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Falter Verlag
   

Ungarisches Lexikon

Falter, Wien, Nr. 22/1988

 

 

Sprache: Dem Ungarischen wird - z.B. von William M. Johnston - nachgesagt, daß es nicht zur Strenge und zum sorgfältigen Untersuchen der Realität anhalte und zum "magischen Denken" und zu einem "Illusionskult" ermutige, weit es so viele Schattierungen zulasse, daß sich die Spuren von Inhalten und Bedeutungen mitunter in stimmungsvollen Rhythmen verlieren. Die in solchen Einschätzungen enthaltene Bewunderung für schamanistische Kommunikationsmöglichkeiten bestätigt, wie romantisch dieser eigene Mangel betrauert wird. Verbindend wirkt das Staunen über diese ganz andere, aus Westsibirien stammende ugrische Sprache, die kaum ein Fremder erlernt. Erst seit 150 Jahren ist sie die offizielle Sprache Ungarns. Davor war sie nur in den Unterschichten überliefert worden, die anderen haben Latein, Französisch oder Deutsch gesprochen. Inzwischen ist sie die Muttersprache von 14 Millionen Menschen: 10 Millionen davon leben im heutigen Ungarn, 3 Millionen in Nachbarstaaten, 1 Million in Westeuropa und Nordamerika. Zusammenhänge zwischen Sprache und sozialer Situation beschreibt etwa Gyula Illyés in seinem 1936 erschienenen Hauptwerk "Die Puszta" sehr lapidar: "Wer beim Lesen erwischt wurde, der galt vor dem Ersten Weltkrieg als ein Mensch mit Herrentendenzen, nach dem Krieg als Kommunist."

Kohärentes Licht: Nur Laser können dieses "zusammenhängende " Licht - mit zeitlich konstanten Phasenbeziehungen der Wellenzüge - in ausreichender Intensität erzeugen. Es ist unter anderem dazu notwendig, damit räumlich ausgedehnte Szenen in ihrer vollen dreidimensionalen Struktur gespeichert und wiedergegeben werden können, also die Gebundenheit des Fotos an die Fläche überwunden wird. Das Verfahren dafür, die Holographie, ist vorn 1900 in Budapest geborenen Physiker Dennis Gábor Ende der 40er-Jahre in der englischen Emigration erfunden worden.

Sodom und Gomorrha: Regie geführt hat bei diesem 1922 am Laaerberg gedrehten, aufwendigsten Monumentalwerk der österreichischen Filmgeschichte Michael Kertész, der später als Michael Curtiz durch seine Errol Flynn-Filme oder eben mit "Casablanca" (1943) jenes Hollywood mitgeprägt hat, das es ursprünglich auch in Wien hätte geben sollen. In "Casablanca" haben Peter Lorre, der aus der damals ungarischen Slowakei stammte und Szöke Szakall (geb. 1884 in Budapest) für weitere Bezüge zu Ungarn gesorgt. An "Sodom und Gomorrha" hat auch der in Szeged geborene Filmtheoretiker und Pionier der soziologischen Untersuchung des Films und seiner Sprache, Béla Balázs, mitgewirkt, der später mit Brecht das Filmdrehbuch der "Dreigroschenoper" verfaßte und für Béla Bartók Libretti schrieb. Daß von Ungarn gerade im Film permanente Beiträge geleistet. Worden sind, beweisen Regisseure wie Károly (Charles) Vidor (geb. 1900 in Budapest, gest. 1959 in Wien) mit seinen Rita Hayworth-Klassikern "Es tanzt die Göttin" oder "Gilda", weiters der den englischen Ausstattungsfilm der 30er Jahre prägende Sándor (Alexander) Korda, der ebenfalls hauptsächlich in England tätige Paul Czinner oder Steve Sekely (István Székely), Gabriel Pascal, Géza von Cziffra und George Pal, der als Animationsfilmer und mit seinen Science-Fiction- und Horror filmen Pionierarbeit auf dem Gebiet der Real- und Trick-Kombinationen geleistet hat. Den Film "als Kunstform der Maschine" interpretiert hat übrigens der ebenfalls aus Ungarn stammende Arnold Hauser ("Soziologie der Kunst").

Bambi: 1923 ist Felix Salten, der als Siegmund Salzmann in Budapest geboren wurde, mit seinem "Bambi"-Buch ein Welterfolg gelungen, den Walt Disney 1941 verfilmt hat. Bis zu seiner Emigration 1933 war er Präsident des österreichischen PEN-Clubs. Dem vermutlich von Karl Kraus ausgegangenen, weiterhin unbewiesenen aber nie entkräfteten Gerücht zufolge, ist ihm bekanntlich ein zweites, ebenso berühmtes Buch zuzuschreiben: "Josefine Mutzenbacher. Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt" (1906).

Standard-Möbel: Dem vom 23-jährigen Marcel Lajos Breuer entworfenen Stahlrohrsessel "Wassily", diesem Inbegriff der Moderne, ist Kandinskys Vorname gegeben worden. In Pécs (Fünfkirchen) - wie Victor Vasardly - geboren, war Breuer als Student ans Bauhaus gekommen und bald darauf gingen von ihm entwickelte Metallmöbel in Produktion. Die Berliner Erzeugerfirma "Standard-Möbel, Lengyel & Co." Hat in ihrer Werbung besonders deren Wirtschaftlichkeit, die in Prozent vorgerechnet wurde, und eine unüberbietbare Funktionalität angepriesen: "die stoffbespannten stahlrohrmöbel haben die bequemlichkeit von guten polstermöbeln, ohne deren gewicht, preis, unhandlichkeit und unhygienische beschaffenheit. je ein typ wurde für die notwendigen anwendungsarten ausgearbeitet und soweit verbessert, bis eine variation nicht mehr möglich war."

Sigmund Freud: Der einzige seiner Schüler, mit dem Freud über die eigene Gesundheit gesprochen hat, ist Sándor Ferenczi (1873-1933) gewesen, der nach dem Studium in Wien als Psychoanalytiker in Budapest tätig war und wichtige Arbeiten über das magische Denken, das Geburtstrauma, den Todestrieb und zur Genitaltheorie hinterlassen hat. Lipot (Leopold) Szondi wiederum, der vor seiner nach Kriegsende erfolgten Emigration nach Zürich jahrelang Professor in Budapest gewesen ist, hat sich durch Forschungen über die genetische Bestimmung der Partnerwahl, der Liebe ("Erologie"), zur Triebpathologie, Triebtherapie und Schicksalsanalyse eine umstrittene Wirkung verschafft. Sein Szondi-Test, bei dem Fotos von Psychopathen nach ihrem Sympathiewert sortiert werden, um so Rückschlüsse auf bestimmte Triebveranlagungen der Testperson zu ermöglichen, hat nur vorübergehend Anhänger gefunden.

Atombombe: Edward Teller (geb. 1908 in Budapest) ist wie ein Wanderprediger immer wieder als radikaler Befürworter der Bombe aufgetreten. Er gilt als Erfinder der Wasserstoffbombe und war schon, wie andere aus Ungarn stammende Physiker, an den ersten Atombombenversuchen beteiligt. Leo Szilard z.B. hat als Mitglied der Arbeitsgruppe Enrico Fermis daran mitgeholfen, daß 1942 die erste Kernenergieanlage in Betrieb gesetzt werden konnte. Auch Eugene Wigner (geb. 1902 in Budapest) hatte an diesen Entwicklungen maßgeblichen, mit dem Nobelpreis für Physik 1963 gewürdigten Anteil. Und John von Neumann (geb. 1903 in Budapest, gest. 1957 in Washington) ist als einer der führenden Mathematiker des Jahrhunderts ebenfalls involviert gewesen. Zionismus: Theodor Herzl hat von Wien aus, wo er Redakteur und Feuilletonchef der Neuen Freien Presse gewesen ist, den Kampf für einen eigenen jüdischen Staat aufgenommen ("Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. 1896). Gestorben ist er - der gebürtige Budapester - 1904 in Edlach an der Rax. Auch sein Nachfolger als Führer des politischen Zionismus, Max Nordau (eigentlich Max Simon Südfeld) stammte aus Budapest; mit seinem 1892/93 entstandenen Buch "Entartung" und der dort enthaltenen Begriffsprägung "Entartete Kunst" hat er in extrem mißverständlicher Weise spätere Ideologiekämpfe vorweggenommen. Ein anderer früher Zionist aus Budapest, Arthur Koestler, ist zuerst nach Palästina ausgewandert, war dann in der UdSSR und hat in "Sonnenfinsternis", einem der wichtigsten Bücher über den Spanischen Bürgerkrieg, seine desillusionisierenden dortigen Erlebnisse verarbeitet. 1983 hat er in London sein Leben durch Selbstmord beendet.

Aufstände: 1919 ist Budapest zugleich mit München Experimentierfeld für radikaldemokratische Versuche gewesen. Ihr ungarischer Organisator, Bela Kun, hat schließlich vor Admiral Horthys Gegenbewegung nach Wien flüchten müssen. Er ist kurz in der psychiatrischen Anstalt Am Steinhof interniert gewesen, bevor er in die Sowjetunion ausreisen durfte. Über sein Ende im Frühjahr 1937 berichtet Arvo Tuominen, finnischer Altkommunist und Spitzenfunktionär der Komintern: "Die Sitzung war zu Ende. Bela Kun durfte abtreten, aber als er durch die Tür ging, wurde er von zwei GPU-Männern festgenommen ( ... ) Es verlautete nur gerüchteweise, man habe ihn erschossen." Jenö (Eugen) Varga, ein anderer Ungar, der zum bedeutendsten Wirtschaftstheoretiker der UdSSR und zum persönlichen Berater Stalins aufgestiegen war, ist bei diesem letzten Auftritt ebenfalls Zeuge gewesen. 1956 hat er Gelegenheit bekommen, in der Prawda Bela Kun zu rehabilitieren. In der Vorphase der kurzlebigen Räterepublik war der Soziologe Karl Mannheim (geh. 1893 in Budapest) als Leiter der sozialistischen "Freien Schule der Geisteswissenschaften" ein anderes Symbol der Aufbruchstimmung; er ist schließlich nach Deutschland und später nach England emigriert. Auch László Moholy-Nagy verließ, wie viele andere, nach dem Ende dieser Erneuerungsversuche das Land, war am Bauhaus tätig und schließlich in den USA. Von den prägenden Künstlern geblieben ist z.B. Lajos Kassák, allerdings ohne viel öffentliche Wirkungsmöglichkeit. Der einflußreichste ungarische Intellektuelle des Jahrhunderts, György (Georg) Lukács, hat schon in der Räterepublik von 1919 als Volkskommissar für das Unterrichtswesen seine politische Handlungsbereitschaft bewiesen. Und 1956, nach Jahren der Emigration, ist er wieder intellektueller Wegbereiter des Aufstandes und sogar für wenige Tage Kulturminister der Regierung Nagy gewesen. Repressalien ausgesetzt und mit Publikationsverbot belegt starb er 1971 in Budapest.

Realität: Hans Magnus Enzensberger, der in seiner "Anderen Bibliothek" wichtige Bücher ungarischer Autoren wie "Die Puszta" von Gyula Illyés, von dem schon die Rede war, oder "Freiwillige für den Galgen. Die Geschichte eines Schauprozesses" von Bela Szäsz, neu herausgegeben hat, sieht die aktuelle Lage (in "Ach Europa!", 1987) so: "Genau genommen, gibt es in Ungarn zwei Oppositionen: die der Mitteleuropäer und die der Volkstümler." Die Leistung der Samizdat-Literattir liegt ihm zufolge darin, "daß sie den moralischen Lebensstandard des Landes verteidigt, um nicht zu sagen spürbar gehoben hat." - "Es ist kein Zufall, daß der Begriff, des ‚ehrlichen Menschen', der bei uns ausgestorben ist, in Ungarn auf Schritt und Tritt und mit der größten Unbefangenheit verwendet wird." - "Neben der provinziellen Unschuld aber macht sich die Farbenblindheit der Diktatur breit, die Ostblockmöblierung der Kioske, Arntsstuben und Hotelhallen, der brutale Ersatz, die kasernierte Sturheit, die unterentwickelte sowjetische Ästhetik, das Schäbige einer Gesellschaft, in der das Neue immer schon als greisenhaftes Edikt zur Welt kommt." - "Die ökonomische Reform ist lebensnotwendig, aber ohne politische Kosten ist sie nicht zu haben. Die Manager verlangen freie Hand, die Arbeiter brauchen freie Gewerkschaften. Hier wie dort müßte die Partei einen Zipfel ihrer Macht aus der Hand geben. Solange dieser Gedanke nicht gedacht werden darf, bleibt die ungarische Reform eine Chimäre."

Wien: 1919 ist der aus Ungarn stammende Redakteur der Arbeiter Zeitung Max Winter für kurze Zeit Vizebürgermeister von Wien gewesen. Spuren hat er als Gründer der sozialistischen Zeitschrift Die Unzufriedene hinterlassen. Gestorben ist er 1937 in Hollywood. George Tabori (geb. 1914 in Budapest), der jetzt das Wiener Theater "Der Kreis" leitet, könnte als ein anderer Typus jener internationalisierten Ungarn gesehen werden, die aus verschiedensten Ursachen anderswo und an häufig wechselnden Orten tätig geworden sind. Den ihnen angedichteten magyarischen Nationalismus haben sie dabei offensichtlich nicht brauchen können, vielleicht weil Emigration für sie zuviele - auch befreiende - Facetten hat.

 

 
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© Christian Reder 1988/2001