal auch Patienten aus der Nachbarprovinz Logar zur Behandlung, aber dafür müssen sie eine hohe Bergkette überschreiten.

Auf unserem bisherigen Weg waren wir nur an einer einzigen weiteren ärztlichen Station vorbeigekommen, die ebenfalls in einer versteckten Höhle untergebracht war. Der afghanische Arzt dort bekam manchmal eine minimale Unterstützung aus dem Ausland, hatte aber in vielen Fällen kein Chance, den Verletzten und Kranken wirklich zu helfen. Ein weiterer Arzt. von dem wir hörten, war bei einem Luftangriff ums Leben gekommen. Die wenigen inzwischen bestehenden Ärztestationen werden offensichtlich häufig gezielt aus der Luft angegriffen, damit sogar dieses Minimum an Versorgung unterbunden wird.

Nach zwei Tagen Rast in Malang brach eine Mujahedin-Gruppe nach Kabul auf und ich schloß mich ihr an, um eine Chance zu ergreifen, unerkannt in die Stadt hineinzukommen. Ich wollte natürlich auch von ihr wieder einen Eindruck bekommen, wichtiger noch war aber die Hoffnung, dort vielleicht meine Mutter nach vielen Jahren wiedersehen zu können. Für den Fußmarsch in die Stadt braucht man etwa sechs Stunden. Wir haben uns um Mitternacht auf den Weg gemacht und mußten bis zum Tageslicht ein steppenartiges Gebiet, das keinerlei Schutz bietet, hinter uns haben. Denn ab sieben Uhr früh kommen fast immer die Hubschrauber aus der Stadt und queren diese Gegend auf der Suche nach in irgendeiner Weise verdächtigen Zielen. Gegen sechs Uhr früh waren wir bereits fast am Ende der Ebene. Plötzlich tauchten vor uns vier Hubschrauber auf. Wir waren zwölf, darunter auch zwei Frauen, die ganz normal in die Stadt gehen wollten. Rundum konnte nichts einen Schutz bieten, es gab nur kleine Büsche, zwischen denen wir uns versteckt haben. Der Kommandant hat uns noch angewiesen, alles was aufblinken oder spiegeln könnte zuzudecken und ganz ruhig dazuliegen. Nach vielleicht fünf Minuten waren sie über uns und jeden Augenblick glaubte ich, sie würden tiefer gehen und schießen. Beschreiben kann ich das nicht, was ich damals gefühlt habe. Aber sie flogen über uns hinweg. Als wir gerade dabei waren, langsam wieder aufzustehen, machten sie je doch kehrt und kamen erneut auf uns zu. Alle warfen sich zu Boden, aber sie donnerten wieder über uns hinweg und verschwanden schließlich ganz in der Ferne. Jeder von uns war fast in Panik geraten, selbst die Mujahedin, die das alles ja schon lange mitmachen. Wir erreichten schließlich das Dorf Musaji und dann Charasjab, ein äußeren Stadtrand von Kabul.

Dort waren nirgends Truppen zu sehen, alles war von Mujahedin kontrolliert. Rundum ist eine sehr fruchtbare Gegend, die Bauern arbeiteten auf den Feldern, es war ja Erntezeit, und überall waren schon Weizenhaufen aufgeschichtet. Den Nachmittag haben wir im Dorf verbracht und dann jemanden in die Stadt geschickt, der meine Mutter benachrichtigen und sich erkundigen sollte, wie die Lage um ihr Haus sei und ob ich dorthin gelangen könnte. Außerdem sollte er einige Informationen für die mich begleitenden Mujahedin herausbringen. Der Mann, der diese Aufgabe übernahm, war im Besitz aller notwendigen Dokumente, also des Personalausweises und des Militärzertifikates und einiger anderer Papiere. Es war also ziemlich gefahrlos für ihn. Er sollte am nächstenTag zurück sein. Wir übernachteten im Haus jenes Kommandanten, der in Musaji praktisch die Führungsrolle innehat, In aller Früh wurden wir benachrichtigt, daß heute wahrscheinlich Truppen kommen würden, um Hausdurchsuchungen zu machen. Es war klar, daß wir sofort das Dorf verlassen mußten. In solchen Fällen ziehen sich die bewaffneten Männer immer gleich zurück. Oft haben wir gehört, daß die Regierungs- und Sowjetsoldaten, wenn sie nichts finden, wütend über Frauen, Kinder und alte Leute herfallen.

Nach sechs Stunden Eilmarsch kamen wir nach Sangesafed in der Provinz Logar, gingen aber noch weiter bis Pulekandahari, denn erst dort waren wir sicher, daß die Truppen nicht so weit kommen würden. Am Abend kehrten wir nach Musaji zurück, wurden aber erneut um zwei Uhr früh geweckt und es hieß, daß wieder Truppen kommen würden, da seit kurzem Helikopter über Kabul kreisten. Ich war vom Vortag noch völlig erschöpft, aber die ganze Gruppe zog mich mit beim Aufstieg auf den nahen Bergkamm. Als es hell wurde, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, wie ich das noch geschafft hatte. Wir erfuhren dann, daß sich die Flugzeug auf den Schutz der in Kabul von Mujahedin angegriffenen Militärposten konzentrierten. Die ganze Nacht waren Schießereien und Explosionen zu hören gewesen. Die Militärposten in Jachdara (im Stadtteil Schewaki) sind heftig attakiert worden. Zwei Panzer und ein Hubschrauber wurden angeschossen. Ein Mujahed wurde getötet, zwei verletzt. Sie wurden am nächsten Tag ins Dorf herein getragen. Um etwa 10 Uhr vormittags konnten wir vom Berg aus beobachten, wie Truppen in das Tal unter uns verrückten. Ein solcher Vormarsch wird normalerweise durch bombardierende Flugzeuge vorbereitet. Aber da die Mujahedin ziemlich enge und gute Kontakte zu vielen Afghanen in der Armee oder in den Behörden haben, werden sie meistens frühzeitig benachrichtigt, welche Aktionen gerade geplant sind. So können sie sich fast immer rechtzeitig in die Berge retten, wenn sie sich in den Dörfern aufhalten. Dort waren sie vor allein wegen der Ernte, um mitzuhelfen sie rechtzeitig einzubringen. Alle haben Angst, daß sie durch Bombardements verbrannt wird und dadurch im Winter zusätzlich Hungersnöte drohen.

In den Tagen, die ich am Rande voll Kabul verbrachte, war die Situation immer sehr angespannt. Es ist ein Militärflughafen angegriffen worden, und es hieß, dabei seien 40 Flugzeuge am Boden zerstört oder beschädigt worden. Der Sitz des Premierministers ist zweimal mit schweren Waffen angeschossen worden, auf die hauptsächlich von Russen bewohnte Siedlung Mekerojan wurden Angriffe verübt. Mitten in der Stadt wurden drei Lokale gesprengt, eines davon sei ein Nachtclub gewesen, in dem angeblich gerade wichtige Parteimitglieder eine Sitzung abhielten. In dieser Situation sah ich keinen Sinn darin, mich alleine ins Stadtzentrum durchzuschlagen oder hier weiter abzuwarten. Unsere Gruppe zog sich wieder die 15 Kilometer bis Malang zurück, aber kaum waren wir dort, kam uns ein Bote nach, der mir mitteilte, meine Mutter würde in einem bestimmten Haus um Stadtrand von Kabul auf mich warten.

Als ich Stunden später auf dieses Haus zuging, sah ich von unten eine gealterte Frau an einem Fenster stehen, ohne Zähne und mit sichtlich schlechtem Gesundheitszustand. Neun Jahre hatte ich sie nicht gesehen und jetzt wußten wir wieder, daß wir nur kurze Zeit zusammenbleiben konnten. Mein Großvater hatte sie begleitet. Meine Fragen nach dem oder jenem bekamen oft die Antwort: getötet, verschwunden, geflüchtet.

Um zwei Uhr früh mußte ich zurück nach Malang, da es wegen zu erwartender Hausdurchsuchungen zu gefährlich wurde. Dort hatte es inzwischen einen Bombenangriff gegeben und am nächsten Tag habe ich selbst einen miterlebt. Plötzlich tauchten sechs Flugzeuge auf. Wir glaubten, unsere Höhle würde einstürzen, als die Bomben explodierten. In der unmittelbaren Umgebung wurden jedoch glücklicherweise nur zwei Personen leicht verletzt, aber zwei Kamele und ein Pferd hat es total zerrissen. Im Dorf unten verbrannten drei große Hügel aus aufgeschichtetem Korn und damit war ein beträchtlicher Teil der eben eingebrachten Ernte vernichtet. Es waren Phosphatbomben abgeworfen worden, die sofort Brände entfachen und Splitterbomben, aus denen nach dem Aufschlag Dutzende kleinerer Sprengkörper weit in die Umgebung fliegen und dort explodieren. Mit solchen Aktionen soll der Widerstandswille geschwächt und die Nahrungsmittelversorgung gestört werden.

Während der drei Wochen, die ich in Afghanistan unterwegs war, haben wir auch nur zweimal eine etwas bessere Mahlzeit, als die übliche mit etwas gekochtem Reis, trockenem Brot und Tee (meist ohne Zucker) bekommen können. Im Winter wird sich die ökonomische Situation noch brutal verschärfen, ich habe aber den Eindruck gewonnen, daß dadurch eher der Haß auf die Verursacher dieser Lage und der Kampfgeist geschürt werden. Von einem Aufgeben redet niemand. Manchmal wurden regionale Waffenstillstände abgeschlossen, dies aber nur zwecks Ernteeinbringung und Neuformierung der Mujahedin-Gruppen. Diese sind in der großen Mehrzahl autonome lokale Verbände, die sich zunehmend zu größeren Einheiten zusammengeschlossen haben. Die alten ethnischen Feindschaften spielen derzeit nur mehr selten eine wichtige Rolle. Die Informiertheit der Bevölkerung hat in erstaunlichem Umfang zugenommen, das abendlichen Hören aller erreichbaren Sender und die Diskussion der empfangenen Nachrichten sind zu wichtigen Bestandteilen des Alltags geworden. Entscheidungen werden weiterhin, wenn immer möglich im Rahmen des traditionellen Djirga-Systems, also durch Ratsversammlungen getroffen. Dort hatten früher mächtige Khans, Feudalherren oder Maleks einen dominierenden Status, jetzt haben Kommandanten, kämpfende Mujahedin und Dorfälteste die größte Reputation. Die Djirgas durchleben eine wichtige Phase der Demokratisierung schon durch ihre andersartige Besetzung. Mit dem wichtigen Stellenwert dieser Einrichtung hängt auch die fast generelle Ablehnung der Exilparteien in Peshawar zusammen, die sich im Ausland als die Vertreter des Widerstandes darstellen. Weder die Vertreter der islamisch-fundamentalistischen "Sieben-Parteien-Allianz" noch jene der liberal-nationalistischen "Drei-Parteien-Allianz" haben im Land selbst eine nennenswerte Zahl von Anhängern. Waffenlieferungen und Hilfsgüter werden von diesen zwar angenommen, "den Widerstand" repräsentieren jedoch nach allgemeiner Ansicht nur die im Land selbst kämpfenden Kommandanten. Daß es nicht einmal Versuche gibt, diesen Tatbestand international zur Kenntnis zu nehmen schafft Verbitterung und ein genereIles Mißtrauen gegen die Verhandlungen in Genf und anderswo. Gekämpft wird für ein unabhängiges Afghanistan, nicht um eine islamische Republik. Weggenommen habe man ihnen das Land, sagen viele, und das wollen wir für uns wiederhaben, nicht die Religion, denn die kann uns niemand wegnehmen. Gegen von Khomeini entsandte Einheiten hat es sogar schwere Kämpfe gegeben. Die allgemeine Stimmung läßt sich vielleicht so zusammenfassen: Zu verlieren haben wir praktisch nichts mehr und deswegen werden wir weiterkämpfen, bis die Sowjets hinausgehen und uns auch die Amerikaner oder Chinesen nicht erneut abhängig machen.

 

Nassim Jawad
wurde 1950 in Kabul geboren, lebte nach 1970 als Student in Wien, ist mit einer Psychologin verheiratet und leitet seit 1980 das Flüchtlingshilfeprogramm des "Österreichischen Hilfskomitees für Afghanistan" in Pakistan, das dort für 50.000 Flüchtlinge einen Gesundheits- und Sozialdienst aufgebaut hat.

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© Nassim Jawad 1983 & Christian Reder 1983/2001