Sprache: Dem Ungarischen wird - z.B. von William M.
Johnston - nachgesagt, daß es nicht zur Strenge und zum sorgfältigen
Untersuchen der Realität anhalte und zum "magischen Denken"
und zu einem "Illusionskult" ermutige, weit es so viele Schattierungen
zulasse, daß sich die Spuren von Inhalten und Bedeutungen
mitunter in stimmungsvollen Rhythmen verlieren. Die in solchen
Einschätzungen enthaltene Bewunderung für schamanistische
Kommunikationsmöglichkeiten bestätigt, wie romantisch dieser
eigene Mangel betrauert wird. Verbindend wirkt das Staunen
über diese ganz andere, aus Westsibirien stammende ugrische
Sprache, die kaum ein Fremder erlernt. Erst seit 150 Jahren
ist sie die offizielle Sprache Ungarns. Davor war sie nur
in den Unterschichten überliefert worden, die anderen haben
Latein, Französisch oder Deutsch gesprochen. Inzwischen ist
sie die Muttersprache von 14 Millionen Menschen: 10 Millionen
davon leben im heutigen Ungarn, 3 Millionen in Nachbarstaaten,
1 Million in Westeuropa und Nordamerika. Zusammenhänge zwischen
Sprache und sozialer Situation beschreibt etwa Gyula Illyés
in seinem 1936 erschienenen Hauptwerk "Die Puszta" sehr lapidar:
"Wer beim Lesen erwischt wurde, der galt vor dem Ersten Weltkrieg
als ein Mensch mit Herrentendenzen, nach dem Krieg als Kommunist."
Kohärentes Licht: Nur Laser können dieses "zusammenhängende
" Licht - mit zeitlich konstanten Phasenbeziehungen der Wellenzüge
- in ausreichender Intensität erzeugen. Es ist unter anderem
dazu notwendig, damit räumlich ausgedehnte Szenen in ihrer
vollen dreidimensionalen Struktur gespeichert und wiedergegeben
werden können, also die Gebundenheit des Fotos an die Fläche
überwunden wird. Das Verfahren dafür, die Holographie, ist
vorn 1900 in Budapest geborenen Physiker Dennis Gábor Ende
der 40er-Jahre in der englischen Emigration erfunden worden.
Sodom und Gomorrha: Regie geführt hat bei diesem 1922
am Laaerberg gedrehten, aufwendigsten Monumentalwerk der österreichischen
Filmgeschichte Michael Kertész, der später als Michael Curtiz
durch seine Errol Flynn-Filme oder eben mit "Casablanca" (1943)
jenes Hollywood mitgeprägt hat, das es ursprünglich auch in
Wien hätte geben sollen. In "Casablanca" haben Peter Lorre,
der aus der damals ungarischen Slowakei stammte und Szöke
Szakall (geb. 1884 in Budapest) für weitere Bezüge zu Ungarn
gesorgt. An "Sodom und Gomorrha" hat auch der in Szeged geborene
Filmtheoretiker und Pionier der soziologischen Untersuchung
des Films und seiner Sprache, Béla Balázs, mitgewirkt, der
später mit Brecht das Filmdrehbuch der "Dreigroschenoper"
verfaßte und für Béla Bartók Libretti schrieb. Daß von Ungarn
gerade im Film permanente Beiträge geleistet. Worden sind,
beweisen Regisseure wie Károly (Charles) Vidor (geb. 1900
in Budapest, gest. 1959 in Wien) mit seinen Rita Hayworth-Klassikern
"Es tanzt die Göttin" oder "Gilda", weiters der den englischen
Ausstattungsfilm der 30er Jahre prägende Sándor (Alexander)
Korda, der ebenfalls hauptsächlich in England tätige Paul
Czinner oder Steve Sekely (István Székely), Gabriel Pascal,
Géza von Cziffra und George Pal, der als Animationsfilmer
und mit seinen Science-Fiction- und Horror filmen Pionierarbeit
auf dem Gebiet der Real- und Trick-Kombinationen geleistet
hat. Den Film "als Kunstform der Maschine" interpretiert hat
übrigens der ebenfalls aus Ungarn stammende Arnold Hauser
("Soziologie der Kunst").
Bambi: 1923 ist Felix Salten, der als Siegmund Salzmann
in Budapest geboren wurde, mit seinem "Bambi"-Buch ein Welterfolg
gelungen, den Walt Disney 1941 verfilmt hat. Bis zu seiner
Emigration 1933 war er Präsident des österreichischen PEN-Clubs.
Dem vermutlich von Karl Kraus ausgegangenen, weiterhin unbewiesenen
aber nie entkräfteten Gerücht zufolge, ist ihm bekanntlich
ein zweites, ebenso berühmtes Buch zuzuschreiben: "Josefine
Mutzenbacher. Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne,
von ihr selbst erzählt" (1906).
Standard-Möbel: Dem vom 23-jährigen Marcel Lajos Breuer
entworfenen Stahlrohrsessel "Wassily", diesem Inbegriff der
Moderne, ist Kandinskys Vorname gegeben worden. In Pécs (Fünfkirchen)
- wie Victor Vasardly - geboren, war Breuer als Student ans
Bauhaus gekommen und bald darauf gingen von ihm entwickelte
Metallmöbel in Produktion. Die Berliner Erzeugerfirma "Standard-Möbel,
Lengyel & Co." Hat in ihrer Werbung besonders deren Wirtschaftlichkeit,
die in Prozent vorgerechnet wurde, und eine unüberbietbare
Funktionalität angepriesen: "die stoffbespannten stahlrohrmöbel
haben die bequemlichkeit von guten polstermöbeln, ohne deren
gewicht, preis, unhandlichkeit und unhygienische beschaffenheit.
je ein typ wurde für die notwendigen anwendungsarten ausgearbeitet
und soweit verbessert, bis eine variation nicht mehr möglich
war."
Sigmund Freud: Der einzige seiner Schüler, mit dem
Freud über die eigene Gesundheit gesprochen hat, ist Sándor
Ferenczi (1873-1933) gewesen, der nach dem Studium in Wien
als Psychoanalytiker in Budapest tätig war und wichtige Arbeiten
über das magische Denken, das Geburtstrauma, den Todestrieb
und zur Genitaltheorie hinterlassen hat. Lipot (Leopold) Szondi
wiederum, der vor seiner nach Kriegsende erfolgten Emigration
nach Zürich jahrelang Professor in Budapest gewesen ist, hat
sich durch Forschungen über die genetische Bestimmung der
Partnerwahl, der Liebe ("Erologie"), zur Triebpathologie,
Triebtherapie und Schicksalsanalyse eine umstrittene Wirkung
verschafft. Sein Szondi-Test, bei dem Fotos von Psychopathen
nach ihrem Sympathiewert sortiert werden, um so Rückschlüsse
auf bestimmte Triebveranlagungen der Testperson zu ermöglichen,
hat nur vorübergehend Anhänger gefunden.
Atombombe: Edward Teller (geb. 1908 in Budapest) ist
wie ein Wanderprediger immer wieder als radikaler Befürworter
der Bombe aufgetreten. Er gilt als Erfinder der Wasserstoffbombe
und war schon, wie andere aus Ungarn stammende Physiker, an
den ersten Atombombenversuchen beteiligt. Leo Szilard z.B.
hat als Mitglied der Arbeitsgruppe Enrico Fermis daran mitgeholfen,
daß 1942 die erste Kernenergieanlage in Betrieb gesetzt werden
konnte. Auch Eugene Wigner (geb. 1902 in Budapest) hatte an
diesen Entwicklungen maßgeblichen, mit dem Nobelpreis für
Physik 1963 gewürdigten Anteil. Und John von Neumann (geb.
1903 in Budapest, gest. 1957 in Washington) ist als einer
der führenden Mathematiker des Jahrhunderts ebenfalls involviert
gewesen. Zionismus: Theodor Herzl hat von Wien aus, wo er
Redakteur und Feuilletonchef der Neuen Freien Presse gewesen
ist, den Kampf für einen eigenen jüdischen Staat aufgenommen
("Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage.
1896). Gestorben ist er - der gebürtige Budapester - 1904
in Edlach an der Rax. Auch sein Nachfolger als Führer des
politischen Zionismus, Max Nordau (eigentlich Max Simon Südfeld)
stammte aus Budapest; mit seinem 1892/93 entstandenen Buch
"Entartung" und der dort enthaltenen Begriffsprägung "Entartete
Kunst" hat er in extrem mißverständlicher Weise spätere Ideologiekämpfe
vorweggenommen. Ein anderer früher Zionist aus Budapest, Arthur
Koestler, ist zuerst nach Palästina ausgewandert, war dann
in der UdSSR und hat in "Sonnenfinsternis", einem der wichtigsten
Bücher über den Spanischen Bürgerkrieg, seine desillusionisierenden
dortigen Erlebnisse verarbeitet. 1983 hat er in London sein
Leben durch Selbstmord beendet.
Aufstände: 1919 ist Budapest zugleich mit München
Experimentierfeld für radikaldemokratische Versuche gewesen.
Ihr ungarischer Organisator, Bela Kun, hat schließlich vor
Admiral Horthys Gegenbewegung nach Wien flüchten müssen. Er
ist kurz in der psychiatrischen Anstalt Am Steinhof interniert
gewesen, bevor er in die Sowjetunion ausreisen durfte. Über
sein Ende im Frühjahr 1937 berichtet Arvo Tuominen, finnischer
Altkommunist und Spitzenfunktionär der Komintern: "Die Sitzung
war zu Ende. Bela Kun durfte abtreten, aber als er durch die
Tür ging, wurde er von zwei GPU-Männern festgenommen ( ...
) Es verlautete nur gerüchteweise, man habe ihn erschossen."
Jenö (Eugen) Varga, ein anderer Ungar, der zum bedeutendsten
Wirtschaftstheoretiker der UdSSR und zum persönlichen Berater
Stalins aufgestiegen war, ist bei diesem letzten Auftritt
ebenfalls Zeuge gewesen. 1956 hat er Gelegenheit bekommen,
in der Prawda Bela Kun zu rehabilitieren. In der Vorphase
der kurzlebigen Räterepublik war der Soziologe Karl Mannheim
(geh. 1893 in Budapest) als Leiter der sozialistischen "Freien
Schule der Geisteswissenschaften" ein anderes Symbol der Aufbruchstimmung;
er ist schließlich nach Deutschland und später nach England
emigriert. Auch László Moholy-Nagy verließ, wie viele andere,
nach dem Ende dieser Erneuerungsversuche das Land, war am
Bauhaus tätig und schließlich in den USA. Von den prägenden
Künstlern geblieben ist z.B. Lajos Kassák, allerdings ohne
viel öffentliche Wirkungsmöglichkeit. Der einflußreichste
ungarische Intellektuelle des Jahrhunderts, György (Georg)
Lukács, hat schon in der Räterepublik von 1919 als Volkskommissar
für das Unterrichtswesen seine politische Handlungsbereitschaft
bewiesen. Und 1956, nach Jahren der Emigration, ist er wieder
intellektueller Wegbereiter des Aufstandes und sogar für wenige
Tage Kulturminister der Regierung Nagy gewesen. Repressalien
ausgesetzt und mit Publikationsverbot belegt starb er 1971
in Budapest.
Realität: Hans Magnus Enzensberger, der in seiner
"Anderen Bibliothek" wichtige Bücher ungarischer Autoren wie
"Die Puszta" von Gyula Illyés, von dem schon die Rede war,
oder "Freiwillige für den Galgen. Die Geschichte eines Schauprozesses"
von Bela Szäsz, neu herausgegeben hat, sieht die aktuelle
Lage (in "Ach Europa!", 1987) so: "Genau genommen, gibt es
in Ungarn zwei Oppositionen: die der Mitteleuropäer und die
der Volkstümler." Die Leistung der Samizdat-Literattir liegt
ihm zufolge darin, "daß sie den moralischen Lebensstandard
des Landes verteidigt, um nicht zu sagen spürbar gehoben hat."
- "Es ist kein Zufall, daß der Begriff, des ‚ehrlichen Menschen',
der bei uns ausgestorben ist, in Ungarn auf Schritt und Tritt
und mit der größten Unbefangenheit verwendet wird." - "Neben
der provinziellen Unschuld aber macht sich die Farbenblindheit
der Diktatur breit, die Ostblockmöblierung der Kioske, Arntsstuben
und Hotelhallen, der brutale Ersatz, die kasernierte Sturheit,
die unterentwickelte sowjetische Ästhetik, das Schäbige einer
Gesellschaft, in der das Neue immer schon als greisenhaftes
Edikt zur Welt kommt." - "Die ökonomische Reform ist lebensnotwendig,
aber ohne politische Kosten ist sie nicht zu haben. Die Manager
verlangen freie Hand, die Arbeiter brauchen freie Gewerkschaften.
Hier wie dort müßte die Partei einen Zipfel ihrer Macht aus
der Hand geben. Solange dieser Gedanke nicht gedacht werden
darf, bleibt die ungarische Reform eine Chimäre."
Wien: 1919 ist der aus Ungarn stammende Redakteur
der Arbeiter Zeitung Max Winter für kurze Zeit Vizebürgermeister
von Wien gewesen. Spuren hat er als Gründer der sozialistischen
Zeitschrift Die Unzufriedene hinterlassen. Gestorben ist er
1937 in Hollywood. George Tabori (geb. 1914 in Budapest),
der jetzt das Wiener Theater "Der Kreis" leitet, könnte als
ein anderer Typus jener internationalisierten Ungarn gesehen
werden, die aus verschiedensten Ursachen anderswo und an häufig
wechselnden Orten tätig geworden sind. Den ihnen angedichteten
magyarischen Nationalismus haben sie dabei offensichtlich
nicht brauchen können, vielleicht weil Emigration für sie
zuviele - auch befreiende - Facetten hat.
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