Hinter Differenz zeigen sich überall Ähnlichkeiten
Sadik J. Al-Azm im Gespräch mit Christian Reder
Im einzigen bisher auf Deutsch erschienenen Buch von Sadik
J. Al-Azm, "Unbehagen in der Moderne. Aufklärung
im Islam" bezeichnet er seine ursprünglichen gedanklichen
Ansätze als insistierenden Versuch, "die linke Position
der Marxisten mit einer Religionskritik von radikal-aufklärerischem
Zuschnitt" zu verbinden. In diesem Geist geschriebene
Publikationen - etwa "Selbstkritik nach der Niederlage"
(1968) oder "Kritik des religiösen Denkens"
(1969) - haben ihm jede Menge Schwierigkeiten, aber auch den
Ruf als "Ketzer von Damaskus", führender arabischer
Philosoph und markanter Analytiker arabischer Gesellschaften
und globaler Prozesse eingetragen. Besonders wichtig ist ihm
die zutreffende Voraussage von Karl Marx geblieben, "dass
keine vorkapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftsformation
in der Lage sein werde, sich der Penetration und Destabilisierung
durch das moderne sozioökonomische System des europäischen
Kapitalismus zu widersetzen". Nur wenige Prognosen im
Bereich der Sozial- und Geschichtswissenschaften hätten
sich, ist er überzeugt, als derart hellsichtig und gültig
herausgestellt.
Sadik J. Al-Azm zählt mit Assia Djebar, Edward W. Said
oder Amin Maalouf (der in diesem Band ebenfalls mit einem
Gesprächstext vertreten ist) zu den etwa neunzig Autoren
und Autorinnen mit arabischem bzw. muslimischem kulturellem
Hintergrund, die sich am Beispiel Salman Rushdies dezidiert
für gedankliche und künstlerische Freiheiten ausgesprochen
haben. Die vom Iran ausgehende so genannte Fatwa gegen den
Schriftsteller, schreibt er in seinem Statement dazu, sei
"eine Affäre des Staates, der Machtpolitik, der
Revolution und nicht eine Angelegenheit des Glaubens, muslimischer
Theologie oder der Scharia-Gesetze". Rushdie gehört
für ihn zu den Vorkämpfern "für ein kritisches
Bewusstsein von islamischer Kultur und Geschichte", so
wie es Rabelais oder Joyce in Europa gewesen sind. An den
dort kursierenden Vorstellungen stören ihn vor allem
die Stereotypien und die fortdauernde Sicht auf den Rest der
Welt als etwas anderes. Denn "mit Sicherheit ist das
intellektuelle und kulturelle Leben in der muslimischen Welt",
bemerkt er dazu, "keineswegs so konformistisch islamisch,
so bedingungslos religiös und geistig so stagnierend,
wie einem die zahllosen Darstellungen, Interpretationen und
Erklärungen glauben machen wollen".
In diesem Sinn argumentiert er auch in Bezug auf die sich
immer wieder von neuem zuspitzende Konfliktsituation im Mittleren
Osten. Seinem ausführlichen Essay dazu in "The New
York Book Review" ("The View from Damascus",
15. Juni und 10. August 2000) wurde auch von hochrangiger
israelischer Seite, etwa von Itmar Rabinovitch, dem Präsidenten
der Universität Tel Aviv, bestätigt, "in vieler
Hinsicht faszinierend und bedeutend" zu sein; vor allem
aber sei er "ein höchst wertvoller Beitrag zur Beleuchtung
der Tiefe und Komplexität der syrischen Debatte über
den Frieden mit Israel." Zwecks Rückblick auf das
dramatische Jahr 2001 in die Sendung "Kulturzeit"
des TV-Senders 3sat nach Deutschland geladen, hat er im Kreis
von Peter Sloterdijk, Slavoj Zizek, Sigrid Weigel oder Detlev
Claussen versucht, seiner Sicht "als Beobachter von außen"
Gehör zu verschaffen und das Interesse manchmal weg von
religionsgeprägten jüdisch-christlich-muslimischen
Konzepten, wie er es nannte, auf den Rest der Welt zu lenken.
Als Adorno zur Sprache kam, konstatierte er ihm "eine
Art blinden Eurozentrismus". Der sich immer noch bemerkbar
machenden Auffassung von einer speziellen "Harmonie der
deutschen Sprache mit ernsthaftem philosophischem Denken"
stehe er eher fassungslos gegenüber, gestand er vor deutschsprachigem
Publikum ein; und weiter: Purer Nonsens sei es, im Terrorismus
ein Produkt anderer Kulturen zu sehen, da in jeder Gesellschaft
solche Gewaltpotenziale existierten. Einen religiösen
Hintergrund bedürfe es dazu nicht. Als Waffe der Schwachen,
als Bereitschaft, für eine Sache zu sterben, habe er
eine viel weitere Dimension und Geschichte, als es die aktuelle
Projektion auf Fremde widerspiegle. So viel zu seinen, im
deutschen Sprachraum eher selten anzutreffenden Diskussionsbeiträgen.
Im Mai 2002 haben wir uns in Damaskus getroffen. Der folgende
Text ist das Konzentrat des dort auf Englisch geführten
Gesprächs.
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Sadik J. Al-Azm,
geb. 1934 in Damaskus, Studium in Beirut, lehrt seit
1977 Philosophie an der Universität Damaskus,
Gastprofessuren in New York, Beirut, Amman, Princeton,
Harvard, Japan, Berlin.
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Sadik J. Al-Azm:
Unbehagen in der Moderne. Aufklärung im Islam.
Frankfurt / M. 1993
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For Rushdie. Essays
by Arab and Muslim Writers in Defense of Free Speech.
New York 1994
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Heute sind praktische
Fragen zu stellen: Beherrschen die Regierungen in
der arabischen Welt ihr Handwerk? Was tragen sie zum
Aufbau der Zivilgesellschaft bei? Wie stehen sie zu
den Menschenrechten? Wie viel Transparenz und Demokratie
lassen sie zu?
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Sadik J. Al-Azm in:
Der Spiegel, Hamburg, Nr. 23 / 3. 6. 2002
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Wenn es irgendwann
endlich Frieden geben wird, dann wird das nicht so
sehr ein Frieden der Tapferen sein, sondern ein Frieden
der Erschöpften.
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Sadik J. Al-Azm: The
View from Damascus. In: The New York Review of Books.
15, Juni 2000
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Es gibt in Syrien
sicher eine starke Ablehnungsfront - Leute, die sich
weigern, die Existenz Israels zu akzeptieren. Nach
meiner festen Überzeugung sind sie eine Minorität,
es gibt sie aber.
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Sadik J. Al-Azm: The
View from Damascus. In: The New York Review of Books.
15, Juni 2000
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Das einzige Modell,
das die Islamisten angeboten haben, war das Afghanistan
der Taliban. Sie werden in der arabischen Welt niemanden
finden, der dieses Modell heute ernsthaft verteidigt.
Das Projekt ist ausgelaugt, es ist besiegt.
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Sadik J. Al-Azm in:
Der Spiegel, Hamburg, Nr. 23 / 3.6.2002
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Wenn sich beispielsweise
Kapitalismus, Sozialismus, Nationalismus und Säkularismus
die der europäischen Moderne entstammen, über
den islamischen Nahen Osten ausbreiten, so sind diese
Gesellschaften und Kulturen, in denen sie ihre Wirkung
entfalten, keineswegs so grundsätzlich anders
als die Gesellschaften und Kulturen der Entstehungsländer
dieser Kräfte.
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Sadik J. Al-Azm: Unbehagen
in der Moderne. Aufklärung im Islam. Frankfurt
/ M. 1993, S. 79
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Das politische
Selbstbewusstsein in der arabischen Welt ist seit
Jahren auf dem Tiefpunkt. In dieser Situation auf
die Straße zu gehen und für die unterdrückten
Palästinenser zu demonstrieren, befreit die Menschen
auch von ihrer eigenen Unterdrückung. Dieser
neue Enthusiasmus demaskiert die Heuchelei der Herrschenden
und setzt politische Energien frei.
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Sadik J. Al-Azm in:
Der Spiegel, Hamburg, Nr. 23 / 3.6.2002
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Die "innersten
Werte" des Westens sind nicht immer das gewesen,
wofür sie heute gehalten werden, und die angeblichen
"authentischen Werte" der Muslime müssen
nicht immer das bleiben, was sie vermeintlich immer
schon gewesen sind.
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Sadik J. Al-Azm: Unbehagen
in der Moderne. Aufklärung im Islam. Frankfurt
/ M. 1993, S. 49
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Es ist beinahe
überflüssig darauf hinzuweisen, dass diese
Form des Antisemitismus in den sattsam bekannten Spielarten
des christlichen Fundamentalismus - der römisch-katholischen
Kirche, der griechisch-orthodoxen Kirche und des Protestantismus
- viel tiefer verankert ist als bei den Islamisten.
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Sadik J. Al-Azm: Unbehagen
in der Moderne. Aufklärung im Islam. Frankfurt
/ M. 1993, S. 113
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... es ist wahrlich
nicht lange her, dass man "Lady Chatterley's
Liebhaber" nicht legal kaufen konnte [und] dass
zur gleichen Zeit die Romane von Henry Miller bei
Olympia Press in Paris mit dem Verbot auf dem Buchdeckel
erschienen: Darf nicht nach Grossbritannien
und in die Vereinigten Staaten importiert werden'.
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Sadik J. Al-Azm: Unbehagen in der
Moderne. Aufklärung im Islam. Frankfurt / M.
1993, S. 49
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Wie vor ihm Rabelais
bezieht Rushdie in seiner Prosa zu allen größeren
Konflikten seiner Epoche immer die jeweils progressivste
Position seiner Zeit, ob nun auf politischer, kultureller,
sozialer, ideologischer, religiöser oder wissenschaftlicher
Ebene.
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Sadik J. Al-Azm: Unbehagen in der
Moderne. Aufklärung im Islam. Frankfurt / M.
1993, S. 16
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Unser Vorhaben nennen wir "Transferprojekt Damaskus",
um die angestrebten Austauschprozesse zu betonen, im Sinn
urbaner Potenziale, im Sinn sich überlagernder Bezugsfelder.
Sich zwischen solchen Sphären zu bewegen, ist dabei
wichtig, das Kombinatorische. Kennt auch das Arabische solche
ausufernden Bedeutungen von "Transfer"?
Als neutraler, aus dem Englischen übernommener Begriff
werden darunter Transportleistungen verstanden; es gibt auch
arabische Ausdrücke dafür. In der jetzigen Situation
jedoch erzeugt die englische Version, wenn sie im Arabischen
verwendet wird, sofort die Assoziation mit dem Plan von Ariel
Sharon, die Palästinenser über den Jordan nach Osten
zu transferieren, so wie es extrem rechte Gruppen in Israel
fordern. Dieser "Transfer" hat bei uns also äußerst
negative Bedeutungen und das Wort dafür wird nur in diesem
Kontext verwendet. Als Verbindung, als Transmission, als Vermittlung,
als Interaktion verstanden, ist "Transfer" aber
durchaus auch geläufig.
Historisch gesehen sind ja Syrien und seine Nachbarländer
exemplarische Zonen für Transfers.
Sicher. Wir nennen uns daher auch "Middle East",
Mittlerer Osten, als Hinweis auf solche Vermittlungsebenen,
auf ein Dazwischenstehen.
Indira Gandhi aber hat diesen Begriff gegenüber Amin
Maalouf zurückgewiesen und von Westasien gesprochen,
wie an anderer Stelle in diesem Band nachzulesen ist.
Dass wir den europäischen Begriff akzeptiert haben,
hängt mit dem Verständnis arabischer Zivilisation
zusammen und ihrer Rolle bei der Vermittlung des Wissens der
Antike an die europäische Renaissance. Sie hat die Fackel
nicht ausgehen lassen und weitergetragen, als Europa eine
dunkle Zeit durchgemacht hat. Auch sehr viel Eigenständiges
ist dazugekommen. Die Araber nur als Transferierer zu sehen,
ist also nicht richtig Sie waren nicht bloß Agenten,
sondern auch Subjekte in diesen kulturellen Prozessen. Klar
ist, dass die Rede vom Nahen, Mittleren, Fernen Osten eurozentrischen
Ursprungs ist, nur manchmal transzendieren solche Begriffe
eben und werden gleichsam in unschuldiger Weise benutzt, ohne
dass ihre Herkunft aus europäischen Perspektiven noch
eine Rolle spielt. Mit der Bezeichnung Westasien kommen wir
nicht weit, schon weil Ägypten für uns Teil des
Mittleren Ostens ist, aber in Afrika liegt. Sie entspricht
nicht unserer Selbstwahrnehmung und wäre wiederum indozentrisch.
Auch bezieht sie den Zusammenhang mit dem Mittelmeerraum nicht
ein, eine sehr wichtige Dimension in unseren Vorstellungen.
Das geht zurück bis zu Alexander dem Großen, bis
ins antike Rom. Wir haben in Syrien und im Libanon wahrscheinlich
mehr römische Reste als selbst Italien. Auch das muslimische
Spanien ist ein Faktor, der Maghreb. Aus Europa kamen die
Kreuzfahrer, kam die Moderne. All das ist bestimmend für
unsere Existenz. Transfers haben andauernd stattgefunden,
in alle Richtungen. Als Westasien verstanden, würde vieles
ausgeklammert. Das habe ich auch gegenüber meinen indischen
Gesprächspartnern vertreten, die uns als Westasien sehen
wollen. Aufgefallen ist mir, dass sie oft wie europäische
Orientalisten denken. Sie sehen zuallererst die kulturellen
und wissenschaftlichen Errungenschaften des klassischen Indien,
vor allem die Einführung der Null, und betrachten die
Araber lediglich als Vermittler in Richtung Westen. Damit
sind wir wieder bei unserem Thema "Transfer"; schlichte
Transportleistungen darin zu sehen, wäre zu eng. Es waren
höchst komplexe, vielfältig angereicherte Vermittlungsvorgänge,
die schließlich den Aufstieg des modernen Europas begünstigt
haben.
Begriffliche Probleme gibt es aber auch bei der Bezeichnung
gesellschaftlicher Prägungen; von islamisch orientierten
Ländern zu sprechen, ist vielfach genauso fragwürdig
wie die Rede von einer arabischen Welt, zu der die Türkei,
der Iran oder Afghanistan, die Kurden, die Berber, die Indonesier
stillschweigend mitgedacht werden. In Europa von christlich
orientierten Ländern auszugehen, bleibt Sache ideologisch
entsprechend positionierter Kommentatoren.
Die europäischen Gesellschaften sind postchristlich,
diesen Eindruck habe ich von ihnen. Für Länder des
Mittleren Ostens gibt es kein korrektes Wort in diesem Sinn.
Ihre vielfältige Realität lässt sich nicht
in ein Konzept fassen. Auch wir selbst wechseln daher dauernd
die Begriffe, abhängig vom Kontext. Mit arabischer Nation,
dem arabischen Vaterland, meinen wir die Idee vom Panarabismus.
Unter arabischer Welt verstehen wir kulturelle Zusammenhänge,
Gefühlsebenen, Sehnsüchte, Alltägliches. Das
ist so wie mit dem lateinischen Charakter von Lateinamerika,
das in sich ja ebenfalls sehr heterogen ist. Tendenziell sind
die Menschen dort katholisch, sie sprechen Spanisch oder Portugiesisch,
gewisse Charakteristika haben sich herausgebildet. Von Einheitlichkeit
lässt sich in beiden Fällen dennoch nicht sprechen.
Manchmal ist auch einfach von der arabischen Region die Rede,
nämlich dann, wenn wir uns primär über den
geografischen Zusammenhang definieren, so wie es Metternich
für das entstehende Italien getan hat. Dann spielen die
Differenzen, die Zersplitterung, die Unkoordiniertheit mit
herein. Verbindend ist in erster Linie das Gebiet, in dem
wir leben. Sicher gibt es dabei auch eine islamische Dimension.
In den Ländern, die wir im Auge haben, ist die Mehrheit
der Bevölkerung muslimisch und der Islam ist eine wirklich
funktionierende Religion mit großer Bedeutung für
das Leben der Menschen, für ihr Verhalten, ihre Wertvorstellungen.
Bis jetzt jedenfalls ist der Islam noch nicht in Folklore
verwandelt worden. Auch die Lebenswelt von Christen, von Juden,
von völlig säkularen Menschen ist in dieser Region
stark islamisch geprägt. Ich kenne Christen, die sagen,
wir sind, kulturell gesehen, zu achtzig Prozent Muslime. Über
Generationen hinweg in dieser kulturellen Totalität zu
leben, erzeugt eben solche Überlagerungen. Angesichts
dieser Realitäten ist die Suche nach einer richtigen
Bezeichnung ein eher hoffnungsloses Unterfangen.
Solche Gesellschaften als islamisch orientiert zu bezeichnen,
scheint aber unter dem kulturellen Aspekt durchaus zutreffend
zu sein.
Ich würde das von Fall zu Fall entscheiden, nach dem
jeweils gemeinten Zusammenhang. Die Reduktion dieser vielfältigen
Dimensionen blendet immer etwas aus. Syrien zum Beispiel ist
einmal christlich und byzantinisch gewesen, viele vorislamische
Bedingungen wirken nach. Letzteres gilt auch für den
Iran; wer dessen Gesellschaft sorgfältig studiert, wird
unter der Oberfläche des schiitischen Islam viele Momente
entdecken, die auf viel Älteres verweisen.
Solche Differenzierungen gehen im Mediengeschehen fast
zwangsläufig unter. Der öffentliche Raum verengt
sich wieder auf massiv propagierte Perspektiven. Im arabischen
TV-Sender Al-Jazeera habe ich viel dramatischere Berichte
vom Afghanistankrieg gesehen als in irgendeinem westlichen
Sender. Übernommen wurden sie im Westen nicht. Zu einem
Austausch, zu einer Auseinandersetzung mit anderen Positionen
kommt es trotz der globalen Medienmöglichkeiten praktisch
kaum.
Darauf möchte ich mit einer persönlichen Erfahrung
eingehen. Als ich vor Jahren Gastprofessor in Princeton war,
habe ich den Studierenden zu diesem Thema gesagt: In der Sowjetunion
gibt es eine offizielle Linie, aber keiner nimmt sie ernst,
in den USA gibt es keine offizielle Linie, aber jeder glaubt
an sie. In meinem Programm zum Mittleren Osten des 20. Jahrhunderts
habe ich daher großes Gewicht darauf gelegt, die wichtigen
Positionen zu Aspekten des Kolonialismus genau zu analysieren.
Das hat sich aber trotz der amerikanischen Tradition, Kritik
und Gegenkritik als Fundament des Geisteslebens zu betrachten,
als äußerst schwierig herausgestellt. Immer wieder
setzte sich in den Köpfen die sozusagen offizielle Sichtweise
durch, als standardisierte, nur die normalen Quellen berücksichtigende
Perspektive. Zum Standpunkt der Kolonisierten vorzudringen,
wenigstens andeutungsweise, ist fast allen sehr schwer gefallen.
So war etwa ein Verständnis für die Interessenslagen
von Ägyptern unter britischer Herrschaft kaum zu erreichen,
obwohl Ägypten schon im 19. Jahrhundert das ausstrahlende
Reformland der Region gewesen ist.
Vom Tuaregführer der 1980er Jahre Mano Dayak habe
ich die Aussage gefunden, dass sie genauso gehandelt hätten
wie die Kolonialherren "vielleicht auch grausamer,
wer weiß". Sich im Zweifel immer mit Unterdrückten
verbundenen zu fühlen, ist auch ohne solche Einsichten
ein kaum durchhaltbarer Anspruch, als Perspektive aber weiterhin
notwendig.
Dass Unterdrückte zu Unterdrückern werden, ist
in der Geschichte oft passiert. Das ändert nichts an
der Grundproblematik. In den westlichen Medien kommt sie kaum
vor, auch wenn sich hin und wieder durchaus entsprechende
Absichten bemerkbar machen. Bestimmend für die Tendenzen
der Berichterstattung ist die inoffizielle offizielle Linie,
wie ich es nenne. Medien sind keine isolierten, abgegrenzten
Institutionen, sie existieren in einem Gewebe von Machtspielen,
Einflussnahmen, Manipulationsversuchen, Präsentationszwängen.
Den Horizont zu erweitern, etwa durch Übernahmen von
Al-Jazeera, wäre, wie Sie sagten, äußerst
notwendig. Die Qualität dieses Senders zeigt sich schon
darin, dass es praktisch mit allen arabischen Regierungen
immer wieder heftige Konflikte gibt. Er wird ständig
angegriffen, hält das aber durch. Das Muster, gegenüber
anderen höchst kritisch zu sein, im eigenen Bereich aber
Kritik zu unterdrücken, ist für die meisten Regime
und Regierungen der Region charakteristisch. Kritiker zu Agenten
irgendwelcher ausländischer Mächte zu stempeln,
gehört zum Standardrepertoire.
Das ist mir auch aus meiner Umgebung geläufig. Dennoch
ist offensichtlich, dass viele der kritischen Geister des
Mittleren Ostens längst im Westen leben, weil sie in
ihren Herkunftsländern zu viel Druck verspüren,
kaum Chancen vorfinden. Wenn in Europa dieses Exil konstruktiver
aufgenommen würde, ließe sich das doch beidseitig
als Potenzial künftiger Kooperationen nutzen. Es werden
aber Ängste vor Fremden geschürt und damit Wahlen
gewonnen. Und gerade solche Leute brüsten sich mit
ihren guten Beziehungen zum arabischen Raum.
Dass jemand wie Herr Haider hier akzeptiert wird, hat einen
einfachen Grund, seine antiisraelische Position. Wenn dabei
rassistische Haltungen mit ins Spiel kommen, so wird in
zynischer Weise übersehen, dass Rassisten sich nicht
nur gegen Juden wenden, sondern genauso gegen alle anderen,
gegen Araber, gegen Pakistani, gegen Asiaten, gegen Afrikaner
und so fort. Araber tappen leicht in die Falle, in der europäischen
Rechten den Feind ihres Feindes zu sehen. Sie glauben, es
könnte ihnen nützlich sein. Das ist gefährlich,
prinzipienlos, kurzsichtig.
Eine kritische Haltung israelischen Regierungen gegenüber
wird auch in Europa allzu leicht mit antisemitischen Tönen
vermengt. Die Schamgrenze sinkt wieder deutlich. Vieles
davon schien längst überwunden.
Bewusst sein sollte, dass der Antisemitismus ursprünglich
eine europäische Angelegenheit ist. Sogar das Wort dafür
ist aus Europa gekommen. Wenn wir uns jetzige arabische Karikaturen
von Juden ansehen, wird deutlich, wie weit sie auf Vorbilder
aus Deutschland, aus Wien, zurückgehen. Sie existierten
dort schon lange vor der Nazizeit. Solche Klischees sind importiert.
Konflikte zwischen Muslimen und Juden, zwischen Muslimen und
Christen, zwischen Türken und Kurden, hat es bei uns
auch gegeben und gibt sie noch, aber eine systematische Verfolgung
wie im Namen des Antisemitismus hat nie stattgefunden. Es
haben sich auch keine politischen Parteien mit rassistischen
Programmen gebildet.
Überhaupt noch von Rassen zu reden, von angeblichen
genetischen Unterschieden, ist zwar nicht mehr diskursfähig,
als Unterströmung macht sich ein solches Gedankengut
aber überall wieder bemerkbar. Auch in aufgeklärten
Gesellschaften sollen annähernd zwanzig Prozent der
Bevölkerung dafür anfällig sein. Welche Konzepte
zu Differenz und Ähnlichkeit könnten dem entgegenwirken?
Wenn wir irgendwo auf einem Flughafen ins Gespräch
gekommen wären, hätte keiner von uns den anderen
herkunftsmäßig zuordnen können. Darin liegen
doch erfreuliche Freiheitsgrade.
Selbstverständlich sind für uns auf lange Sicht
die Ähnlichkeiten besonders wichtig, etwa über das
Mittelmeer hinweg, aus den alten kulturellen Beziehungen heraus.
Nehmen wir als Gegenbeispiel den Schleier, das Kopftuch, als
sichtbares Zeichen von Differenz. Viele von uns nennen die
verschleierten Mädchen und Frauen "Nonnen",
in Analogie zu den lange üblichen christlichen Bekleidungssitten.
Hinter Differenz zeigen sich überall Ähnlichkeiten.
Und wenn wir einen Schritt weitergehen, kommt einem wieder
in den Sinn, dass das Christentum aus dem Mittleren Osten
stammt. Deswegen ist vor allem im angelsächsischen Raum
auch von der jüdisch-christlichen Tradition die Rede,
die bei uns ihren Ursprung hat. Den Islam als deren Erweiterung
zu sehen, so wie es Muslime tun, sollte also nicht auf völliges
Unverständnis stoßen. Europa hat seine Religion
von hier bezogen, wir von ihm die Aufklärung und all
die wichtigen Aspekte an Modernität. Das dialektische
Zusammenwirken zwischen beiden Seiten des Mittelmeeres hat
nicht nur Differenzen, sondern auch viele unübersehbare
Ähnlichkeiten produziert. Abraham, Platon, Aristoteles,
Jesus sind sozusagen gemeinsame Ahnen. Wie sehr sich die Menschen
an sich ähnlich sind, braucht wohl nicht extra betont
zu werden.
Ungewohnte Namen aber machen Schwierigkeiten. Sich arabische
in korrekter Schreibweise zu merken, fällt Leuten im
Westen nicht gerade leicht, noch dazu wo es auch intellektuell
kaum einen ständigen Austausch gibt.
Aber sehr viele heute überall gebräuchliche Namen
stammen aus unseren Gegenden: Maria, Johannes, Peter, Paul,
Christoph, Thomas, Georg ...
... über Georg und andere gibt es einen Essay in diesem
Band, genau aus diesem Grund.
Solchen Spuren zu folgen, kann durchaus einiges bewusst machen,
etwa dass im Französischen Georges ein stilles "s"
am Ende hat; das kommt über das Griechische direkt vom
Arabischen, von Girgis bzw. Gorgos.
Für die Globalisierung ist sogar die weltweite Verbreitung
solcher Namen eine Metapher, selbst wenn deren Herkunft
kaum jemanden beschäftigt. Als Auseinanderdriften von
Bevorzugten und Benachteiligten hat sie jedoch auch sehr
dramatische Implikationen; könnten Sie Ihre Sicht auf
solche Tendenzen zum Abschluss kurz kommentieren?
Im Kern geht es bei der Globalisierung klarerweise
um einen vehementen ökonomischen Prozess. Sie ist
ein Sturm, der aus dem Zentrum in Richtung der armen
Länder an der Peripherie weht. Globale Eliten dominieren
das Business, die Finanzen, das Marketing, die Wissenschaft,
die Technik; ihre Herkunft, ihre Kultur, ihre Religion
sind zunehmend gleichgültig. Die Lingua franca
ist Englisch. Wenn sich das so fortsetzt, dürfte
es bald immer mehr Autoren, Schriftsteller, Dichter,
Künstler geben, ob es nun Männer oder Frauen
sind, die auf die geistigen Bedürfnisse dieser
in sich heterogenen, aber global agierenden Eliten reagieren.
Das wird kulturell seine Auswirkungen haben, durchaus
auch positive, verbindende. Nehmen wir Bücher der
letzten Zeit, etwa "Orientalismus" von Edward
Said, die "Satanischen Verse" von Salman Rushdie,
Fukuyamas "Das Ende der Geschichte", Huntingtons
"Kampf der Kulturen", so sind sie alle in
Englisch geschrieben und in den USA veröffentlicht
worden. Wie nie zuvor ist es damit gelungen, eine globale
Signifikanz zu erreichen. Alle wurden sofort weltweit
diskutiert, in jedem Land. Als früheres Beispiel
fällt mir dazu nur Pasternaks "Doktor Schiwago"
ein; das aber war eine Affäre des Kalten Krieges.
Vorerst unabhängig von der Qualität ist dieses
unmittelbar Universelle das wirklich Neue daran. An
Salman Rushdies "Satanischen Versen" wird
das besonders deutlich. In der arabischen Welt hatten
wir Serien von Büchern, die riesige literarische
oder religiöse Skandale hervorriefen; aber als
interne Angelegenheiten. Wenn es um Religionskritik
ging, ist das in Europa nicht viel anders gewesen. Rushdies
Position aber ist neu, auch sein Blick, als Durchmischung
des religiösen Ostens mit dem säkularen Westen.
Vom Westen her ist das als "unser" Skandal
gesehen worden, als Zeichen von Rückständigkeit.
In Wahrheit sind aber erstmals beide Seiten voll involviert.
Von islamischer Seite wird Rushdie vielfach nicht als
zugehörig betrachtet, obwohl er es natürlich
ist; vom Westen wird er polizeilich beschützt,
aber nicht als muslimischer Dissident, so wie wir ihn
sehen, sondern als eigenes Objekt. Schon darin zeigen
sich die von ihm kenntlich gemachten übergreifenden
Momente, um die es mehr und mehr gehen wird.
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