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Falter Verlag
   

Twilight of Socialism
Drei Biografien zu Österreichs Zeitgeschichte
Kommentiert von Christian Reder

Falter, Wien, Nr. 20/1983

 

 

 

 

Mary war die von den Kulczars (Gründer der Gruppe "Funke", nach Lenins "Iskra") entdeckte "reiche Amerikanerin". Ihr richtiger Name war Muriel Gardiner. Sie lebte mit ihrer vierjährigen Tochter aus einer geschiedenen Ehe in Österreich, besaß ein kleines Blockhaus im Wienerwald (in Sulz) und in Wien zwei Wohnungen, eine in der Rummelhardtgasse und eine kleinere in der Lammgasse nahe der Universität, die sie nur einige Stunden am Tag zum Studium und als eine Art Büro benutzte. Dort bot sie nach dem Februar 1934 vielen untergetauchten Sozialisten Unterschlupf. Ihre Wohnung wurde zum wichtigen Stützpunkt für die konspirative Tätigkeit und die Fluchthilfe.

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Abscheu vor den Übeln der Gesellschaft hatte sie schon als Kind gegen ihre wohlhabende Umwelt aufgebracht und in jenen Zustand moralischer Erregung versetzt, der Menschen ihrer Art seil mehreren Generationen für die sozialistische Gedankenwelt empfänglich machte. Ihre Hoffnungen auf eine menschlichere Gesellschaft in unbestimmter Weise mit den Bestrebungen der Arbeiterschaft verbindend, hatte sie bisher nur mittelbare Beziehungen zu proletarischen Organisationen unterhalten. Ihr geistiges Verhältnis zum Sozialismus war unsicher geblieben, ihre persönlichen Beziehungen zu seinen Vertretern von Zweifeln und Sorgen belastet. Als der Faschismus sie der wachsenden Teilnahmslosigkeit entriß, der sie schließlich verfallen war, verwob der Zufall sie mit einer neuartigen illegalen Bewegung, deren Traum von einer sozialistischen Wiedergeburt sie mit halber Überzeugung miterlebte, Die Begegnung mit Richter (Deckname für Joseph Buttinger, 1935-38 Obmann des Zentralkomitees der "Revolutionären Sozialisten" und danach der Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten) erfüllte sie mit neuer Zuversicht, und nun wurde auch für sie, die verborgenste aller österreichischen Illegalen, der Kampl für den Sozialismus bis zum Anbruch der großen Finsternis Inhalt eines schönen tätigen Lebens. Es war jedoch längst auch der berechnendeTypus des Berufsfunktionärs überreichlich vertreten, gegen den es selbst in wirklich schwierigen Zeiten offenbar keine geeigneten Gegenmaßnahmen gab.

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Nur der Mensch, der ihm (Leopold Kulczar) nützte, besaß in seinen Augen Wert, alle anderen waren Feinde. Er rührte keinen Finger, ohne vorher zu berechnen, was ihm die Anstrengung eintragen würde. Sachliche Anerkennung war ihm fremd. Nur nach langen Beratungen mit seiner Frau legte er seine herzlosen Beziehungen zu "Freunden" und Mitarbeitern fest, und selbst die Länge und Lautstärke seines Gelächters war das Ergebnis sorgfältiger taktischer Überlegungen.

Zwischen seinem privaten Aufwand und Gruppenauslagen hätte auch ein Buchhaltergenie keine Grenzen zu ziehen vermocht, so vollkommen beherrschte er die Kunst, persönliche Auslagen in Organisationsspesen zu verwandeln. Eine Wohnung im ersten Wiener Hochhaus wurde das Wahrzeichen seiner "Hochstapelei", der Pollak (Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung) seine eigene kleinbürgerliche Solidität entgegenstellte. - Ein paar Monate später ar die Geschichte von dem "verschwundenen Eisenbahnergeld" in aller Munde. Kulczar hatte mit dem Auftrag, eine illegale Eisenbahnerzeitung herauszugeben, eine namhafte Summe erhalten. Von der Zeitung erschien nur eine einzige Nummer, aber das Geld war verbraucht. Aber während das Ansehen der Kulczars sank und sich immer seltener eine Stimme zu ihrer Verteidigung erhob, nahm der Einfluß ihrer Kritik ständig zu - als sollte das junge Volk der Aktivisten darüber belehrt werden, dass Spitzbübereien kein Hindernis für politische Erfolge sind.

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Die "reiche Amerikanerin" war sogar ins Zentralkomitee der kurzlebigen Gruppe "Funke" berufen worden, ihr anfangs dort tätiger späterer Mann Joseph Buttinger, der zuletzt Bezirkssekretär der SPÖ in St. Veit an der Glan war, wurde als vielversprechende Nachwuchskraft nach Wien geholt. Es galt, die inhaftierten oder geflohenen Parteiführer zu ersetzen und eine illegale Organisation zu schaffen, für die es kaum Vorbereitungen gegeben hatte. Vorerst entstanden einzelne Gruppen und erst nach und nach setzten sich die "Revolutionären Sozialisten" als Nachfolgeorganisation der zerschlagenen SPÖ durch. Muriel Gardiner und Joseph Buttinger trafen sich das erste Mal inn Spätsommer 1934 in Wien, beide waren damals um die dreißig Jahre alt. Sie hat jetzt - mit dem milden Blick des hohen Alters - ihre Memoiren herausgegeben (siehe oben). Drei Jahrzehnte zuvor hatte ihr Mann das Scheitern der österreichischen Sozialdemokratie vor dem Faschismus und deren interne Machtspiele biografisch aufgearbeitet und die bisherigen deutschsprachigen Zitate stammen aus diesem Buch; (Joseph Buttinger: Das Ende der Massenpartei. Am Beispiel Österreichs. Ein geschichtlicher Beitrag zur Krise der sozialistischen Bewegung. 1953, Neuauflage: Verlag Neue Kritik, Frankfurt, 1972 / englisch: In the Twilight of Socialism, New York, 1953). Sie stellt seiner scharfen, jede Linientreue mißachtenden Abrechnung - dem vielleicht aufschlußreichsten Buch über die 30er Jahre in Österreich, das offenbar auch heute noch als Geheimtip gilt, nachdem es so lange peinlich totgeschwiegen worden ist - eine einfache Schilderung ihres Lebens gegenüber. Aus dem Gegensätzlichen und Gemeinsamen lassen sich bisweilen Dimensionen erkennen, die für ein Verständnis von Bewusstseinsänderungen wichtig sind. Wichtiger jedenfalls als die Geschichtsfälschungen nach dem Krieg, im Rahmen derer z.B."Eine volkstümliche Geschichte der Sozialistischen Partei Österreichs" (Im Sturm eines Jahrhunderts, von Jaques Hannak, Wien, 1952) den unbequemen Buttinger bereits vorsorglich ins Abseits stellte: Ein nach Wien. Verschlagener Kärntner (in Wahrheit ein in Bayern geborener Oberösterreicher) namens Buttinger, den man an die Spitze stellte, weil er unauffällig und der Polizei unbekannt war (in Wahrheit war er Anfang August 1934 nach drei Monaten Haft aus dem Villacher Polizeigefängnis entlassen und aus Kärnten ausgewiesen worden), erfand sich seine eigene "Neu-Beginnen"-Theorie. Mittel derer er die Nabelschnur zur alten Partei abschneiden zu können wähnte (in Wahrheit bestanden enge, wenn auch nicht konfliktfreie Beziehungen zum Vorsitzenden der "alten" Partei, Otto Bauer, in Brünn). Die Schaumschlägerei wurde von den Massen nicht einmal gemerkt ...

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Muriel Gardiner stammt aus Chicago. Ihre Familie war innerhalb einer Generation zum schwerreichen Besitzer eines Fleischverarbeitungs-Konzerns geworden. Sie selbst war als jüngstes von fünf Kindern in einer schloßartigen Villa, umgeben von Dienstboten, aufgewachsen. Der Vater starb, als sie elf war, die Mutter verbreitete streng puritanische Auffassungen und beide - so schreibt sie - wurden von den Kindern gefürchtet. Als 1912 die Titanic sank, fiel ihr auf, daß sich ihre Verwandten und die Zeitungen zuallererst über den Tod der Reichen (und den Verlust ihrer Juwelen) erregten. Dies, sowie die Erinnerungen an ihre erste Schiffsreise über den Atlantik, abgetrennt von der auf den Unterdecks zusammengepferchten Menge, führt sie neben Erzählungen ihrer Kinderfrauen als erste irritierende soziale Erfahrungen an. 1914 fühlte sie sich als Pazifistin, die russische Revolution hat sie beeindruckt und 1918 ging sie für vier Jahre nach Boston aufs College, um Literatur und Geschichte zu studieren. Auf ihre lebenslange materielle Unabhängigkeit reagierte sie als Studentin durch einen vergleichsweise kargen Lebensstil, durch die Mitarbeit in einem Hilfskomitee für das hungernde Nachkriegs-Europa, als zeitweilige Präsidentin einer liberal-sozialistischen Studentenorganisation oder durch das öffentliche Eintreten für Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti (die als vermeintliche Terroristen verurteilt und schließlich trotz weltweiter Proteste 1927 hingerichtet worden sind). Solche Aktivitäten trugen ihr rasch den Ruf einer "Red" und einer "Bolshie" ein, aber "in those days", so sagt sie, wurde jeder links von der Mitte rasch so abgestempelt.

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Diesem Werdegang, der wie ein Klischee wirkt, aber dann doch über ein solches hinausführt, steht konträr jener Joseph Buttingers gegenüber, auf den der eben gewählte Nachsatz jedoch genauso paßt. Er stammt aus ärmsten Verhältnissen, sein Vater war Arbeiter im Straßenbau, in Steinbrüchen, Fabriken und im Bergbau. Die ganze Familie zog den Arbeitsmöglichkeiten nach, in bayrische und Salzburger Dörfer, nach Augsburg und ins Ruhrgebiet (1913-16) und schließlich zurück nach Waldzell bei Ried im Innkreis, aber da war der Vater längst Soldat. Bald darauf lag er als Schwerverletzter in einem Linzer Krankenhaus für geisteskranke Soldaten. Den Besuch dort als Elfjähriger beschreibt Buttinger als das Schlimmste, das er und seine Mutter je erlebt hatten. Alle Patienten im Saal seien nur noch Haut und Knochen gewesen, es war von einer Hunger-"Diät" die Rede und alle prügelten sich verzweifelt um die mitgebrachten Butterbrote und Äpfel. Im offenen Sarg beim kurz danach stattfindenden. Begräbnis erkannte er den Vater kaum wieder. Die Ehrensalve und das förmliche Beileid das Offiziers verursachten in ihm nur noch einen elementaren Zorn. Es waren vier Kinder da und der Bericht Buttingers über sein Erwachsenwerden (Joseph Buttinger: Ortswechset. Die Geschichte meiner Jugend, Verlag Neue Kritik, Frankfurt, 1979) ist eine lapidar-eindringliche Beschreibung damaliger Alltagsarmut mit ständigen Hungergefühlen, mit Erdäpfeln als Hauptnahrung, bestenfalls einem Paar schlechter Schuhen für den Winter, als Ministrant erlebter streng katholischer Umgebung und harter Kinderarbeit für einige Heller. Mit dreizehn kam er als Knecht zu einem Bauern, wo ihm oft ein mehr als 16stündiger Arbeitstag abverlangt wurde. Als im Jänner 1921 ein aus Wels gekommener Gewerkschaftsfunktionär, der vor unzufriedenen Landarbeitern sprechen wollte, von den örtlichen Bauern mit Stöcken niedergeschlagen wurde und daraufhin die Arbeiter der drei Stunden entfernten Glasfabrik im Dorf demonstrierten, vermittelte ihm das bleibende Eindrücke aus einer ihm bis dahin unbekannten Welt. Kurz darauf war er Arbeiter in eben jener Glasfabrik in Schneegattern und machte mit voller Intensität das durchorganisierte Leben der damaligen Arbeiterbewegung mit.

1926 im selben Jahr, in dem Muriel Gardiner nach Aufenthalten in Italien und Oxford nach Wien kam, um sich einer Analyse ihrer Psyche zu unterziehen und schließlich selbst Medizin zu studieren, trat Joseph Buttinger nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit eine Stelle als Hortleiter der Kinderfreunde in St.Veit an der Glan an. Vier Jahre später wurde er dort Bezirksparteisekretär. Als Abschluß seiner Erziehertätigkeit hatte er noch eine Vortragssammlung verfaßt, "Vom Urnebel zum Zukunftsstaat", ("Sie zeigt nicht nur das breite Spektrum meiner intellektuellen Aspirationen, sondern auch eine Menge von erschreckendem Dogmatismus und intellektueller Überheblichkeit, beides zumindest teilweise zurückzuführen auf die ideologischen Vorurteile, welche die meisten Parteitheoretiker ihren Anhängern einimpften.").

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Zwischen 1934 und 1938 ging Buttinger in seiner Arbeit als führender Funktionär des Untergrundes und in dessen internen Kämpfen auf. Muriel Gardiner ("at that time I was openminded to communism") verhalf ungezählten Menschen zur Flucht, sie gab Garantieerklärungen für die amerikanischen Behörden ab, beschaffte falsche Papiere, bot Unterkunft und finanzielle Unterstützung. Bei ihr fanden wichtige konspIrative Treffen statt und sie war als Kurier zu Kontaktpersonen ins umliegende Ausland unterwegs. Buttinger floh einige Tage nach dem Anschluß nach Frankreich, sie blieb noch und konnte nach einer Reihe von Schikanen (als "jüdischer Mischling ersten Grades") im Juni 1938 zum Dr. med. promovieren, allerdings nur unter der Bedingung, selbst bei Erlangung der Staatsbürgerschaft hier nie zu praktizieren. Anschließend fuhr sie nach Paris, wo Joseph Buttinger bereits als Obmann der Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten tätig war. Im November kehrte sie nochmals nach Österreich zurück, um in Klagenfurt, St.Veit, Salzburg und Linz Informationen auszutauschen, bevor sie das bereits von totalem Mißtrauen geprägte Land für elf Jahre verließ, froh endlich draußen zu sein, "... safely out of Austria".

Mit Kriegsausbruch wurde Joseph Buttinger wie viele geflohene Deutsche und Österreicher in Frankreich interniert, aber Ende 1939 gelangte er mit Muriel Gardiner (sie hatten in Paris geheiratet) in die USA. Sie waren dann beide jahrelang in der Flüchtlingshilfe engagiert und er konzentrierte sich nach dem Krieg besonders auf die Problematik Vietnams; aber das ergäbe eine eigene Geschichte. Erst mit dem zeitgeschichtlichen Tauwetter anfangs der 70er Jahre wurde der Name Buttinger hierzulande wieder geläufiger und die Arbeiter-Zeitung konnte es sich erlauben, von ihm Artikel zu drucken. Schließlich bekam er sogar noch das "Große goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich" und sie - die als Psychiater und Fachpublizistin tätig ist - einen Orden etwas minderer Güte. Anna Freud, deren Vater sie einst als Patientin abgelehnt und an eine Kollegin verwiesen hatte, schrieb ihr, nachdem einmal ein kurzer Bericht über Muriel Gardiners Wiener Zeit erschienen war: I had not known of the intensity of your political activities in Vienna, only ihe vaguest rumors.

 

Frühling 1926: I decided to go to Vienna to explore the possibility of being psychoanalyzed by Freud.

Herbst 1938: I know only that the many hours in the train before reaching the border seemed absolutely endless. I was relieved but too exhausted to feel even gladness when I was safely out of Austria.

Muriel Gardiner: Code Name "Mary". Memoirs of an American Woman in the Austrian Underground. Yale University Press. New Haven - London, 1983

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© Christian Reder 1983/2002