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Falter Verlag
   

Fremde im Dorf
Notizen über das Betreten der Republik

Falter, Wien, Nr. 14/1988

 

 

Unter den fragwürdigen Selbstverständlichkeiten in diesem Land wird eine wenig beachtet: Es gibt keine gebürtigen Österreicher im Alter von 43 bis 50 Jahren. Wer älter ist als die Zweite Republik und die Erste nicht mehr erlebt hat, wurde in einem anderen Land, mit anderer Staatsbürgerschaft geboren. Welche frühen Erinnerungen prägen also jene, die mit kindlichem Gemüt und meist schon halbwegs bei Verstand diese Republik betreten haben und von ihr nicht losgekommen sind?

Nennen wir den, der darauf antworten soll, für diesen kurzen Beitrag B., wie Beobachter, wie Bürger, wie Beispiel. Wegen des Krieges hat er die ersten Jahre am Land aufwachsen können, in einer Normalität allgemeiner Ärmlichkeit und voller Möglichkeiten, einen Tag gut zu verbringen. Am Anfang empfand er nicht Not, wie ihm später vorgeschrieben wurde. Die kam lange nachher und auf ganz anderen Wegen. Elementar spürbar aber ist gewesen, dass er und die Seinen Fremde waren und es über Jahre geblieben sind. Selbst unter Kindern haben siech nur mit anderen Fremden, nie mit Einheimischen, freundschaftliche Beziehungen ergeben. Zum Dörflich-Klein- städtischen mit dieser ihm eigentümlichen, offenliegenden, mißtrauischen Perfidie hat sich nie wieder eine Zuneigung entwickein können. Die echten Fremden hingegen, die russischen Besatzungssoldaten, sind in ihrer Herzlichkeit ein markantes Ereignis geblieben; der erste aufgekommene Auszählreim "Drei Kommunisten scheißen in die Kist'n, zwei putzen aus, und Du bist drauß't" ist nie mit ihnen in Zusammenhang gebracht worden. Was ein Held ist, wurde deutlicher, als einmal ein stolzer, eindrucksvoll an Gendarmen geketteter Räuber am Begräbnis seiner Mutter teilnehmen durfte. Die ziemlich frischen Gräber der Selbstmörder außerhalb der Friedhofsmauer sind ein schaurig-verschwiegener Anziehungspunkt gewesen. Und ein riesiges altes Radio hat geheimnisvolle Verbindungen zu einer anderen Welt hergestellt, die sich durch jahrelang unverstanden gebliebene Bezeichnungen wie Beromünster oder Ljubljana getarnt hat.

Wien hat B. als düstere Ruinenstadt kennengelernt, die - wegen des ersten Kinobesuchs - unmittelbar in einen Dschungel mit überwucherten Tempeln übergangen ist. in deren unterirdischen Hallen Götzendiener wunderschöne weiße Frauen über lodernde Feuerstellen gehangt hatten, der Retter alles noch zum Guten wenden konnte. Aus der ersten Wiener Wohnung führte eine Tür direkt in einen ausgebombten Trakt, in dein man herumklettern konnte, gleichsam als Ersatz für den gewohnten Wald und die zunehmend verschwindenden Gstett'n.

Um in der obligaten Schulmesse etwas zu tun zu haben, ist B. Ministrant geworden, weiter als zum linken hat er es nicht gebracht, weil er es gern dem rechten überlassen hat, sich alle lateinischen Sprüche und Feinheiten des Rituals zu merken. Dennoch ist die Religion über die vorpubertären Jahre hinweg die bestimmende Möglichkeit für etwas schemenhaft anderes gewesen. Der schläfrige Hirte allerdings, den B. in einem Krippenspiel, seinem ersten öffentlichen Auftritt, darstellen mußte, hat nichts anderes tun dürfen, als zum richtigen Zeitpunkt "Wo brennt's denn?" zu rufen. Ein Mitschüler mit lustigern Namen, aber einem schweren Nervenleiden, ist besonders schonend behandelt worden. Jude sei er, hat es geheißen, und keiner wußte genauer, was das wir. Sein Vater hat das Café Bastei als Büro benutzt, was irgendwie imponierend war, aber den Erwachsenen hat das nicht als anständig gegolten. Diese "Anständigen" sind B. wie ein Geheimblind erschienen, die nie Ausgesprochenes verteidigt und sich gegen irgendetwas gestellt haben. Treue und Verrat waren wichtige Themen. Selbst auf der Straße oder bei flüchtigen Begegnungen hat er in Familienbegleitung diese gewissen Blicke aufgefangen, Blicke des sich Wiedererkennens, der Kontaktbereitschaft, eines gemeinsamen Wissens und Schweigens, einer schroffen, aber versteckten Ablehnung. Früher, damals oder später, waren wichtige Leute darunter, auch solche, die ständig öffentlich erklären, daß es eigentlich nichts zu verbergen gäbe. Alle Bekanntschaften der Großen waren alte Bekanntschaften, auch B., das Kind, wurde meist mir als Sohn von dem und dem betrachtet. Noch nach Jahren traf er auf Gegenüber, die unsicher waren, was er alles mitbekornnien hatte. Zum früh gestorbenen Onkel hingegen, der, wie er schließ]ich erfuhr. über seine Zeit bei der Waffen-SS nie wieder ein Wort herausgebracht hatte, bestand eine, vielleicht ahnungsvoll scheue Beziehung.

Die rohen Töne über .,KZIer" und andere "Nutznießer" der Nachkriegssituation ("Sozis", "Cver" etc.) gehörten zum üblichen privaten Sprachgebrauch. Öffentlich ist vieles völlig konträr behandelt worden - im kleinen Kreis feindselig kommentiert -, aber kaum bis zur Erfahrungswelt abgeschlossen Heranwachsender durchgedrungen. Nichteinmal zu konkreten Fragen haben solche Anzeichen für seltsame Vorkommnisse gereicht. Die Erfahrung unsichtbarer Zusammenhänge jedoch ist eine sehr konkret weiterwirkende Kraft geblieben. Es hat zwanzig, dreißig Jahre gedauert, bis manches bloßgelegt werden könnte, in Gesprächen mit dem seit der Kindheit vertrauten Familienfreund, dessen führende Mitgliedschaft in der Widerstandsbewegung 05 früher nie ein Thema gewesen wir, oder durch plötzlich offenere Aussagen, spätestens 1939 so ziemlich "alles" gewußt zu haben, z.B. weil eine, einer bestimmten Fraktion von Ehemaligen wichtige Person von ihrer ersten Begegnung mit Heydrich in Prag berichtet hatte, sie habe "in das Antlitz des Teufels gesellen". Die Öffentlichkeit war aber gerade in jener endlos verspäteten Phase punktuell keimender weil zunehmend aggressiv geforderter, interner Aufklärungsbereitschaft längst vollauf mit Nichtwissen und Pflichterfüllung programmiert.

Ästhetische Sickerprozesse

Was war und was stattfand, ist einem Schüler wie B. in den fünfziger Jahren völlig undurchsichtig gewesen. Für wichtig gegolten hat, ob ein Vater "im Krieg geblieben" ist oder er dieses, als wirre Abfolge ritterlich-technischer Schlachten verstandene Ereignis ehrenvoll durchgestanden hat. Nie hat sich einer damit zu prahlen getraut, dass seiner auf einer anderen Seite gekämpft hat. Bei fremden Familien war willkommen, wer zumindest lose dazupaßte. Vom Hakenkreuz etwa war B. und seinen damaligen Freunden nur das herausfordernde Verbot bekannt, es irgendwo hin zu malen. Daß plötzlich ein Zeichenlehrer sehr empfindlich auf eine solche Aktion reagiert hat, war irritierend, ist aber trotz Schulskandal ohne belehrende Konsequenzen geblieben. Waren doch selbst die offiziellen Pfadfindermesser, abgesehen vom Emblem, identisch mit den HJ-Dolchen, die fast jeder noch irgendwo vorgefunden hatte, Auch die. kurze schwarze Schnürlsamthose hat sich als Uniformteil gleich wieder eingebürgert, obwohl das verfemte HJ-Vorbild den Jüngeren in seinen Details überhaupt nicht bekannt war. Die Sickerprozesse sind gerade im Ästhetischen sehr prägend gewesen. Von den anderen Uniformierten, jenen mit den blauen Blusen und roten Halstüchern, wußte man nur, daß sie eben die anderen waren, nicht Feinde, aber irgendwie unerwünschte, eher gefährliche Fremde. Bei der Glockenweihe vor der Votivkirche ist es B. ohne daß ihm irgendeine Instruktion gegeben worden wäre, völlig normal erschienen, die eine Stunde Ehrenwache unbeweglich stramm zu stehen, die Beine leicht gespreizt, die Arme am Rücken verschränkt, der Blick starr geradeaus. Der empörte alte Mann, der ihn an den Schultern gerüttelt und geschrien hat "Bub! Nicht schon wieder! Nicht schon wieder!", ist auch von den Umstehenden als skurriler, unverstandener Störenfried angesehen worden. Als dann der Bundespräsident Körner gestorben ist, mußten in der Schule Gedenkzeichnungen fabriziert werden; B. fand einen leeren Thronsessel passend und ist wahrscheinlich dafür gelobt worden.

Wie sich die neuen Herrscher aufgeführt haben, hat er von Kind auf an Negativbeispielen geschildert bekommen. Gesprächsthemen daheim waren Unfähigkeit, Korruption, Parteienwirtschaft (als wirklich wählbar galt keine). Persönlich hat B. das alles z.B. bei Auftritten eines seit Jahren überall im Gerede befindlichen, aber erst ein Jahrzehnt später verurteilten Spitzenpolitikers bestätigt gefunden, der in "seinem" Land Niederösterreich als Landes-Vize und Elektrizitätschef tun und lassen .konnte, was er wollte.

Unsichtbare Sozialisten

Nie ist in den damaligen schulisch-familiären Zusammenhängen ein "wirklicher" Sozialist aufgetaucht. Nur Zeichen haben Hinweise auf gegnerische und subversive Kräfte gegeben. "Rettet die Rosenbergs" stand auf vielen Mauern. Antworten, wer das sei, waren nur sehr indirekt zu bekommen. Es war ja schon wieder Krieg, in Korea, und diese Verräter hätten für den Feind Formeln der Atombombe ausspioniert und kämen eben dafür in Amerika auf den elektrischen Stuhl. Viel später hat B.s Vater dann bestätigt, daß er sein Leben lang nie mit einem Sozialisten in nennenswerten persönlichen Kontakt gekommen ist. So unterschiedlich "bürgerliche" Standpunkte auch gewesen sein mochten, in bezug auf Gegner war bei tendenziell "Gleichgesinnten" eine spontane anti-liberale Verständigungsbereitschaft aufrecht. Über einige Lehrer und Eltern ist zwar etwas von "Rot" gemunkelt worden, sie haben sich aber in allen drei Wiener Schulen, die B. besucht hat, verdeckt gehalten. Politische Kontroversen waren in unmerkliche Sphären verdrängt. Spenden an. Elternvereine konnten irgendwelche Götter günstig stimmen, und für völlig Gescheiterte blieb immer noch der Weg in die NS-orientierte Höttl-Schule. in Aussee. Im Unterrichtsministerium kam (nach Ernst Fischer, Hurdes und Kolb) die Drimmel-Zeit, eine verhängnisvoll lang nachwirkende Ära geplanter Versteckenspiele. Daß in B.s Zeugnissen zuerst verschämt "Unterrichtssprache" steht, dann "Deutsche Unterrichtsspräche" und erst ab 1955 "Deutsch", ist nicht bloß ein Kuriosum damaliger verwirrt-bürokratischer Identitätssuche. Das "Österreichische", das im Schulbetrieb über Jahre unbegreiflich einseitig - durch Wildgans, Ginzkey, Mell, Waggerl, Handel-Mazzetti, Preradovic - vertreten werden mußte, dürfte damals selbst den schärfsten Apologeten einer Abnabelung vom kollektiven Traum eines neuen großen Reiches (dem bekanntlich keineswegs nur Nazis verfallen gewesen sind). als offizielle Neusprache absurd erschienen sein.

Sonderbar war, daß der Jubel der Massen beim Einzug der Pummerin ansteckend gewirkt hat, drei Jahre später jedoch der Staatsvertragsabschluß eher als normaler, nur nebenher im Radio verfolgter und nicht gerade besonders freudig kommentierter politischer Akt in Erinnerung geblieben ist. Der Wohlstand von manchen hatte längst schon das Erlebnis der Distanz unter den Gymnasiasten verstärkt. Den Eltern waren ihre "angestammten" Positionen wieder zugewachsen. Gelegentlich wurde pro forma mit dieser oder jener Partei paktiert; wer es nicht nötig hatte, kam selbst um solche Versuchungen herum. Interessen waren privatisiert. Was öffentlich ablief, ist überwiegend negativ besetzt gewesen.

Eine Gewöhnung in die Mühseligkeit demokratischer Prozesse konnte niemand vorweisen. Erst die neue Musik und vager Existenzialismus haben in der hier thematisierten Generation wieder zu trotzigeren Gruppenbildungen geführt. Aber: Als die höheren Klassen einmal ohne Vorwarnung eine Sonderausstellung mit grauenhaften Fotos aus Konzentrationslagern und vom Partisanenkrieg besuchen mußten und nachher im Physiksaal ein hilfloser Lehrer Kommentare versucht hat, ist gequält gelacht worden.

Daß jeglicher öffentliche Halt für andere Haltungen gefehlt hat, ist - angeblich österreichischer Tradition gemäß - zur latenten Möglichkeit transformiert worden, dem Möglichen auszuweichen.

Nachsatz 1: "Heimat" ist vielleicht bloß das, was sich über genaue Kenntnis als nah und daher als unmittelbar begreifbar erweist.

Nachsatz 2: Daß anhand einiger weniger, von konventionellen Konflikten abweichender "Krisen" tiefgehende Entzweiungen dieser "Heimat" sichtbar geworden sind, hat wiederum komplexe innere Zusammenhänge, denen die Analyse verweigert wird: (1) Friedrich Peter (Ein Vorspiel), (2) Zwentendorf, (3) Hainburg, (4) Waldheim. Die "fundamentalen" Ergänzungsskandale dürften zugehörige Strukturmerkmale sein.

 

 
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© Christian Reder 1988/2001