Unter den fragwürdigen Selbstverständlichkeiten in diesem
Land wird eine wenig beachtet: Es gibt keine gebürtigen Österreicher
im Alter von 43 bis 50 Jahren. Wer älter ist als die Zweite
Republik und die Erste nicht mehr erlebt hat, wurde in einem
anderen Land, mit anderer Staatsbürgerschaft geboren. Welche
frühen Erinnerungen prägen also jene, die mit kindlichem Gemüt
und meist schon halbwegs bei Verstand diese Republik betreten
haben und von ihr nicht losgekommen sind?
Nennen wir den, der darauf antworten soll, für diesen kurzen
Beitrag B., wie Beobachter, wie Bürger, wie Beispiel. Wegen
des Krieges hat er die ersten Jahre am Land aufwachsen können,
in einer Normalität allgemeiner Ärmlichkeit und voller Möglichkeiten,
einen Tag gut zu verbringen. Am Anfang empfand er nicht Not,
wie ihm später vorgeschrieben wurde. Die kam lange nachher
und auf ganz anderen Wegen. Elementar spürbar aber ist gewesen,
dass er und die Seinen Fremde waren und es über Jahre geblieben
sind. Selbst unter Kindern haben siech nur mit anderen Fremden,
nie mit Einheimischen, freundschaftliche Beziehungen ergeben.
Zum Dörflich-Klein- städtischen mit dieser ihm eigentümlichen,
offenliegenden, mißtrauischen Perfidie hat sich nie wieder
eine Zuneigung entwickein können. Die echten Fremden hingegen,
die russischen Besatzungssoldaten, sind in ihrer Herzlichkeit
ein markantes Ereignis geblieben; der erste aufgekommene Auszählreim
"Drei Kommunisten scheißen in die Kist'n, zwei putzen aus,
und Du bist drauß't" ist nie mit ihnen in Zusammenhang gebracht
worden. Was ein Held ist, wurde deutlicher, als einmal ein
stolzer, eindrucksvoll an Gendarmen geketteter Räuber am Begräbnis
seiner Mutter teilnehmen durfte. Die ziemlich frischen Gräber
der Selbstmörder außerhalb der Friedhofsmauer sind ein schaurig-verschwiegener
Anziehungspunkt gewesen. Und ein riesiges altes Radio hat
geheimnisvolle Verbindungen zu einer anderen Welt hergestellt,
die sich durch jahrelang unverstanden gebliebene Bezeichnungen
wie Beromünster oder Ljubljana getarnt hat.
Wien hat B. als düstere Ruinenstadt kennengelernt, die -
wegen des ersten Kinobesuchs - unmittelbar in einen Dschungel
mit überwucherten Tempeln übergangen ist. in deren unterirdischen
Hallen Götzendiener wunderschöne weiße Frauen über lodernde
Feuerstellen gehangt hatten, der Retter alles noch zum Guten
wenden konnte. Aus der ersten Wiener Wohnung führte eine Tür
direkt in einen ausgebombten Trakt, in dein man herumklettern
konnte, gleichsam als Ersatz für den gewohnten Wald und die
zunehmend verschwindenden Gstett'n.
Um in der obligaten Schulmesse etwas zu tun zu haben, ist
B. Ministrant geworden, weiter als zum linken hat er es nicht
gebracht, weil er es gern dem rechten überlassen hat, sich
alle lateinischen Sprüche und Feinheiten des Rituals zu merken.
Dennoch ist die Religion über die vorpubertären Jahre hinweg
die bestimmende Möglichkeit für etwas schemenhaft anderes
gewesen. Der schläfrige Hirte allerdings, den B. in einem
Krippenspiel, seinem ersten öffentlichen Auftritt, darstellen
mußte, hat nichts anderes tun dürfen, als zum richtigen Zeitpunkt
"Wo brennt's denn?" zu rufen. Ein Mitschüler mit lustigern
Namen, aber einem schweren Nervenleiden, ist besonders schonend
behandelt worden. Jude sei er, hat es geheißen, und keiner
wußte genauer, was das wir. Sein Vater hat das Café Bastei
als Büro benutzt, was irgendwie imponierend war, aber den
Erwachsenen hat das nicht als anständig gegolten. Diese "Anständigen"
sind B. wie ein Geheimblind erschienen, die nie Ausgesprochenes
verteidigt und sich gegen irgendetwas gestellt haben. Treue
und Verrat waren wichtige Themen. Selbst auf der Straße oder
bei flüchtigen Begegnungen hat er in Familienbegleitung diese
gewissen Blicke aufgefangen, Blicke des sich Wiedererkennens,
der Kontaktbereitschaft, eines gemeinsamen Wissens und Schweigens,
einer schroffen, aber versteckten Ablehnung. Früher, damals
oder später, waren wichtige Leute darunter, auch solche, die
ständig öffentlich erklären, daß es eigentlich nichts zu verbergen
gäbe. Alle Bekanntschaften der Großen waren alte Bekanntschaften,
auch B., das Kind, wurde meist mir als Sohn von dem und dem
betrachtet. Noch nach Jahren traf er auf Gegenüber, die unsicher
waren, was er alles mitbekornnien hatte. Zum früh gestorbenen
Onkel hingegen, der, wie er schließ]ich erfuhr. über seine
Zeit bei der Waffen-SS nie wieder ein Wort herausgebracht
hatte, bestand eine, vielleicht ahnungsvoll scheue Beziehung.
Die rohen Töne über .,KZIer" und andere "Nutznießer" der
Nachkriegssituation ("Sozis", "Cver" etc.) gehörten zum üblichen
privaten Sprachgebrauch. Öffentlich ist vieles völlig konträr
behandelt worden - im kleinen Kreis feindselig kommentiert
-, aber kaum bis zur Erfahrungswelt abgeschlossen Heranwachsender
durchgedrungen. Nichteinmal zu konkreten Fragen haben solche
Anzeichen für seltsame Vorkommnisse gereicht. Die Erfahrung
unsichtbarer Zusammenhänge jedoch ist eine sehr konkret weiterwirkende
Kraft geblieben. Es hat zwanzig, dreißig Jahre gedauert, bis
manches bloßgelegt werden könnte, in Gesprächen mit dem seit
der Kindheit vertrauten Familienfreund, dessen führende Mitgliedschaft
in der Widerstandsbewegung 05 früher nie ein Thema gewesen
wir, oder durch plötzlich offenere Aussagen, spätestens 1939
so ziemlich "alles" gewußt zu haben, z.B. weil eine, einer
bestimmten Fraktion von Ehemaligen wichtige Person von ihrer
ersten Begegnung mit Heydrich in Prag berichtet hatte, sie
habe "in das Antlitz des Teufels gesellen". Die Öffentlichkeit
war aber gerade in jener endlos verspäteten Phase punktuell
keimender weil zunehmend aggressiv geforderter, interner Aufklärungsbereitschaft
längst vollauf mit Nichtwissen und Pflichterfüllung programmiert.
Ästhetische Sickerprozesse
Was war und was stattfand, ist einem Schüler wie B. in den
fünfziger Jahren völlig undurchsichtig gewesen. Für wichtig
gegolten hat, ob ein Vater "im Krieg geblieben" ist oder er
dieses, als wirre Abfolge ritterlich-technischer Schlachten
verstandene Ereignis ehrenvoll durchgestanden hat. Nie hat
sich einer damit zu prahlen getraut, dass seiner auf einer
anderen Seite gekämpft hat. Bei fremden Familien war willkommen,
wer zumindest lose dazupaßte. Vom Hakenkreuz etwa war B. und
seinen damaligen Freunden nur das herausfordernde Verbot bekannt,
es irgendwo hin zu malen. Daß plötzlich ein Zeichenlehrer
sehr empfindlich auf eine solche Aktion reagiert hat, war
irritierend, ist aber trotz Schulskandal ohne belehrende Konsequenzen
geblieben. Waren doch selbst die offiziellen Pfadfindermesser,
abgesehen vom Emblem, identisch mit den HJ-Dolchen, die fast
jeder noch irgendwo vorgefunden hatte, Auch die. kurze schwarze
Schnürlsamthose hat sich als Uniformteil gleich wieder eingebürgert,
obwohl das verfemte HJ-Vorbild den Jüngeren in seinen Details
überhaupt nicht bekannt war. Die Sickerprozesse sind gerade
im Ästhetischen sehr prägend gewesen. Von den anderen Uniformierten,
jenen mit den blauen Blusen und roten Halstüchern, wußte man
nur, daß sie eben die anderen waren, nicht Feinde, aber irgendwie
unerwünschte, eher gefährliche Fremde. Bei der Glockenweihe
vor der Votivkirche ist es B. ohne daß ihm irgendeine Instruktion
gegeben worden wäre, völlig normal erschienen, die eine Stunde
Ehrenwache unbeweglich stramm zu stehen, die Beine leicht
gespreizt, die Arme am Rücken verschränkt, der Blick starr
geradeaus. Der empörte alte Mann, der ihn an den Schultern
gerüttelt und geschrien hat "Bub! Nicht schon wieder! Nicht
schon wieder!", ist auch von den Umstehenden als skurriler,
unverstandener Störenfried angesehen worden. Als dann der
Bundespräsident Körner gestorben ist, mußten in der Schule
Gedenkzeichnungen fabriziert werden; B. fand einen leeren
Thronsessel passend und ist wahrscheinlich dafür gelobt worden.
Wie sich die neuen Herrscher aufgeführt haben, hat er von
Kind auf an Negativbeispielen geschildert bekommen. Gesprächsthemen
daheim waren Unfähigkeit, Korruption, Parteienwirtschaft (als
wirklich wählbar galt keine). Persönlich hat B. das alles
z.B. bei Auftritten eines seit Jahren überall im Gerede befindlichen,
aber erst ein Jahrzehnt später verurteilten Spitzenpolitikers
bestätigt gefunden, der in "seinem" Land Niederösterreich
als Landes-Vize und Elektrizitätschef tun und lassen .konnte,
was er wollte.
Unsichtbare Sozialisten
Nie ist in den damaligen schulisch-familiären Zusammenhängen
ein "wirklicher" Sozialist aufgetaucht. Nur Zeichen haben
Hinweise auf gegnerische und subversive Kräfte gegeben. "Rettet
die Rosenbergs" stand auf vielen Mauern. Antworten, wer das
sei, waren nur sehr indirekt zu bekommen. Es war ja schon
wieder Krieg, in Korea, und diese Verräter hätten für den
Feind Formeln der Atombombe ausspioniert und kämen eben dafür
in Amerika auf den elektrischen Stuhl. Viel später hat B.s
Vater dann bestätigt, daß er sein Leben lang nie mit einem
Sozialisten in nennenswerten persönlichen Kontakt gekommen
ist. So unterschiedlich "bürgerliche" Standpunkte auch gewesen
sein mochten, in bezug auf Gegner war bei tendenziell "Gleichgesinnten"
eine spontane anti-liberale Verständigungsbereitschaft aufrecht.
Über einige Lehrer und Eltern ist zwar etwas von "Rot" gemunkelt
worden, sie haben sich aber in allen drei Wiener Schulen,
die B. besucht hat, verdeckt gehalten. Politische Kontroversen
waren in unmerkliche Sphären verdrängt. Spenden an. Elternvereine
konnten irgendwelche Götter günstig stimmen, und für völlig
Gescheiterte blieb immer noch der Weg in die NS-orientierte
Höttl-Schule. in Aussee. Im Unterrichtsministerium kam (nach
Ernst Fischer, Hurdes und Kolb) die Drimmel-Zeit, eine verhängnisvoll
lang nachwirkende Ära geplanter Versteckenspiele. Daß in B.s
Zeugnissen zuerst verschämt "Unterrichtssprache" steht, dann
"Deutsche Unterrichtsspräche" und erst ab 1955 "Deutsch",
ist nicht bloß ein Kuriosum damaliger verwirrt-bürokratischer
Identitätssuche. Das "Österreichische", das im Schulbetrieb
über Jahre unbegreiflich einseitig - durch Wildgans, Ginzkey,
Mell, Waggerl, Handel-Mazzetti, Preradovic - vertreten werden
mußte, dürfte damals selbst den schärfsten Apologeten einer
Abnabelung vom kollektiven Traum eines neuen großen Reiches
(dem bekanntlich keineswegs nur Nazis verfallen gewesen sind).
als offizielle Neusprache absurd erschienen sein.
Sonderbar war, daß der Jubel der Massen beim Einzug der Pummerin
ansteckend gewirkt hat, drei Jahre später jedoch der Staatsvertragsabschluß
eher als normaler, nur nebenher im Radio verfolgter und nicht
gerade besonders freudig kommentierter politischer Akt in
Erinnerung geblieben ist. Der Wohlstand von manchen hatte
längst schon das Erlebnis der Distanz unter den Gymnasiasten
verstärkt. Den Eltern waren ihre "angestammten" Positionen
wieder zugewachsen. Gelegentlich wurde pro forma mit dieser
oder jener Partei paktiert; wer es nicht nötig hatte, kam
selbst um solche Versuchungen herum. Interessen waren privatisiert.
Was öffentlich ablief, ist überwiegend negativ besetzt gewesen.
Eine Gewöhnung in die Mühseligkeit demokratischer Prozesse
konnte niemand vorweisen. Erst die neue Musik und vager Existenzialismus
haben in der hier thematisierten Generation wieder zu trotzigeren
Gruppenbildungen geführt. Aber: Als die höheren Klassen einmal
ohne Vorwarnung eine Sonderausstellung mit grauenhaften Fotos
aus Konzentrationslagern und vom Partisanenkrieg besuchen
mußten und nachher im Physiksaal ein hilfloser Lehrer Kommentare
versucht hat, ist gequält gelacht worden.
Daß jeglicher öffentliche Halt für andere Haltungen gefehlt
hat, ist - angeblich österreichischer Tradition gemäß - zur
latenten Möglichkeit transformiert worden, dem Möglichen auszuweichen.
Nachsatz 1: "Heimat" ist vielleicht bloß das, was sich über
genaue Kenntnis als nah und daher als unmittelbar begreifbar
erweist.
Nachsatz 2: Daß anhand einiger weniger, von konventionellen
Konflikten abweichender "Krisen" tiefgehende Entzweiungen
dieser "Heimat" sichtbar geworden sind, hat wiederum komplexe
innere Zusammenhänge, denen die Analyse verweigert wird: (1)
Friedrich Peter (Ein Vorspiel), (2) Zwentendorf, (3) Hainburg,
(4) Waldheim. Die "fundamentalen" Ergänzungsskandale dürften
zugehörige Strukturmerkmale sein.
|
|