1956: Im Februar, knapp drei Jahre nach Stalins Tod, war
es soweit, daß Chruschtschow am XX. Parteitag der KPdSU verbal
versuchen konnte, radikal mit dessen Herrschaftssystem abzurechnen,
mit dem "Klima der Unsicherheit, der Angst, der Verzweiflung",
in dem die nationale Souveränität nichts galt und jeder als
"Volksfeind" brutalen Repressalien ausgesetzt werden konnte.
Die Auflehnung dagegen war aber auch so nicht mehr aufzuhalten.
Seit dem Posener Aufstand im Juni gärte es in Polen, nur Gomulkas
Rehabilitierung und seine Kooperation mit der organisierten
Opposition verhinderten dort eine militärische Eskalation.
In Ungarn funktionierten solche Bremsmechanismen schließlich
nicht mehr.
Am 23. Oktober 1956, einem Dienstag, kommt es in Budapest
zu - erst verbotenen, dann doch gestatteten - Sympathiekundgebungen
für Gomulkas Polen. Die Menge zieht zum Stalin-Denkmal, bald
darauf liegt es gestürzt am Boden. Ungarische Fahnen tauchen
auf, mit einem Loch in der Mitte, wo das verhaßte Rákosi-Emblem
herausgerissen worden war. Gegen Abend versammeln sich fast
fünfhunderttausend Demonstranten um das Parlament. Imre Nagy,
der eineinhalb Jahre zuvor wegen seiner "weichen Linie" aus
allen Staats- und Parteiämtern entlassene Ex-Ministerpräsident,
soll sprechen. Als er endlich herbeigeholt wird, will er vor
allem beruhigen. Mangels Mikrophon hört ihn kaum wer, langsam
zerstreuen sich die in ihren Erwartungen Enttäuschten. Vor
dem Funkhaus versuchen mittlerweile andere Demonstrantengruppen,
Sendezeit für seit Monaten diskutierte Forderungen zu erhalten.
Als stattdessen eine haßerfüllte Standardrede von Ernö Gerö,
seit Rákosis Sturz im Juni Erster Sekretär der Partei, ausgestrahlt
wird, schlägt Sprachlosigkeit in Wut um. Einheiten des berüchtigten
Staatssicherheitsdienstes AVH schießen in die erregte Menge.
Als ihnen Ambulanzwagen versteckt Nachschub bringen wollen,
gelangen auch Demonstranten in den Besitz von Waffen und Munition.
Die entscheidende Wende zum allgemeinen Aufstand folgt wenig
später; zur Verstärkung herbeigerufene Armeeverbände solidarisieren
sich spontan mit den Angegriffenen. Gemeinsam wird das Funkhaus
erobert, in der Offiziersschule, in Kasernen und Fabriken
werden Waffen ausgegeben. Spätnachts rollen sowjetische Panzer
wild um sich schießend in die Stadt, bereits überall auf heftigen
Widerstand treffend.
Die sich rasch auf das ganze Land ausbreitenden Kämpfe dieser
ersten Phase dauerten knapp eine Woche, dann war man politisch
soweit, daß sich die Sowjettruppen aus der Hauptstadt zurückzogen.
Inzwischen war Imre Nagy zum Ministerpräsidenten und János
Kádár zum Parteichef berufen worden. In die neue Regierung
wurden auch Nicht-Kommunisten aufgenommen, die Parteien von
1945 formierten sich neu. Für kurze Zeit schien sich ein befriedigendes
Verhandlungsergebnis abzuzeichnen. Auf sowjetischer Seite
wurde Botschafter Andropow durch Suslow und Mikojan ("Genosse
Nagy, retten Sie, was zu retten ist") verstärkt. Vier Tage
herrschte "Freiheit". Ab dem 1. November dringen zusätzliche
sowjetische Truppen über die Grenzen vor, darauf kündigt die
ungarische Regierung den Warschauer Pakt, da diese "Hilfe"
gegen ihren ausdrücklichen Protest erfolge, und proklamiert
die Neutralität Ungarns. Selbst Kádárs "neue" KP-Führung hatte
- mit Ausnahme György Lukács und Zoltán Szántós - keinerlei
Einwände. Am Tag darauf jedoch sind Kádár und einige andere
Führungsleute verschwunden, erst langsam wird klar, daß sie
eine Gegenregierung unter sowjetischer Schirmherrschaft bilden
würden. "Meiner Meinung nach", so Sándor Kópacsi (Die ungarische
Tragödie. Wie der Aufstand von 1956 liquidiert wurde. Erinnerungen
des Polizeipräsidenten von Budapest. Stuttgart 1979), "war
es nichts anderes als ein Diktat des KGB, der borniertesten
politischen Polizei unserer Zeit. Hatte nicht Kádár erst drei
Tage vorher in Anwesenheil von Botschafter Andropow erklärt:
"Wenn die Sowjettruppen nach Budapest zurückkehren, werde
ich auf die Straße laufen und sie mit bloßen Händen bekämpfen'?".
Dennoch fährt am 3. November eine Regierungsdelegation unter
dem neuen Verteidigungsminister Pál Maléter, der als Kommandant
der Kilián-Kaserne das Zentrum des bewaffneten Aufstandes
befehligt hatte, das zehnmal vergeblich von Sowjettruppen
angegriffen worden war, zu weiteren Verhandlungen ins russische
Hauptquartier nach Tököl. Nach einem Empfang mit allen militärischen
Ehren vertieft man sich in Einzelheiten des Truppenabzuges:
Abschiedsreden, Blumen für die Soldaten, späterer Abtransport
des beschädigten Kriegsmaterials. Gegen Mitternacht stürmen
KGB-Leute unter persönlicher Führung ihres höchsten Chefs,
General Serow, herein und verhaften die gesamte Abordnung.
Im Morgengrauen des 4. November folgt der längst vorbereitete
militärische Angriff, "in der offenkundigen Absicht", so Imre
Nagy in seiner verzweifelten Radioproklamation, "die legale,
demokratische Regierung Ungarns zu stürzen". Zehn Tage lang
wurde erbittert Widerstand geleistet. Als letzte Stadt kapitulierte
Sztálinváros (heute Dunajváros), die als "erste sozialistische
Stadt der Volksrepublik'* Symbol des allen Regimes gewesen
ist.
Nur über wenige der zahllosen damaligen Aktivisten sind schriftliche
Informationen verfügbar (neben Kopácsi's Erinnerungen ist
vor allem der dtv-Band von 1981, "Der ungarische Volksaufstand
in Augenzeugenberichten" zu nennen):
Imre Nagy war seit dem Ersten Weltkrieg Kommunist, kämpfte
in der Roten Armee, hat illegal in der ungarischen Bauernbewegung
und dann 15 Jahre in der Sowjetunion gearbeitet; 1944 wurde
er Spitzenfunktionär der KP, Landwirtschafts- und später Innenminister,
von 1953-55 war er, wie dann auch während des Aufstandes,
Ministerpräsident. Nachdem er seinen Fluchtort, die jugoslawische
Botschaft (die auch viele andere Prominente aufgenommen hatte),
gegen die von Kádár persönlich bestätigte Zusicherung von
Straffreiheit verlassen hatte, ist er mit seiner ganzen Gruppe
sofort verhaftet, nach Rumänien gebracht und nach einem Geheimprozeß
am 16. Juni 1958 im Budapester Zentralgefängnis gehängt worden.
Pál Maléter war Sowjetpartisan, dann kommunistischer Offizier,
SchlüsseIfigur des militärischen Widerstandes und für wenige
Tage Verteidigungsminister. Er ist zugleich mit Imre Nagy
und dem Journalisten Miklós Gimes hingerichtet worden.
Joszef Szilagyi, Altkommunist, Oberst im Innenministerium,
dann politisch Verfolgter, schließlich Leiter von Nagy's Sekretariat,
wurde gehängt, Géza Losonczy, Journalist und Staatsminister
in der 2. Regierung Nagy ist 1957, als "nicht mehr vorzeigbarer",
geistig verwirrter Häftling durch Pumpen von Flüssigkeit in
seine Lunge umgebracht worden (Diagnose: Embolie).
Sándor Kopácsi, Kommunist, Metalldreher, 1952-56 Polizeipräsident
von Budapest, zuerst "neutral", dann gewählter 2. Kommandeur
der "Patriotischen Revolutionsmiliz", ist(wegen der Fürsprache
Kádárs) nur zu lebenslangem Kerker verurteilt worden. Nach
sieben Jahren wurde er amnestiert und durfte 1975 nach Kanada
auswandern. Béla Kiraly, als General der Volksarmee, Stadtkommandant
von Budapest und Kommandeur der Milizen dessen direkter Vorgesetzter
während der Kämpfe, konnte sich mit Resten seiner Einheiten
im November 1956 nach Westen durchschlagen.
Von den Anführern unabhängiger Aufständischengruppen - fast
durchwegs einfache Arbeiter - sind János Szabó, Sándor Angyal
und József Dudás hingerichtet worden; den Brüdern Pongrácz
gelang die Flucht.
Lange Kerkerstrafen und eine unbekannte Zahl weiterer Todesurteile
gab es für eine ebenso unbekannte Zahl identifizierbarer Gegner
des neuen Regimes, die nicht - wie über 200.000 ihrer Landsleute
- rechtzeitig nach Österreich hatten flüchten können. Intellektuelle.
wie der Schriftsteller Tibor Déry (der eine Führungsposiiion
während des Aufstandes abgelehnt hatte). Zoltán Zelk, Tibor
Tardos, oder der Dramatiker Gyula Hay wurden meist nach vier,
der Soziologe István Bibó erst nach sieben Jahren amnestiert.
Gvörgy Lukács, schon 1919 Volkskommissar für das Unterrichtswesen
unter Béla Kun und 1956 einer der intellektuellen Führer des
Petöfi-Kreises, in dem die geplanten Reformen vorausgedacht
worden waren, ist, nachdem er kurz Kulturminister der "freien"
Regierung Nagy gewesen war, für lange Zeit flach Rumänien
deportiert worden und starb 1971 Budapest, ohne daß er daheim
wieder aktiver hätte tätig werden können.
János Kádár, die Zentralfigur der Entwicklung seit 1956, war
schon während des Krieges hoher KP-Funktionär und von 1948-51
Innenminister. Anschließend war er in Haft und wurde schwer
gefoltert: "Seine Vorderzähne waren eingeschlagen, seine Haut
hing an vielen Stellen in Fetzen herab, und es hieß, sein
Verstand habe gelitten (Kopácsi, S. 78). 1954 wurde er rehabilitiert
und während des Aufstandes Parteichef. Sein Frontwechsel als
einer von sieben des damaligen Spitzengremiums hat vorgeführt,
was Pragmatismus sein kann. Es gibt Informationen, dass ihn
seine sowjetischen Partner sogar gezwungen haben, die Hinrichtung
von Nagy, Maléter und Gimes mitanzusehen (die übrigens von
Sowjetoffizieren gefilmt worden sein soll), so wie ihm angeblich
auch Rákosi, "der ungarischen Stalin", 1949 nicht erspart
hatte, bei László Rajks Hinrichtung dabeizusein, dem er persönlich
versprochen hatte, trotz des Schauprozesses mit dem Leben
davonzukommen.
Von Oktober bis Dezember 1956 sank der Mitgliederstand der
KP Ungarns von 900.000 auf 96.000, und erst sehr langsam entwickelte
er sich wieder in die von früher her bekannten Höhen. Die
"Neueste Geschichte Ungarns" (von Rochus Door, Berlin/DDR
1981) übergeht all das in einem bloß sechsseitigen Kapitel
über die "Niederschlagung der Konterrevolution". Ihr zufolge
brachen Kádár und die anderen mit Nagy und seinen Anhängern,
als an deren "verräterischer Rolle" und an der bekannten Notwendigkeit,
ein "Hilfeersuchen" an die UdSSR zu richten, kein Zweifel
mehr bestand. Zur Erklärung der Ereignisse stützt man sich
nach wie vor auf den Parteitagsbeschluß von 1959 (!), der
vier zusammenwirkende Faktoren nennt: "Die sektiererischen
Fehler ehemaliger Führer der Partei der ungarischen Werktätigen,
die verräterische Tätigkeit der revisionistischen Gruppen
um Imre Nagy, die inneren konterrevolutionären bürgerlichen
Kräfte und die Wühltätigkeit des internationalen Imperialismus."
Um wieviel dezidierter und spontaner die Zusammenhänge wirklich
waren, wird - neben dem Einfluß der gleichzeitigen Suez-Krise,
dem Kalten Krieg oder der Chruschtschow-Mao-Tito-Balance -
selbst an einer signifikanten Phase der Kämpfe in Budapest
deutlich: Am 25. Oktober, als sich vor dem Parlament etwa
20.000 Leute versammelt hatten, froh gestimmt, weil sich politische
Hoffnungen abzeichneten, kam es zur Verbrüderung mit den Besatzungen
der zahlreichen dort postierten sowjetischen Panzer, die langsam
begriffen, daß sie keine "Faschisten" vor sich hatten. Mitten
in diese Szenen hinein begann der auf den Dächern postierte
Sicherheitsdienst AVH zu feuern, es gab ein grauenhaftes Massaker
mit vielen hundert Toten, und die Sowjetpanzer schossen zurück,
plötzlich einen sehr realen Gegner wahrnehmend, der sonst
nur aus der Anonymität heraus operierte.
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