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Falter Verlag
   

Kämpfe und Wendungen
Der ungarische Aufstand

Falter, Wien, Nr. 21/1986

Vor 30 Jahren ist der Aufstand in Ungarn niedergeschlagen worden; einige der damals so erbittert geforderten Freiheiten gehören inzwischen zum "Liberalisierungsmodell".

 

 

1956: Im Februar, knapp drei Jahre nach Stalins Tod, war es soweit, daß Chruschtschow am XX. Parteitag der KPdSU verbal versuchen konnte, radikal mit dessen Herrschaftssystem abzurechnen, mit dem "Klima der Unsicherheit, der Angst, der Verzweiflung", in dem die nationale Souveränität nichts galt und jeder als "Volksfeind" brutalen Repressalien ausgesetzt werden konnte. Die Auflehnung dagegen war aber auch so nicht mehr aufzuhalten. Seit dem Posener Aufstand im Juni gärte es in Polen, nur Gomulkas Rehabilitierung und seine Kooperation mit der organisierten Opposition verhinderten dort eine militärische Eskalation. In Ungarn funktionierten solche Bremsmechanismen schließlich nicht mehr.

Am 23. Oktober 1956, einem Dienstag, kommt es in Budapest zu - erst verbotenen, dann doch gestatteten - Sympathiekundgebungen für Gomulkas Polen. Die Menge zieht zum Stalin-Denkmal, bald darauf liegt es gestürzt am Boden. Ungarische Fahnen tauchen auf, mit einem Loch in der Mitte, wo das verhaßte Rákosi-Emblem herausgerissen worden war. Gegen Abend versammeln sich fast fünfhunderttausend Demonstranten um das Parlament. Imre Nagy, der eineinhalb Jahre zuvor wegen seiner "weichen Linie" aus allen Staats- und Parteiämtern entlassene Ex-Ministerpräsident, soll sprechen. Als er endlich herbeigeholt wird, will er vor allem beruhigen. Mangels Mikrophon hört ihn kaum wer, langsam zerstreuen sich die in ihren Erwartungen Enttäuschten. Vor dem Funkhaus versuchen mittlerweile andere Demonstrantengruppen, Sendezeit für seit Monaten diskutierte Forderungen zu erhalten. Als stattdessen eine haßerfüllte Standardrede von Ernö Gerö, seit Rákosis Sturz im Juni Erster Sekretär der Partei, ausgestrahlt wird, schlägt Sprachlosigkeit in Wut um. Einheiten des berüchtigten Staatssicherheitsdienstes AVH schießen in die erregte Menge. Als ihnen Ambulanzwagen versteckt Nachschub bringen wollen, gelangen auch Demonstranten in den Besitz von Waffen und Munition. Die entscheidende Wende zum allgemeinen Aufstand folgt wenig später; zur Verstärkung herbeigerufene Armeeverbände solidarisieren sich spontan mit den Angegriffenen. Gemeinsam wird das Funkhaus erobert, in der Offiziersschule, in Kasernen und Fabriken werden Waffen ausgegeben. Spätnachts rollen sowjetische Panzer wild um sich schießend in die Stadt, bereits überall auf heftigen Widerstand treffend.

Die sich rasch auf das ganze Land ausbreitenden Kämpfe dieser ersten Phase dauerten knapp eine Woche, dann war man politisch soweit, daß sich die Sowjettruppen aus der Hauptstadt zurückzogen. Inzwischen war Imre Nagy zum Ministerpräsidenten und János Kádár zum Parteichef berufen worden. In die neue Regierung wurden auch Nicht-Kommunisten aufgenommen, die Parteien von 1945 formierten sich neu. Für kurze Zeit schien sich ein befriedigendes Verhandlungsergebnis abzuzeichnen. Auf sowjetischer Seite wurde Botschafter Andropow durch Suslow und Mikojan ("Genosse Nagy, retten Sie, was zu retten ist") verstärkt. Vier Tage herrschte "Freiheit". Ab dem 1. November dringen zusätzliche sowjetische Truppen über die Grenzen vor, darauf kündigt die ungarische Regierung den Warschauer Pakt, da diese "Hilfe" gegen ihren ausdrücklichen Protest erfolge, und proklamiert die Neutralität Ungarns. Selbst Kádárs "neue" KP-Führung hatte - mit Ausnahme György Lukács und Zoltán Szántós - keinerlei Einwände. Am Tag darauf jedoch sind Kádár und einige andere Führungsleute verschwunden, erst langsam wird klar, daß sie eine Gegenregierung unter sowjetischer Schirmherrschaft bilden würden. "Meiner Meinung nach", so Sándor Kópacsi (Die ungarische Tragödie. Wie der Aufstand von 1956 liquidiert wurde. Erinnerungen des Polizeipräsidenten von Budapest. Stuttgart 1979), "war es nichts anderes als ein Diktat des KGB, der borniertesten politischen Polizei unserer Zeit. Hatte nicht Kádár erst drei Tage vorher in Anwesenheil von Botschafter Andropow erklärt: "Wenn die Sowjettruppen nach Budapest zurückkehren, werde ich auf die Straße laufen und sie mit bloßen Händen bekämpfen'?".
Dennoch fährt am 3. November eine Regierungsdelegation unter dem neuen Verteidigungsminister Pál Maléter, der als Kommandant der Kilián-Kaserne das Zentrum des bewaffneten Aufstandes befehligt hatte, das zehnmal vergeblich von Sowjettruppen angegriffen worden war, zu weiteren Verhandlungen ins russische Hauptquartier nach Tököl. Nach einem Empfang mit allen militärischen Ehren vertieft man sich in Einzelheiten des Truppenabzuges: Abschiedsreden, Blumen für die Soldaten, späterer Abtransport des beschädigten Kriegsmaterials. Gegen Mitternacht stürmen KGB-Leute unter persönlicher Führung ihres höchsten Chefs, General Serow, herein und verhaften die gesamte Abordnung. Im Morgengrauen des 4. November folgt der längst vorbereitete militärische Angriff, "in der offenkundigen Absicht", so Imre Nagy in seiner verzweifelten Radioproklamation, "die legale, demokratische Regierung Ungarns zu stürzen". Zehn Tage lang wurde erbittert Widerstand geleistet. Als letzte Stadt kapitulierte Sztálinváros (heute Dunajváros), die als "erste sozialistische Stadt der Volksrepublik'* Symbol des allen Regimes gewesen ist.

Nur über wenige der zahllosen damaligen Aktivisten sind schriftliche Informationen verfügbar (neben Kopácsi's Erinnerungen ist vor allem der dtv-Band von 1981, "Der ungarische Volksaufstand in Augenzeugenberichten" zu nennen):
Imre Nagy war seit dem Ersten Weltkrieg Kommunist, kämpfte in der Roten Armee, hat illegal in der ungarischen Bauernbewegung und dann 15 Jahre in der Sowjetunion gearbeitet; 1944 wurde er Spitzenfunktionär der KP, Landwirtschafts- und später Innenminister, von 1953-55 war er, wie dann auch während des Aufstandes, Ministerpräsident. Nachdem er seinen Fluchtort, die jugoslawische Botschaft (die auch viele andere Prominente aufgenommen hatte), gegen die von Kádár persönlich bestätigte Zusicherung von Straffreiheit verlassen hatte, ist er mit seiner ganzen Gruppe sofort verhaftet, nach Rumänien gebracht und nach einem Geheimprozeß am 16. Juni 1958 im Budapester Zentralgefängnis gehängt worden.
Pál Maléter war Sowjetpartisan, dann kommunistischer Offizier, SchlüsseIfigur des militärischen Widerstandes und für wenige Tage Verteidigungsminister. Er ist zugleich mit Imre Nagy und dem Journalisten Miklós Gimes hingerichtet worden.
Joszef Szilagyi, Altkommunist, Oberst im Innenministerium, dann politisch Verfolgter, schließlich Leiter von Nagy's Sekretariat, wurde gehängt, Géza Losonczy, Journalist und Staatsminister in der 2. Regierung Nagy ist 1957, als "nicht mehr vorzeigbarer", geistig verwirrter Häftling durch Pumpen von Flüssigkeit in seine Lunge umgebracht worden (Diagnose: Embolie).
Sándor Kopácsi, Kommunist, Metalldreher, 1952-56 Polizeipräsident von Budapest, zuerst "neutral", dann gewählter 2. Kommandeur der "Patriotischen Revolutionsmiliz", ist(wegen der Fürsprache Kádárs) nur zu lebenslangem Kerker verurteilt worden. Nach sieben Jahren wurde er amnestiert und durfte 1975 nach Kanada auswandern. Béla Kiraly, als General der Volksarmee, Stadtkommandant von Budapest und Kommandeur der Milizen dessen direkter Vorgesetzter während der Kämpfe, konnte sich mit Resten seiner Einheiten im November 1956 nach Westen durchschlagen.
Von den Anführern unabhängiger Aufständischengruppen - fast durchwegs einfache Arbeiter - sind János Szabó, Sándor Angyal und József Dudás hingerichtet worden; den Brüdern Pongrácz gelang die Flucht.
Lange Kerkerstrafen und eine unbekannte Zahl weiterer Todesurteile gab es für eine ebenso unbekannte Zahl identifizierbarer Gegner des neuen Regimes, die nicht - wie über 200.000 ihrer Landsleute - rechtzeitig nach Österreich hatten flüchten können. Intellektuelle. wie der Schriftsteller Tibor Déry (der eine Führungsposiiion während des Aufstandes abgelehnt hatte). Zoltán Zelk, Tibor Tardos, oder der Dramatiker Gyula Hay wurden meist nach vier, der Soziologe István Bibó erst nach sieben Jahren amnestiert.
Gvörgy Lukács, schon 1919 Volkskommissar für das Unterrichtswesen unter Béla Kun und 1956 einer der intellektuellen Führer des Petöfi-Kreises, in dem die geplanten Reformen vorausgedacht worden waren, ist, nachdem er kurz Kulturminister der "freien" Regierung Nagy gewesen war, für lange Zeit flach Rumänien deportiert worden und starb 1971 Budapest, ohne daß er daheim wieder aktiver hätte tätig werden können.
János Kádár, die Zentralfigur der Entwicklung seit 1956, war schon während des Krieges hoher KP-Funktionär und von 1948-51 Innenminister. Anschließend war er in Haft und wurde schwer gefoltert: "Seine Vorderzähne waren eingeschlagen, seine Haut hing an vielen Stellen in Fetzen herab, und es hieß, sein Verstand habe gelitten (Kopácsi, S. 78). 1954 wurde er rehabilitiert und während des Aufstandes Parteichef. Sein Frontwechsel als einer von sieben des damaligen Spitzengremiums hat vorgeführt, was Pragmatismus sein kann. Es gibt Informationen, dass ihn seine sowjetischen Partner sogar gezwungen haben, die Hinrichtung von Nagy, Maléter und Gimes mitanzusehen (die übrigens von Sowjetoffizieren gefilmt worden sein soll), so wie ihm angeblich auch Rákosi, "der ungarischen Stalin", 1949 nicht erspart hatte, bei László Rajks Hinrichtung dabeizusein, dem er persönlich versprochen hatte, trotz des Schauprozesses mit dem Leben davonzukommen.
Von Oktober bis Dezember 1956 sank der Mitgliederstand der KP Ungarns von 900.000 auf 96.000, und erst sehr langsam entwickelte er sich wieder in die von früher her bekannten Höhen. Die "Neueste Geschichte Ungarns" (von Rochus Door, Berlin/DDR 1981) übergeht all das in einem bloß sechsseitigen Kapitel über die "Niederschlagung der Konterrevolution". Ihr zufolge brachen Kádár und die anderen mit Nagy und seinen Anhängern, als an deren "verräterischer Rolle" und an der bekannten Notwendigkeit, ein "Hilfeersuchen" an die UdSSR zu richten, kein Zweifel mehr bestand. Zur Erklärung der Ereignisse stützt man sich nach wie vor auf den Parteitagsbeschluß von 1959 (!), der vier zusammenwirkende Faktoren nennt: "Die sektiererischen Fehler ehemaliger Führer der Partei der ungarischen Werktätigen, die verräterische Tätigkeit der revisionistischen Gruppen um Imre Nagy, die inneren konterrevolutionären bürgerlichen Kräfte und die Wühltätigkeit des internationalen Imperialismus."
Um wieviel dezidierter und spontaner die Zusammenhänge wirklich waren, wird - neben dem Einfluß der gleichzeitigen Suez-Krise, dem Kalten Krieg oder der Chruschtschow-Mao-Tito-Balance - selbst an einer signifikanten Phase der Kämpfe in Budapest deutlich: Am 25. Oktober, als sich vor dem Parlament etwa 20.000 Leute versammelt hatten, froh gestimmt, weil sich politische Hoffnungen abzeichneten, kam es zur Verbrüderung mit den Besatzungen der zahlreichen dort postierten sowjetischen Panzer, die langsam begriffen, daß sie keine "Faschisten" vor sich hatten. Mitten in diese Szenen hinein begann der auf den Dächern postierte Sicherheitsdienst AVH zu feuern, es gab ein grauenhaftes Massaker mit vielen hundert Toten, und die Sowjetpanzer schossen zurück, plötzlich einen sehr realen Gegner wahrnehmend, der sonst nur aus der Anonymität heraus operierte.

 

 
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© Christian Reder 1986/2001