Sie stecken derzeit nicht in den lähmenden Erfolgsdarstellungszwängen
regierender Politiker. Da wird auch der Blick zurück interessanter,
auf die in der Bundesrepublik und in Österreich sozialdemokratisch
geprägten 70er Jahre. Was ist da schief gelaufen, bei den
Strukturreformfragen, bei der Weiterentwicklung im Gesundheitswesen,
auf dem Universitätssektor, in Bezug auf die Bürokratieprobleme
oder die Energiepolitik? Inzwischen sind ja viele der Diskussionsthemen
überhaupt weg vom Tisch.
Die Frage ist doch, ab sie je auf dem Tisch waren. Die Reformen,
die zuerst von der großen Koalition und dann vor allem von
der Regierung Brandt bis 1973 angepackt wurden, waren ja überwiegend
Verteilungsreformen. Es war viel Geld in der Kasse. Die Wirtschaft
lief und da hat man eben die Kriegsopferfürsorge reformiert,
die Unterstützung für Schüler und Studenten verbessert, im
nationalen Rahmen mit einer Vermögensbildung begonnen, die
Rentenversicherung ausgebaut, Und das hat dann zu einem fundamentalen
Mißverständnis geführt, innerhalb und außerhalb der Sozialdemokratischen
Partei, daß nämlich Reformen die wohltätige, möglichst gerechte
Verteilung von viel Geld seien. Und der damalige Finanzminister
Apel unter Helmut Schmidt hat das später ja auch ohne Umschweife
so formuliert: "Wir haben jetzt kein Geld, also machen wir
auch keine Reformen".
Strukturreformen hat es etwa im Bereich des Betriebsverfassungsgesetzes
gegeben, des Hochschulrahmengesetzes und dann auch, aber sehr
unzureichend, bei der Mitbestimmung. Strukturreformen, die
möglicherweise weniger Geld kosten, als sie einbringen oder
einsparen, die sind eine Aufgabe der 80er und 90er Jahre.
Im Krankenhauswesen waren sehr wohl Ansätze und Bemühungen
da; Strukturen, Hierarchien, Humanisierung standen wenigstens
zur Debatte, in der Bundesrepublik genauso wie in Österreich.
Und jetzt, zehn Jahre später, ist doch offenkundig, daß,
sich an den Zuständen und Alltagssituationen in einem Krankenhaus
kaum etwas zum Positiven geändert hat; und schon gar nicht
durch die Pragmatik einer bloßen "Systementwicklung", sei
es der der Technik, bei den Neubauten, sei es das Kostendämpfungsgesetz
oder das neue Rechnungswesen. So wird hierzulande gerade
wieder einmal die Klinikstruktur des neuen AKH und die Finanzierbarkeit
des Gesundheitswesens in Frage gestellt, obwohl die Problematik
längst bekannt ist.
Unter der Regierung Brandt hat es, und das ist typisch, ein
Krankenhausfinanzierungsgesetz gegeben, dessen Sinn es war,
die Finanzierung des Krankenhauswesens zu sichern. Aber das
war eben keine Strukturreform. Das Kosterdämpfungsgesetz,
das dann noch unter der Regierung Schmidt kam, war in meinen
Augen eine ausgesprochen technokratische Maßnahme, die an
den Strukturen überhaupt nichts änderte, und die vor allem
die Grundübel unseres gesamten Gesundheitswesens noch nicht
einmal im Blick hatte. Deswegen habe ich auch nie daran geglaubt,
daß dieses Gesetz nachhaltig wirksam werden könnte.
Und wirksame Strukturreformen sehen Sie erst als Aufgabe
der 80er und 90er Jahre?
Ich glaube, daß wir einen völlig neuen Reformbegriff brauchen.
Die Zeiten, wo man es für Reform hielt, wenn die in die Staatskassen
fließenden Früchte wirtschaftlichen Wachstums zum Zwecke sozialer
Gerechtigkeit verteilt wurden, die sind vorbei, auch wenn
ich mich durchaus zu dem bekenne, was damals getan worden
ist. Es war z. B durchaus richtig, die Kriegsopferfürsorge
zu dynamisieren.
Gerade weil jetzt das Geld nicht da ist, für derartige Reformen,
sind wir gezwungen, entweder Strukturreformen, oder gar keine
zu machen. Schmidt hat sich im Grunde für letzteres entschieden.
Aber eine soziaIdemokratische Partei, die auch nachweisen
will, wozu es sie gibt, wird Strukturreformen auf den verschiedensten
Gebieten anpacken müssen. Ich nenne Beispiele: Gesundheitswesen,
Landwirtschaft, Verkehr, Energie, vielleicht auch noch einmal
und in neuer Weise die Betriebsverfassung, die Mitbestimmung.
Entweder Strukturreformen oder gar keine
InkIudiert das staatliche Organisationsformen, antiquierte
Budgetierungs- und VerwaItungssysteme? Den latenten bürokratischen
Behinderungen wird doch weiterhin höchstens durch Neugründungen
oder Ausgliederungen begegnet, seien es nun neue Ministerien,
oder neue Institute oder neue Agenturen, wie die für Energieverwertung
oder die für Innovation. Die Apparate wachsen, Nebenorganisationen
entstehen und ziemlich jeder nicht voll angepaßte Politiker
gesteht manchmal ein, daß er mit der Arbeitsweise der Behörden
oder der starren Finanzgebarung Schwierigkeiten hat. Nur
die Strukturen und Abläufe der Bürokratie selbst macht niemand
zu einem wirklichen Thema.
Ich war nie ein großer Freund der Gründung neuer Institutionen,
neuer Bürokratien. Ich habe es z.B. auch immer für falsch
gehalten, ein eigenes Umweltministerium zu schaffen, auch
als wir noch ganz am Anfang unserer ökologischen Diskussion
in der BRD gestanden sind. Und zwar deshalb, weil ich als
Minister erlebt habe, dass jedes neue Ministerium von den
alten boykottiert, abgeblockt, abgewürgt, gelähmt wird und
sich so die Probleme oft nur weiter verschärfen. Also glaube
ich nicht, daß wir an einer Strukturreform im öffentlichen
Dienst vorbeikommen.
Noch deutlicher wird das alles ja meist auf der Kommunalebene
- etwa im Wiener Rathaus, wo in verfestigten bürokratischen
Apparaten tendenziell jede Beweglichkeit erstickt wird oder
sie sich Umwege suchen muß. Was da alles nicht geht, weil
... weiß doch jeder Betroffene und auch die wenigen Aktivisten
in irgendeiner Magistratsabteilung oder Politfunktion sind
Betroffene. Haben sie Erklärungen dafür, warum in einer
Stadt wie Wien, nach jahrzehntelang von Sozialisten geprägter
Politik, da strukturell sowenig passiert ist?
Das ist relativ leicht zu erklären, weniger leicht zu entschuldigen.
In der deutschen Sozialdemokratie hat es bis vor etwa zehn
Jahren die Vorstellung gegeben, daß man nach dem Erkennen
eines Problems zuerst einmal eine theoretische Lösung haben
muß und dann oben auch einen möglichst zentralen Apparat,
der Maßnahmen durchführt. Inzwischen ist ein Lernprozeß in
Gang gekommen, daß das so nicht geht. Aber der ist noch nicht
zu Ende. Es ist ja so, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil
unserer Mitglieder selbst aus den Verwaltungen kommt und daher
ist noch eine zusätzliche Bremse eingebaut.
Eine Reform des öffentlichen Dienstes ist - bei unserer Bürokratie
- so unsäglich schwierig, daß das eigentlich nur eine große
Koalition auf ihre Hörner nehmen könnte. Die große Koalition
in der BRD von Ende 1966 bis 1969 wollte das ja auch tun.
Der damalige Innenminister Benda (CDU), der dann Präsident
des Bundesverfassungsgerichts wurde, wollte das auch gemeinsam
mit uns anpacken, nur ist dieses Vorhaben an der Inaktivität
und an der Konfliktscheu des damaligen Bundeskanzlers Kiesinger
gescheitert. Wenn es also frühezeitige Strukturreformen hätte
geben können, dann diese.
Den öffentlichen Dienst reformieren
In Österreich ist von der SPÖ gerade ein von den Medien
heftig beklatschter neuer "Kurs der Mitte" vorgegeben worden.
Sie haben vorhin gemeint, die Erfahrung mit der CDU/CSU-FDP-Koalition
könne in der BRD zu einem Erwachen führen. Andererseits
lassen sich einige Ihrer Argumente als Plädoyer für eine
große Koalition verstehen.
Nein, das überhaupt nicht. Ich halte eine große Koalition
in absehbarer Zeit weder für möglich, noch für wünschenswert.
Ich' habe nur gesagt, wenn man mit dem bürokratischen Apparat
etwas machen will, dann geht das nur, wenn man alle für ihn
politisch Verantwortlichen zusammenspannen kann. So etwas
könnte nur auf eine derartige Weise funktionieren.
Was die jetzige Koalition in der BRD angeht, so versucht sie
nur, mit wesentlich primitiveren, unzulänglicheren Mitteln,
als das die vorhergehende Regierung auch schon vergeblich
vorgehabt hat, das Unwiederherstellbare wieder herzustellen:
die Wachstumsgesellschaft der 60er und frühen 70er Jahre.
Sie wird daran wahrscheinlich nur rascher scheitern als wir.
Für mich ist die interessante Frage nicht so sehr, wie man
den Kohl dazu bringt, daß er seine Mehrheit verliert. Da tut
er schon selber alles dazu, was er kann. Wichtiger ist, wie
sich neue Mehrheitsformationen vorbereiten lassen.
Eine Regierungsumbildung von der österreichischen Art,
wie wir sie gerade erlebt haben, ist aber doch wohl kein Schritt
in eine solche Richtung?
Wir regieren im Augenblick nicht, deshalb stehen für uns
auch keine Regierungsumbildungen zur Diskussion. Was wir brauchen,
das ist eine neue Plattform für Mehrheiten links vom Zentrum.
Dazu ist wiederum ein intensiver innerparteilicher - und auch
die Ränder der Partei umfassender - Diskussionsprozeß notwendig.
Und wir sind gerade dabei, den über die Programmkommission
einzuleiten. Wir hoffen, daß dadurch auch nach außen hin sichtbar
wird, daß in der Sozialdemokratie ernsthaft, kompetent und
tolerant über die Bewältigung neuer Aufgaben, über noch nicht
durchdachte Aufgaben, gesprochen wird, Das kann nicht bedeuten,
daß wir sofort mit Patentrezepten herauskommen.
In Österreich sind aber doch Kursänderungen in eine ganz
andere, als die von Ihnen vertretene Richtung gesetzt worden:
die Rot-Grüne Plattform wurde zerschlagen, die "neuen" Personen
signalisieren alle eine Fortsetzung der bisherigen Taktik.
Ich kann das nicht beurteilen. Erstens, weil ich die österreichischen
Verhältnisse nicht so genau kenne und daher die einzelnen
Umbesetzungen nicht richtig werten kann und zum anderen, weil
ich die Zukunft noch nicht kenne. Ich weiß auch nicht, ob
das alte Rechts-Links-Schema überhaupt noch brauchbar ist.
Die wurde hier auch gerade wieder aktualisiert, die Diskussion,
ob es überhaupt noch essentielle Unterschiede zwischen ÖVP
und SPÖ gibt, oder nicht schon längst die große Einheitspartei.
Die sogenannten "Technokraten", die hierzulande als die
(parteiübergreifende) "Androsch-Gruppe" personifiziert werden,
operieren doch schon seit jeher auf der totalen Entideologisierungslinie.
Ja gut, das hat es bei uns auch gegeben. Nur eben nicht von
einer Bank, sondern direkt vom Kanzleramt aus.
Ich habe den Eindruck, daß das hier nicht vom Kanzleramt ausgeht.
Es dauert eben einige Zeit, es braucht einige Mühe und einige
intellektuelle Anstrengung, um die Sachzwangideologie abzubauen,
die naturgemäß zu der angesprochenen Ähnlichkeit großer Parteien
führen kann. Wenn Politik nur der Vollzug von Sachzwängen
ist, so ist es doch ziemlich egal, wer die Sachzwänge vollzieht.
Ich selbst habe nach gründlichem Nachdenken, das sich dann
in einem Buch niedergeschlagen hat, gefunden, daß die meisten
der sogenannten Sachzwänge eigentlich Denkzwänge sind. Es
gibt einfach bestimmte Denkansätze, die immer wieder zum selben
Ergebnis führen, jedoch keineswegs zwingend und notwendig
sind.
Es könnte ja auch sein, daß manche Diskussionsprozesse, die
wir in Deutschland schon in der zweiten Hälfte der 70er Jahre
hatten und die jetzt langsam auch in unserer Partei mehrheitsfähig
werden, in Österreich ein kleines bißchen später kommen. Nicht
weil die Österreicher langsamer wären, sondern weil eben eine
überragende politische Gestalt und das Vertrauen in sie einiges
anders ablaufen ließ.
Avantgardefunktionen ... ?
Eher selten, aber doch, schweben bei uns Vorstellungen
durch manche Köpfe, daß das kleine Land Österreich mit seinen
überschaubaren Strukturen durchaus avantgardistische Funktionen
erfüllen könnte, daß so etwas hier leichter wäre, als im
riesigen und international verflochtenen Polit- und Regierungsapparat
der BRD.
Ich kann es nicht beurteilen und mich auch nicht dazu äußeren,
inwiefern ein Land, dessen Bürger ich nicht bin, eine Avantgardefunktion
übernehmen sollte. Das müssen Sie schon unter sich ausmachen.
Wenn ich es jedoch richtig sehe, so hat die SPÖ ja seit 1978
ein höchst respektables Programm, in dem ja nicht nur Fragen,
sondern auch eine ganze Menge Antworten stehen. Und ich habe
den Eindruck, daß jetzt der Versuch gemacht werden soll, das
dort Formulierte nun zu aktivieren, zu präzisieren und in
einen Kontakt mit der adminstrativen, legislativen und politischen
Wirklichkeit zu bringen.
Im krassen Gegensatz zu solchen Ermunterungen stehen aber
wohl die Ermüdungs- oder auch Anpassungserscheinungen gerade
bei jener Generation, die direkt, oder als Kritiker, bewußtseinsmäßig
die Reformversuche der 70er Jahre mitgetragen hat. Am Ende
des langen "Marsches durch die Institutionen" steht auch
nichts anderes, als die Freude an der kleinen Karriere oder
eben eine Resignation. Am ehesten werden noch von außen
her neue Formen der Politikbeteiligung versucht.
Darauf kann ich nur sagen, daß es bei uns in der BRD eine
ziemlich lange Übergangsperiode gegeben hat, zwischen dem
Auslaufen des ersten Reformschubs und dem neuen Reformansatz,
den wir gerade jetzt, unter völlig neuen ökonomischen Bedingungen
versuchen. Große Parteien brauchen eben einige Zeit, um von
den gewohnten Denkstrategien abzugehen, um zu merken, daß
es so nicht mehr weiter geht. In kleinen Gruppen ist so etwas
sehr viel schneller möglich.
Nur haben doch gerade solche kleinen Gruppen in dem repressiven
Klima keineswegs sehr aussichtsreiche Entwicklungschancen.
Aber da ändert sich doch eine ganze Menge. Für Deutschland
gesprochen ist das eine der Niedergang der FDP und das andere
der Aufstieg der Grünen. Die FDP ist immer eine Partei gewesen,
deren Affinität zur CDU/CSU wesentlich größer war, als zu
den Sozialdemokraten. Was die Grünen angeht, so haben sie
zwei Möglichkeiten. Die eine, für die etwa Petra Kelly steht,
ist eine Art von Antiparteienpartei, mit einer Fundamentalopposition,
wie sie etwa die Sozialdemokraten im Deutschen Reichstag nach
1871 und dann nach 1914 gespielt haben. Wenn sich diese Linie
durchsetzt, was ich nicht glaube, dann werden die Grünen wahrscheinlich
über kurz oder lang wieder unter die fünf Prozent sinken.
Die zweite Möglichkeit ist, daß sie sich entschließen, eine
Partei zu sein, wenn auch nicht unbedingt ganz genau so, wie
die anderen. Sie unterscheiden sich ja auch derzeit nicht
durch einen besseren Umgang untereinander, sondern eher durch
eine Menge von Kinderkrankheiten von den anderen. Eine Entscheidung,
Partei zu sein, bedeutet Verantwortung zu übernehmen, Kompromisse
zu schließen, Regierungen in der einen oder anderen Weise
mitzutragen, wie das jetzt in Hessen geschieht. Wenn sie soweit
kommen, dann glaube ich, daß die Grünen eine längere Zukunft
vor sich haben. Und da die Grünen inzwischen auch ein konservatives
Wählerpotential einbringen, könnten sich dann insgesamt die
Gewichte zwischen links und rechts verschieben. Denn die Grünen
sind in absehbarer Zeit nicht mit der CDU/CSU koalitionsfähig,
genauso, wie die FDP mit uns nicht koalitionsfähig ist. So
gesehen ist das die größte Umschichtung in unserem Parteiengefüge
seit 1949, und sie geht weiter, wenn die FDP die 5-Prozenthürde
nicht mehr schaffen sollte.
Immer wieder dieselben Ergebnisse
Sie skizzieren hier sehr langsame, mittel- und längerfristige
Entwicklungen, die sich natürlich mit dem - durchaus im
Wortsinn - unheimlichen aktuellen Problemdruck spießen.
Ja sicher, ich verstehe eine solche Sorge. Alles was wir
tun, geschieht sehr viel langsamer, als es der Problemdruck
vorschreiben würde. Das gilt für das Parteiengefüge, für die
Administration, für die Medien und teilweise auch für das
Bewußtsein der Menschen. Ich habe aber gelernt, daß es völlig
hoffnungslos ist, Entwicklungen mit der Peitsche voranzutreiben.
Man kann sie dadurch bestenfalls stören oder abbrechen.
Herzlich Dank für das Gespräch.
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Erhard Eppler
(geb. 1926) ist derzeit Vorsitzender der Grundwertekommission
der SPD. Er war Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit (Entwicklungshilfe) und zuletzt SPD-Landesvorsitzender
in Baden-Württemberg. Veröffentlichungen u. a..- Ende
oder Wende. Von der Machbarkeit des Notwendigen, 1976;
Phantasie - Politik - Kultur. Protokoll eines Gesprächs
mit Michael Ende, Hanne Taechl, 1982; Die tödliche
Utopie der Sicherheit. Argumente für den Frieden,
1983.
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