Es ist zweihundert Jahre her, daß Caroline Dale miterlebt
hat, wie leicht ihr Vater damit fertig wurde, aus einfachen
Verhältnissen aufzusteigen, bis auf die Ebene jener komplizierten
Zustände, die es ihm ermöglicht haben, sich als Industriemagnat
zu etablieren. Hilfreich dabei sind die guten gesellschaftlichen
Beziehungen der Mutter, und Entbehrungen spielen in Carolines
Jugend nur noch erzählerisch eine Rolle. Sie wächst in einem
eleganten, von Robert Adam. dein berühmtesten englischen Architekten
dieser Zeit erbauten Stadthaus in Glasgow auf. Für das familiäre
Klinia sind ein strenger Protestantismus, der den Vater zum
Mitbegründer der Old Scotch Independent Church gemacht hat
und humanitäre Bemühungen um die Errichtung von Schulen und
Spitälern prägend. Als älteste Tochter, der kein zu bevorzugender
Bruder im Weg steht, soll Caroline Dale für die Fortführung
der Unternehmen sorgen; im besten durch eine dafür verwendbare
Heirat.
Als die Nachfolgefrage aktuell wird, leben die Dales häufig
in New Lanark, in einem eher einfachen Haus auf dem Gelände
ihrer, idyllisch am Oberlauf des Clide, dreißig Meilen südöstlich
von Glasgow gelegenen Baumwollspinnerei, der größten des Landes.
Die neuentwickelten Maschinen brauchen Wasserkraft und deswegen
hat David Dale in dieser entlegenen Gegend 1785 einen Fabriks-
und Wohnkomplex für 2.500 Beschäftigte aufgebaut. 1798, zum
richtigen Zeitpunkt. kommt ein junger Geschäftsmann zu Besuch:
Robert Owen, der sich ebenfalls in der Textilbranche hochgearbeitet
hat. Die ganze Anlage und ihre romantische Umgebung begeistern
ihn, vor allem im Vergleich zu den "dark satanic mills", die
er aus Manchester kennt. Im Jahr darauf heiraten Caroline
Dale und er, und gleichzeitig geht das Unternehmen für 60.000
Pfund in seinen Besitz und den zweier Partner über.
Vom Neujahrstag l800 an arbeitet Robert Owen - der Schwiegersohn,
dem man noch lange Einheirat, übertriebene Strenge und Unpopularität
vorwerfen wird - mit Härte und sich erst langsam konkretisierender
sozialer Phantasie an seinem berühmt gewordenen Fabriksexperiment,
das ihm (mit dem gleichaltrigen, aber radikaleren Fourier
und dem zehn Jahre älteren Grafen Saint-Simon) den Ruhm eines
frühen, also "utopischen" Sozialisten einbringen wird.
In der ersten Phase läuft noch alles nach dem Grundmuster
industrieller Disziplinierung ab. Die tägliche Arbeitszeit
wird von 13 auf 14 Stunden erhöht. Scharen von Bewachern kontrollieren
die Leistung, das Leben in der Siedlung, den Alkoholkonsum.
Ein Management-System mit differenzierten Hierarchien sowie
eine detaillierte Erfassung der täglichen Produktivität und
der angefallenen Kosten wird eingeführt. Sogenannte "Monitore"
an jedem Arbeitsplatz signalisieren einen weitblickenden Fortschrittsglauben:
kurze Holzstäbchen mit färbigen Seitenflächen dienen nämlich
dazu, die Leistung des vorangegangenen Tages auszuweisen.
Schwarz heißt schlecht, blau mittelmäßig, gelb gut und weiß
hervorragend. "Working together as one machine" ist das ausdrückliche
Ziel aller Bestrebungen. Daß Owen zusätzlichen Funktionskomponenten
industrieller Arbeitszusammenhänge immer mehr Gewicht beimißt,
wird erst in langwierigen Prozessen deutlich. Der Plan eines
Schulbaues bringt Konflikte mit den wechselnden Mitarbeitern,
allesamt gestandene "hard men" aus Glasgow. Erst neue Partnerschaften
mit sozial interessierten Quäkern aus London retten ihm die
Fabrik und ermöglichen nach 14 Jahren Vorbereitungsarbeit
das "große Experiment": Einschränkung der Kinderarbeit (20
Jahre vor einer entsprechenden gesetzlichen Regelung), Verkürzung
der Arbeitszeit auf 10 1/2 Stunden täglich, eine rudimentäre
Kranken- und Pensionsversicherung, Warenverkauf zu Großhandelspreisen
als Vorstufe späterer genossenschaftlicher Konsumläden, Arbeiterwohnungen
mit niedrigen Mieten - ein Paket der Kompensation für vergleichsweise
eher niedrige Löhne.
Die belebende Konsumkraft passabler Verdienste ist noch
kein Kriterium gewesen. Owens Hauptinteresse galt der Erziehung,
da er den Menschen als ein "Produkt der Umstände" gesehen
hat.
Ein Kindergarten und die erste obligatorische Schule für
Arbeiterkinder soll zwischen dem Alter von eineinhalb und
zehn bis zwölf Jahren eine, später durch Abendkurse ergänzte
Ausbildung sicherstellen, und zwar ausdrücklich auf "rationale"
Weise, ohne Bestrafungssvstem. Zentrum ist die ."New Institution
for the Formation of Character". Es gib einen Ganztagsbetrieb,
Klassen mit maximal zwanzig Schülern, tägliche Tanz-. Musik-
und Gesangsübungen - alles in naturbezogener, eher bücher-
und religionsfeindlicher Ausrichtung. Von der Besuchergalerie
aus verfolgen im Lauf der Jahre tausende, von Owens Publikationen
angezogene Interessenten (darunter der unbelehrbare spätere
Zar Nikolaus I.) mit, wie eine gewisse Pflege, Ermunterung
und Bildung der Arbeiter und Arbeiterinnen zur Voraussetzung
der technisch ermöglichten Produktivitätssteigerungen wird.
Karl Marx ist den Vorstellungen, mit denen Robert Owen und
seine Anhänger die Arbeits- und Lebensbedingungen verändern
wollten, zeitweilig eher anerkennend gegenübergestanden: "In
ihrem Ursprung Hebel der Bewegung, werden sie ihr Hindernis,
sobald sie von ihr überholt werden. Dann werden sie reaktionär."
(1874). Daß in unserem Jahrhundert wieder eine differenziertere
Beurteilung solcher frühindustrieller Reformversuche stattfinden
konnte, läßt sich bei Ernst Bloch ("Das Prinzip Hoffnung")
nachlesen. An Robert Owen findet er u.a. bemerkenswert, wie
dieser als Fabriksbesitzer früh erkannt hat, "daß ein gut
genährter und nicht unzufriedener Arbeiter in der halben Zeit
dasselbe und Besseres schafft wie ein Galeerensklave". Imponiert
hat ihm auch, daß Owen selbst in Theorie und Praxis "mit äußerst
nützlichem Beispiel" vorangegangen ist, trotz des offenbar
unausweichlichen Scheiterns.
Daß dennoch nicht aufgehört worden ist, solche "privaten"
Versuche zu unternehmen, dürfte schon einen Robert Owen im
Weitermachen bestärkt haben. Jedenfalls: 1824 sieht er in
New Lanark keine Zukunft mehr. Er glaubt an die Notwendigkeit
vieler solcher Gemeinschaftssiedlungen als Zellen umfassender
Reformen und daher beginnt er in Nordamerika von vorn. Die
Produktionsgenossenschaft New Harmony in Indiana jedoch ist
trotz dreijähriger Anstrengungen ein totaler Mißerfolg. Die
Schuld gibt er später der dortigen "völlig unvereinbaren Ansammlung
radikaler Elemente, enthusiastischer Anbeter irgendwelcher
Prinzipien, ehrbarer Freidenker und fauler Theoretiker, die
mit einer Schar prinzipienloser Gauner garniert war". Daß
Georg Rapp, ein aus Württemberg stammender Bauer, der dieses
Projekt initiiert hatte, seinen nächsten Kommuneversuch nicht
mehr Harmony sondern Economy nennt, läßt auf Einsichten in
Integrationszwänge schließen. Robert Owen dagegen, der inzwischen
nicht mehr in der Modellfabrik in New Lanark beteiligt ist
und den größten Teil seines Vermögens verloren hat, kehrt
unverdrossen und voller neuer Pläne nach England zurück. Initiativen
für eine Tauschbörse mit Arbeitswährung bleiben neuerlich
völlig erfolglos. Wenn man so will, hat er zur New Moral World
(so der Titel seiner Zeitschrift) mit einer generellen Pionierrolle,
der Begründung des englischen Genossenschaftswesens und der
Bestärkung der Gewerkschaftsbewegung schließlich zumindest
praxisnahe Fragzeichen beigesteuert.
Die vier Owen-Söhne haben sich die andere "Neue Weit" zum
Ziel gewählt. Sie waren nach New Harmony mitgekommen und sind
in Nordamerika geblieben. Einer wird Professor für Naturwissenschaften.
einer Geologe, ein anderer Kongreßmitglied, Mitbegründer der
Smithsonian Institution und Vorkämpfer für ein staatliches
Schulsystern und die Frauenrechte. Ihre Mutter. ohne deren
Erbe diese ganze Geschichte anders verlaufen wäre, ist am
Projektemachen ihres Mannes nur am Rande beteiligt. Den Verkauf
von New Lanark und den Zusammenbruch von New Harmony erlebt
sie noch mit. Kurz vor ihrem Tod stirbt die einzige Tochter.
In einem der letzten Briefe Caroline Owens an ihren Mann,
den sie über Jahre kaum noch gesehen hat, und der immer schärfer
Privateigentum, Ehe und Religion als "Dreieinigkeit des Bösen"
ablehnt, hofft sie liebevoll-distanziert, "that we Iove one
another as sincerely, and understand one another much better
than we did thirty-one years ago".
Der eindrucksvolle frühindustrielle Gebäudekomplex der Baumwollspinnerei
von New Lanark liegt heute praktisch unverändert unterhalb
der (1901 von William Turner gemalten) Wasserfälle des Clyde,
abgeschieden in einer Erweiterung des engen, bewaldeten Tales.
Über Jahrzehnte hinweg hatten sich trotz verschiedener Besitzer
noch Reste der unter Owen eingeführten Regelungen erhalten:
sonderbarer Weise insbesonders die morgendlichen Tanzstunden
und die generelle Tanzfreude. Daß in der gesamten Geschichte
dieser Fabrik bloß ein einziger, nur wenige Tage dauernder
Streik - während des letzten Weltkrieges - zu verzeichnen
war, erinnert an österreichisch-verschhworene Zustände. Selbst
als die Anlage im Symboljahr 1968 endgültig geschlossen worden
ist, haben die verbliebenen 300 Beschäftigten dies ohne Hoffnung
auf Auswege hingenommen - möglicherweise sogar deshalb, weil
sie dadurch der extremen sozialen Kontrolle solcher "Inseln"
entkommen konnten. Nach Jahren des Verfalls wird nun alles
restauriert, für Freizeit, Tourismus und als Monument der
industriellen Revolution, mit Museum, Eigentumswohnungen,
Werkstätten, Verkaufslokalen, viel privater und öffentlicher
Initiative. Was einmal trotz aller Reformen ein grauenhaftes
Gefängnis gewesen sein muß, kann eben nicht mehr in einen
Zustand versetzt werden, der diese Geschichte erlebbar macht.
Nur: Die Gewöhnung an weiterhin trostlose Industriesituationen
läßt ordentlich Renoviertes fast grundsätzlich als verlorenes
Paradies erscheinen - vielleicht weil Unordnung, Verfall und
bestimmte Erinnerungen keine Möglichkeit sein dürfen.
+++
Im in der Haft geschriebenen Hauptwerk von Nikolai Gawrilowitsch
Tschernyschewski, der wegen seiner abweichenden Ansichten
fast zwanzig Jahre in Sibirien verbringen mußte, gibt es eine
bezeichnende Passage über die, von theoretischer Kritik unbeeinflußt
gebliebene Owen-Verehrung rund um die 1848er Erfahrungen:
"Ein Bild von Owen ist eine Rarität. Dreimal mußte Dimitri
darum schreiben, erst der dritte Brief hatte Erfolg. Sein
Korrespondent hat dem Gelehrten lange zureden müssen, bis
er die Fotografie von ihm erhielt, noch dazu mit einem Begleitbrief
des 'heiligen Greises', wie er Owen zu nennen pflegt". Den
Titel dieses sehr populär gewordenen und 1988 (bei Rowohlt)
wiedereinmal neu aufgelegten Buches habe ich wegen seiner
schlichten Direktheit von Zeit zu Zeit ganz gern: "Was Tun?".
|
|