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Falter Verlag
   

Caroline & Robert O.
Eine Geschichte für Spätsozialisten

Falter, Wien, Nr. 44/1988

 

 

Es ist zweihundert Jahre her, daß Caroline Dale miterlebt hat, wie leicht ihr Vater damit fertig wurde, aus einfachen Verhältnissen aufzusteigen, bis auf die Ebene jener komplizierten Zustände, die es ihm ermöglicht haben, sich als Industriemagnat zu etablieren. Hilfreich dabei sind die guten gesellschaftlichen Beziehungen der Mutter, und Entbehrungen spielen in Carolines Jugend nur noch erzählerisch eine Rolle. Sie wächst in einem eleganten, von Robert Adam. dein berühmtesten englischen Architekten dieser Zeit erbauten Stadthaus in Glasgow auf. Für das familiäre Klinia sind ein strenger Protestantismus, der den Vater zum Mitbegründer der Old Scotch Independent Church gemacht hat und humanitäre Bemühungen um die Errichtung von Schulen und Spitälern prägend. Als älteste Tochter, der kein zu bevorzugender Bruder im Weg steht, soll Caroline Dale für die Fortführung der Unternehmen sorgen; im besten durch eine dafür verwendbare Heirat.

Als die Nachfolgefrage aktuell wird, leben die Dales häufig in New Lanark, in einem eher einfachen Haus auf dem Gelände ihrer, idyllisch am Oberlauf des Clide, dreißig Meilen südöstlich von Glasgow gelegenen Baumwollspinnerei, der größten des Landes. Die neuentwickelten Maschinen brauchen Wasserkraft und deswegen hat David Dale in dieser entlegenen Gegend 1785 einen Fabriks- und Wohnkomplex für 2.500 Beschäftigte aufgebaut. 1798, zum richtigen Zeitpunkt. kommt ein junger Geschäftsmann zu Besuch: Robert Owen, der sich ebenfalls in der Textilbranche hochgearbeitet hat. Die ganze Anlage und ihre romantische Umgebung begeistern ihn, vor allem im Vergleich zu den "dark satanic mills", die er aus Manchester kennt. Im Jahr darauf heiraten Caroline Dale und er, und gleichzeitig geht das Unternehmen für 60.000 Pfund in seinen Besitz und den zweier Partner über.

Vom Neujahrstag l800 an arbeitet Robert Owen - der Schwiegersohn, dem man noch lange Einheirat, übertriebene Strenge und Unpopularität vorwerfen wird - mit Härte und sich erst langsam konkretisierender sozialer Phantasie an seinem berühmt gewordenen Fabriksexperiment, das ihm (mit dem gleichaltrigen, aber radikaleren Fourier und dem zehn Jahre älteren Grafen Saint-Simon) den Ruhm eines frühen, also "utopischen" Sozialisten einbringen wird.

In der ersten Phase läuft noch alles nach dem Grundmuster industrieller Disziplinierung ab. Die tägliche Arbeitszeit wird von 13 auf 14 Stunden erhöht. Scharen von Bewachern kontrollieren die Leistung, das Leben in der Siedlung, den Alkoholkonsum. Ein Management-System mit differenzierten Hierarchien sowie eine detaillierte Erfassung der täglichen Produktivität und der angefallenen Kosten wird eingeführt. Sogenannte "Monitore" an jedem Arbeitsplatz signalisieren einen weitblickenden Fortschrittsglauben: kurze Holzstäbchen mit färbigen Seitenflächen dienen nämlich dazu, die Leistung des vorangegangenen Tages auszuweisen. Schwarz heißt schlecht, blau mittelmäßig, gelb gut und weiß hervorragend. "Working together as one machine" ist das ausdrückliche Ziel aller Bestrebungen. Daß Owen zusätzlichen Funktionskomponenten industrieller Arbeitszusammenhänge immer mehr Gewicht beimißt, wird erst in langwierigen Prozessen deutlich. Der Plan eines Schulbaues bringt Konflikte mit den wechselnden Mitarbeitern, allesamt gestandene "hard men" aus Glasgow. Erst neue Partnerschaften mit sozial interessierten Quäkern aus London retten ihm die Fabrik und ermöglichen nach 14 Jahren Vorbereitungsarbeit das "große Experiment": Einschränkung der Kinderarbeit (20 Jahre vor einer entsprechenden gesetzlichen Regelung), Verkürzung der Arbeitszeit auf 10 1/2 Stunden täglich, eine rudimentäre Kranken- und Pensionsversicherung, Warenverkauf zu Großhandelspreisen als Vorstufe späterer genossenschaftlicher Konsumläden, Arbeiterwohnungen mit niedrigen Mieten - ein Paket der Kompensation für vergleichsweise eher niedrige Löhne.

Die belebende Konsumkraft passabler Verdienste ist noch kein Kriterium gewesen. Owens Hauptinteresse galt der Erziehung, da er den Menschen als ein "Produkt der Umstände" gesehen hat.

Ein Kindergarten und die erste obligatorische Schule für Arbeiterkinder soll zwischen dem Alter von eineinhalb und zehn bis zwölf Jahren eine, später durch Abendkurse ergänzte Ausbildung sicherstellen, und zwar ausdrücklich auf "rationale" Weise, ohne Bestrafungssvstem. Zentrum ist die ."New Institution for the Formation of Character". Es gib einen Ganztagsbetrieb, Klassen mit maximal zwanzig Schülern, tägliche Tanz-. Musik- und Gesangsübungen - alles in naturbezogener, eher bücher- und religionsfeindlicher Ausrichtung. Von der Besuchergalerie aus verfolgen im Lauf der Jahre tausende, von Owens Publikationen angezogene Interessenten (darunter der unbelehrbare spätere Zar Nikolaus I.) mit, wie eine gewisse Pflege, Ermunterung und Bildung der Arbeiter und Arbeiterinnen zur Voraussetzung der technisch ermöglichten Produktivitätssteigerungen wird.

Karl Marx ist den Vorstellungen, mit denen Robert Owen und seine Anhänger die Arbeits- und Lebensbedingungen verändern wollten, zeitweilig eher anerkennend gegenübergestanden: "In ihrem Ursprung Hebel der Bewegung, werden sie ihr Hindernis, sobald sie von ihr überholt werden. Dann werden sie reaktionär." (1874). Daß in unserem Jahrhundert wieder eine differenziertere Beurteilung solcher frühindustrieller Reformversuche stattfinden konnte, läßt sich bei Ernst Bloch ("Das Prinzip Hoffnung") nachlesen. An Robert Owen findet er u.a. bemerkenswert, wie dieser als Fabriksbesitzer früh erkannt hat, "daß ein gut genährter und nicht unzufriedener Arbeiter in der halben Zeit dasselbe und Besseres schafft wie ein Galeerensklave". Imponiert hat ihm auch, daß Owen selbst in Theorie und Praxis "mit äußerst nützlichem Beispiel" vorangegangen ist, trotz des offenbar unausweichlichen Scheiterns.

Daß dennoch nicht aufgehört worden ist, solche "privaten" Versuche zu unternehmen, dürfte schon einen Robert Owen im Weitermachen bestärkt haben. Jedenfalls: 1824 sieht er in New Lanark keine Zukunft mehr. Er glaubt an die Notwendigkeit vieler solcher Gemeinschaftssiedlungen als Zellen umfassender Reformen und daher beginnt er in Nordamerika von vorn. Die Produktionsgenossenschaft New Harmony in Indiana jedoch ist trotz dreijähriger Anstrengungen ein totaler Mißerfolg. Die Schuld gibt er später der dortigen "völlig unvereinbaren Ansammlung radikaler Elemente, enthusiastischer Anbeter irgendwelcher Prinzipien, ehrbarer Freidenker und fauler Theoretiker, die mit einer Schar prinzipienloser Gauner garniert war". Daß Georg Rapp, ein aus Württemberg stammender Bauer, der dieses Projekt initiiert hatte, seinen nächsten Kommuneversuch nicht mehr Harmony sondern Economy nennt, läßt auf Einsichten in Integrationszwänge schließen. Robert Owen dagegen, der inzwischen nicht mehr in der Modellfabrik in New Lanark beteiligt ist und den größten Teil seines Vermögens verloren hat, kehrt unverdrossen und voller neuer Pläne nach England zurück. Initiativen für eine Tauschbörse mit Arbeitswährung bleiben neuerlich völlig erfolglos. Wenn man so will, hat er zur New Moral World (so der Titel seiner Zeitschrift) mit einer generellen Pionierrolle, der Begründung des englischen Genossenschaftswesens und der Bestärkung der Gewerkschaftsbewegung schließlich zumindest praxisnahe Fragzeichen beigesteuert.

Die vier Owen-Söhne haben sich die andere "Neue Weit" zum Ziel gewählt. Sie waren nach New Harmony mitgekommen und sind in Nordamerika geblieben. Einer wird Professor für Naturwissenschaften. einer Geologe, ein anderer Kongreßmitglied, Mitbegründer der Smithsonian Institution und Vorkämpfer für ein staatliches Schulsystern und die Frauenrechte. Ihre Mutter. ohne deren Erbe diese ganze Geschichte anders verlaufen wäre, ist am Projektemachen ihres Mannes nur am Rande beteiligt. Den Verkauf von New Lanark und den Zusammenbruch von New Harmony erlebt sie noch mit. Kurz vor ihrem Tod stirbt die einzige Tochter. In einem der letzten Briefe Caroline Owens an ihren Mann, den sie über Jahre kaum noch gesehen hat, und der immer schärfer Privateigentum, Ehe und Religion als "Dreieinigkeit des Bösen" ablehnt, hofft sie liebevoll-distanziert, "that we Iove one another as sincerely, and understand one another much better than we did thirty-one years ago".

Der eindrucksvolle frühindustrielle Gebäudekomplex der Baumwollspinnerei von New Lanark liegt heute praktisch unverändert unterhalb der (1901 von William Turner gemalten) Wasserfälle des Clyde, abgeschieden in einer Erweiterung des engen, bewaldeten Tales. Über Jahrzehnte hinweg hatten sich trotz verschiedener Besitzer noch Reste der unter Owen eingeführten Regelungen erhalten: sonderbarer Weise insbesonders die morgendlichen Tanzstunden und die generelle Tanzfreude. Daß in der gesamten Geschichte dieser Fabrik bloß ein einziger, nur wenige Tage dauernder Streik - während des letzten Weltkrieges - zu verzeichnen war, erinnert an österreichisch-verschhworene Zustände. Selbst als die Anlage im Symboljahr 1968 endgültig geschlossen worden ist, haben die verbliebenen 300 Beschäftigten dies ohne Hoffnung auf Auswege hingenommen - möglicherweise sogar deshalb, weil sie dadurch der extremen sozialen Kontrolle solcher "Inseln" entkommen konnten. Nach Jahren des Verfalls wird nun alles restauriert, für Freizeit, Tourismus und als Monument der industriellen Revolution, mit Museum, Eigentumswohnungen, Werkstätten, Verkaufslokalen, viel privater und öffentlicher Initiative. Was einmal trotz aller Reformen ein grauenhaftes Gefängnis gewesen sein muß, kann eben nicht mehr in einen Zustand versetzt werden, der diese Geschichte erlebbar macht. Nur: Die Gewöhnung an weiterhin trostlose Industriesituationen läßt ordentlich Renoviertes fast grundsätzlich als verlorenes Paradies erscheinen - vielleicht weil Unordnung, Verfall und bestimmte Erinnerungen keine Möglichkeit sein dürfen.

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Im in der Haft geschriebenen Hauptwerk von Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski, der wegen seiner abweichenden Ansichten fast zwanzig Jahre in Sibirien verbringen mußte, gibt es eine bezeichnende Passage über die, von theoretischer Kritik unbeeinflußt gebliebene Owen-Verehrung rund um die 1848er Erfahrungen: "Ein Bild von Owen ist eine Rarität. Dreimal mußte Dimitri darum schreiben, erst der dritte Brief hatte Erfolg. Sein Korrespondent hat dem Gelehrten lange zureden müssen, bis er die Fotografie von ihm erhielt, noch dazu mit einem Begleitbrief des 'heiligen Greises', wie er Owen zu nennen pflegt". Den Titel dieses sehr populär gewordenen und 1988 (bei Rowohlt) wiedereinmal neu aufgelegten Buches habe ich wegen seiner schlichten Direktheit von Zeit zu Zeit ganz gern: "Was Tun?".

 

 
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© Christian Reder 1988/2001