In Ihrem Essay "Mörderische Identitäten"
argumentieren Sie in komplexer Weise für "zusammengesetzte
Identitäten", für ein Bewusstsein, wie stark
deren Elemente in Beziehung stehen und aufeinander einwirken.
Den Begriff "Identität" desavouieren Sie
als "falschen Freund", denn es gehe durchwegs
um vielfältige Zugehörigkeiten. Überall auf
der Welt würden aber noch "tribale" Auffassungen
von Identität dominieren, was sich unter aufgeheizten
Umständen bis zu mörderischer Eskalation steigern
könne. Aus dem Libanon kommend, "wo man sich ständig
die Frage nach seinen Zugehörigkeiten stellen muss",
wie Sie sagen, sind Sie von einem arabischen und gleichzeitig
christlichen Familienhintergrund geprägt, leben aber
seit langem in Frankreich, inzwischen in Distanz zu jedem
religiösen System, wie Sie betonen - was auch meiner
Position entspricht. Motivieren solche Erfahrungen in einer
permanenten Krisenregion nicht viel stärker, als es
sonst der Fall ist, zu einem Wunschdenken, nach dem eine
wirkliche Deeskalation nur über eine stärkere
Akzeptanz multipler, auf diese und jene Weise zusammengesetzter
Identitäten erreicht werden kann?
Sicher beschäftigen mich solche Fragen auch wegen meiner
Herkunft. Schon in meiner Kindheit war ich mit ihnen konfrontiert.
Gleichzeitig hat sich aber das starke Empfinden herausgebildet,
dass vermischte, viele Faktoren einschließende Identitäten
keinesfalls bloß Menschen wie mich betreffen, die in
exemplarisch "multikulturelle" Situationen hineingeboren
sind. Es betrifft letztlich jeden von uns. Wer hat schon eine
einfache, klar abgegrenzte Identität? Wird das behauptet,
wird zugleich vieles ausgegrenzt oder verdrängt. Das
sollte einem bewusst sein, einschließlich der Verluste,
die es bewirkt. Möglichst viel von solchen Einflüssen
zu aktivieren, wäre der ergiebigere Weg. Der leichtere
ist es sicher nicht. In der heutigen Welt zählt es nicht
gerade zu den einfacheren Lebenssituationen, als Muttersprache
Arabisch, die Sprache des Islam, zu haben und zugleich eine
christliche Familienumgebung. Sich daraus ergebende Formen
des Pendelns zwischen verschiedenen Zonen gibt es aber überall,
als Migration, als Emigration, als Umzug innerhalb eines Landes,
als Wechsel zwischen sozialen Gruppen. Von Zeit zu Zeit -
und ich meine das nicht nur metaphorisch - muss sich jeder
von einem Gebiet in ein anderes bewegen, von einem Universum
in ein neues. Da sich solche Grundsituationen ausweiten und
beschleunigen, kommt es zwangsläufig zur Addition von
Identitätselementen. Weiter auf einem Hauptaspekt zu
beharren und den Rest zu ignorieren, wird sich vielfach nicht
durchhalten lassen.
Aber trotz allem eingelernten, auf verschiedene Rollen
zugeschnittenen Verhaltens als Männer, Frauen, Autoren,
Väter, Lehrer, Reisende, Fremde, als Mitglieder verschiedener
wechselnder Gruppen, sind selbst privilegierte, auf Individualität
pochende, "flexible" Menschen von "Wir und
die anderen"-Gefühlen abhängig. Überall
wird Vielfalt gepredigt, tatsächliche Vielfalt erzeugt
aber Erklärungsbedarf. In Marketing- und Spezialistenwelten
kann sie nur sehr bedingt stattfinden. Einen Beruf, eine
Sache, eine bestimmte Art von Kompetenz zu repräsentieren,
wird viel eher akzeptiert. Ich sehe da Parallelen zur Abwehr
von multikulturellen Identitäten, auch wenn es sich
auf "ethnischen" Ebenen oft viel brutaler auswirkt.
Die Komplexheit der Person mit kulturellen Mustern in Beziehung
zu setzen, ist sicher richtig. Nicht nur ethnische oder soziale
Faktoren sind Anlass für Konflikte. Oft genügt Bewegung
- von einem Bezirk in einen anderen, von einer Altersgruppe
in eine andere. An vieles davon haben wir uns längst
gewöhnt, anderes ist noch nicht so "normal".
Deswegen ist Vermittlung, auch bezüglich der Elemente
einer Persönlichkeit, so wichtig geworden; analog zur
Psychoanalyse. Aus welchen Gründen werden die kulturelle
Prägung einer Person, ihr Aussehen, jedes Zeichen von
Herkunft um so viel wichtiger genommen als andere Aspekte?
Die Tendenz, sich auf ein Merkmal zu konzentrieren, ist sicher
sehr stark; es ist aber bloß mieses Benehmen, wenn religiöse
oder ethnische Zugehörigkeiten als das Dominante gesehen
werden. Zugleich ist klar, dass es schwer fällt, die
eigentlichen Persönlichkeitselemente wahrzunehmen. Wir
schleppen unsere Prägungen mit, die jedem Beruf bestimmte
Attribute zuweisen, jede Nation irgendwie charakterisieren,
die Geschichte, Kriege, Animositäten zum Teil der Traditionen
machen. Langsam aber sollte klar werden, dass wir gerade dabei
sind, die Phase, in der Nationen die Weltbilder - und die
Bilder von Fremden - geprägt haben, zu verlassen. Sie
ist genauso an Simplifizierungen gebunden wie die angesprochene
Typisierung bestimmter Berufe. Es ist einfacher, das angeblich
Typische wahrzunehmen, wie ein Markenzeichen. Vieles oder
etwas nur "halb" zu sein, erleichtert Diskriminierungen.
Wie die jeweils anderen Teile geschätzt werden, hängt
vom kulturellen Kontext ab. Halb deutsch und halb französisch
zu sein, kann inzwischen entspannter betrachtet werden als
dies bei exponierteren Zusammentreffen der Fall wäre.
Es ist noch nicht lange her, da war auch so etwas ein Problem.
Offensichtlich ist aber doch, dass jede Emphasis für
multikulturelle, multiethnische, multinationale Szenarios
starkem Gegendruck ausgesetzt ist, trotz aller Liberalitätsbekenntnisse.
Nur in sehr begrenzten, auch nicht gerade verlässlichen
Zirkeln gilt Derartiges als Selbstverständlichkeit.
In so genannten realsozialistischen Ländern ist "Internationales"
ebenfalls eine Fiktion geblieben, ohne nachhaltige Realitätseffekte.
Auf den ökonomischen Ebenen von Macht hat es sich am
deutlichsten verankert. Große Konzerne und internationale
Organisationen brauchen bis zu einem gewissen Grad multinationales
Personal. Mit islamischem Hintergrund jedoch eröffnen
sich in Europa und Amerika keine Chancen auf eine Karriere.
Wo sehen Sie also die angesprochenen kulturübergreifenden
Vermittlerfunktionen in der Praxis?
Intellektuelle neigen wahrscheinlich dazu, komplexe und widersprüchliche
Persönlichkeitsmerkmale besonders hervorzuheben; was
aber nicht heißt, dass andere nicht auch so denken.
Sicher meinen viele das Gleiche, ohne es auszudrücken.
Es ist immer auch eine Frage des Horizonts, von einer globaleren
Sicht. Was nehmen wir im Alltag, über das Fernsehen,
über direkte Kommunikation schon von Auffassungen in
China oder Afrika wahr? Alles ist kanalisiert; es erfordert
spezielle Anstrengungen, um über solche Grenzen hinauszugelangen.
Vermittlung ist am stärksten, wenn sie beiläufig
funktioniert und so das tägliche Leben beeinflusst. Über
Musik sind wir schnell mit europäischen, afrikanischen,
afroamerikanischen Kontexten verbunden. Dabei merkbare Qualitäten
machen Gleichheit deutlich; die Musik entwickelter Gesellschaften
ist generell sicher nicht besser als jene in angeblich "unterentwickelten".
Es geht eben darum, dieses Erbe und das Potenzial in seiner
Gesamtheit zu beachten, weltweit. Es kommt nicht aus einer
Quelle; es ist sehr, sehr unterschiedlich, aber nie völlig
isoliert vom Rest. Kulturell funktioniert manches bereits.
In Europa wird mehr und mehr übernational entschieden,
vieles davon beeinflusst das Leben sehr unmittelbar. In anderen
Weltgegenden geht das langsamer vor sich. Aber: Wo wird es
in fünfzig Jahren noch Staaten mit festen Grenzen und
unabhängigen Regierungen geben?
Die Business-Welt ist zum Muster für Politik geworden,
wenn auch oft noch eher fiktiv. Für privilegierte Gruppen
ergeben sich daraus nie allzu viele Probleme. Ein Manager
kann zwar aus Italien oder dem Libanon stammen, nicht jedoch
der Bürgermeister von Berlin. Vordergründige "Internationalisierungen"
sind aber nicht der Punkt, es geht viel eher um die Verteidigung
und Ausweitung öffentlicher Räume, um politische
Gestaltungs- und Beteiligungsmöglichkeiten.
Das sehe ich ziemlich pragmatisch. Ein Bürgermeister
sollte den Ort, für den er verantwortlich ist, gut kennen
und Erfahrungen mit ihm haben, bis in viele Verästelungen
des Alltagslebens. Es ist nicht notwendig, dass er oder sie
dort geboren ist. Dass die Manager-Welt mehr und mehr die
Regeln bestimmt, ist genauso klar.
Ein anderer Punkt in Ihren Texten ist die wiederkehrende
Argumentation über Ähnlichkeit und Differenz.
"Nie zuvor hatten Menschen so viele Dinge miteinander
gemein", ist eines dieser optimistischen Statements.
Zugleich sind Singularitäten, individuelle Lebensentwürfe
ein allseits propagiertes Programm. Das bestärkt Tendenzen,
Ähnlichkeiten zu negieren. Sich abzuheben ist das vorherrschende
Spiel. Ähnlichkeiten von Einstellungen und Verhaltensweisen
wahrzunehmen, etwas was mich auch in der Fremde besonders
interessiert, passt da nicht wirklich dazu. Dabei würden
die Nuancen solcher Ähnlichkeiten eher Perspektiven
eröffnen als jedes Hochspielen angeblich unüberwindbarer
Unterschiede. Paradoxerweise kann einem Ähnliches aber
auch furchtbar auf die Nerven gehen.
Das sind Parallelbewegungen. Basis ist eine grundlegende
Ähnlichkeit der Menschen - oder sollte es sein. Es ist
doch evident, wie viel sie gemeinsam haben, und zwar mehr
und mehr. Zugleich bleibt wichtig, dass jede Gesellschaft,
jede Kultur produziert, was von ihr produziert werden kann:
um damit - als eine Vision - unsere Welt insgesamt täglich
reicher und reicher zu machen. Universalität lässt
sich von Differenziertheit nicht abspalten. Zu viel Uniformität
bestärkt einen oft sogar gewaltsam ausgelebten Drang
nach Unterschieden. Derartiges war ein Hauptgrund für
mich, diesen schmalen Band über "Identitäten"
zu schreiben. Die Balance zwischen Universellem und Unterschiedlichem
kann sehr leicht irritiert werden. Zu starke Kräfte in
Richtung Universalität erzeugen Reaktionen in Richtung
Unterscheidbarkeit; zu starke Betonung von Unterschieden provoziert
Abgrenzungen, Trennungen, expandierende Konflikte.
Alternativen zur destruktiven Dynamik der Massenmedien
zeichnen sich nirgends ab. Standards für eine gegenüber
"Fremden" und ethnischen Unterschieden offene
Haltung finden in den üblichen Aufschaukelungsmechanismen,
in denen positive Beispiele kaum interessieren, wenig Rückhalt.
Wirklich stabile "liberale" Zonen konnten nicht
installiert werden, trotz der entsetzlichen Terrorerfahrungen
des 20. Jahrhunderts in Europa und - als Überlegenheitsfantasie
- seitens Japans und vieler anderer. Möglicherweise
sind New York, Chicago, Mexiko oder Brasilien diesbezüglich
interessantere Studienobjekte als viele europäische
Zonen. Wenn sich etwas entspannt, dann durch mentale Veränderungen.
Sehen Sie dafür irgendwo Ansatzpunkte oder bloß
Gegenbewegungen?
Kein Land hat das bisher gelöst. Es gibt auch keine
Modelle. Jede Gesellschaft hat diese Probleme. Zu Brasilien
zum Beispiel habe ich Berichte im Kopf, die genau aufzeigen,
wie gering die Zahl der Bischöfe afrikanischen Ursprungs
ist. Und praktisch keiner mit solcher Herkunft hatte je die
Chance, Senator oder Präsident zu werden.
Gut, es bleibt die Beteiligung an Prozessen, sofern wir
überhaupt noch optimistisch sind. Ein zugehöriger
Punkt ist die Tendenz, Europäisches als Gegenteil von
etwas Nichteuropäischem zu definieren. Passe dich an
oder verschwinde, ist die Botschaft; lerne oder bleibe blöd.
An solchen Attitüden hat sich, auch wenn sie in modernem
Gewand daherkommen, nicht allzu viel geändert. Wie
ließen sie sich in nachhaltiger Weise abbauen? Den
anderen, gleichsam als Unmündigen, nicht zu kritisieren,
ist ja ebenfalls ein patriarchalisches oder matriarchalisches
Muster.
Die Idee von Europa, mit ihren imaginären Trennungslinien,
die einen geistigen Raum abgrenzen, an dem wir entweder Anteil
haben oder eben draußen in der Wildnis bleiben, diskutiere
ich in meinem Buch über Identitäten. Evident ist,
dass Europa in einer Phase der Geschichte, sagen wir vor rund
fünfhundert Jahren, das Zentrum weltweiter gesellschaftlicher
Evolution wurde. Das lässt sich nicht auf die Industrialisierung
oder die Philosophie eingrenzen. Einiges ist vom Besten, einiges
vom Schrecklichsten; aber all das lässt sich nicht umkehren.
Für außerhalb stehende Zivilisationen hat das bedeutet,
und bedeutet es noch immer, sich der Frage zu stellen, wo
sie stehen, was vom Westen übernommen wird und wie die
Vergangenheit fortgesetzt werden könnte, ohne ständig
auf Europa zu starren. Alle diese Fragen sind nicht beantwortet,
am wenigsten in der arabischen Welt selbst.
In Ihren Texten diskutieren Sie Unterlegenheitsgefühle,
die aus solchen unbalancierten Situationen resultieren,
und auch die Ansprüche jener, die glauben, eigene Wege
würden die Abwehr ausländischen Einflusses voraussetzen.
Solche Romantik-Varianten und zugehörige Spiegeleffekte
bringen mich zu eingefahrenen westlichen Betrachtungspositionen.
Fremde werden dabei primär als Bestätigung von
Vorurteilen wahrgenommen. Edward Said hat gezeigt, dass
"der Orient" bloß eine in Europa konstruierte
Vorstellung ist. Macht es mit solchen Erkenntnissen überhaupt
noch Sinn, Differenzen positiv zu sehen, wie es sympathisierende
westliche "Orientalisten" versucht haben? Wenn
ein "romantischer" Zugang unzulässig ist,
was wäre dessen Gegenteil - ein zynischer? Kurz gesagt:
Was hilft einem heute, den Mittleren Osten in seinem Potenzial
und nicht bloß als Problemzone zu sehen?
Mit solcher Emphasis kann ich nur ambivalent umgehen. Wenn
wir die Dinge streng rational betrachten, wird rasch klar,
dass fast alle materiellen und geistigen Parameter, die das
Geschehen bestimmen, westlichen Ursprungs sind. Das lässt
sich nicht einfach leugnen. Wir aber müssten uns dann
fragen, inwieweit wir wirklich alles von dort beziehen. Was
gibt es sonst noch, das unser Menschsein bestimmt, das uns
in gewisser Weise anders macht, aufgrund der Geschichte, der
Art zu leben, der Gefühlswelten? Und wie könnte
uns das darin bestärken, in offenen Perspektiven zu denken
- über die Welt, über uns selbst? Die Antwort ist
selbstverständlich: So etwas kann nicht einfach innerhalb
eines Rahmens stattfinden, der von einer Beteiligung an europäischen
Errungenschaften oder dem Ausschluss von ihnen bestimmt ist.
Da gibt es sehr viele andere Aspekte, die wir nicht einfach
hervorheben oder verdrängen können. Und wir müssen
auch begreifen, dass viele der Einflüsse von anderswo
für uns bedeutungsvoll sind. Damit müsste begonnen
werden. So gesehen ist eine Art "Romantik" beim
Blick nach dem Osten oder nach dem Westen weiterhin wichtig,
gleichsam als Ebene, um Nuancen und Gefühle ins Blickfeld
zu bekommen.
Im Westen scheint es so, als ob radikale Alternativen nicht
mehr zur Diskussion stünden; auch die Antiglobalisierungsbewegung
verhält sich ziemlich zivilisiert, gleichsam systemkonform.
Es ergibt sich der Eindruck, als ob das Potenzial für
aggressive Ausbrüche unter Kontrolle wäre und
in gefährlicher Form nur irgendwo jenseits, außerhalb
des normalen Spektrums, überlebt habe, als naiv-fundamentale
Kritik am Lauf der Dinge. Aber auch von arabischer Seite
wird immer wieder der Zusammenhang fundamental islamistischer
Ideen mit früher im Westen propagierter fundamental
antikapitalistischer Kritik, vor allem im Rahmen der Dritte-Welt-Bewegung,
betont. Beim Vergleich der Slogans stößt man
auf viele Ähnlichkeiten, nicht nur wegen Analogien
zwischen kommunistischen und quasireligiösen Konzepten.
Wenn Menschenrechts- und Demokratiefragen im eigenen Land
nicht regelmäßig gestellt werden, bleibt Fremdes
umso mehr "unverständlich". Auch der Export
von Opposition und Revolution ist eine ureigene westliche
Erfahrung. Sehen Sie solche Zusammenhänge oder hat
die aktuelle, islamisch geprägte Radikalisierung ganz
andere Wurzeln?
Was wie eine religiöse Opposition aussieht, ist nicht
bloß eine religiöse Bewegung. Nehmen wir den Iran:
Die Entwicklungen dort haben sicher, wenn man sich die Tatsachen
ansieht, viele Aspekte einer Dritte-Welt-Bewegung. Zu solchen
Vorstellungen bestehen viel stärkere Verbindungen als
zur Geschichte des Islam, denn mit ihr gibt es wenig Gemeinsamkeiten,
selbst wenn von offizieller Seite die metaphysische Komponente
so betont wird.
Bekanntlich ist das Wort "Fundamentalismus" im
Zuge protestantischer Erneuerungsbestrebungen in den USA
geprägt worden; erst nach und nach wurde es zur Bezeichnung
für unrealistische und dogmatische Haltungen. Damit
wird auch die Debatte um Grundlegendes diskriminiert, von
der Nord-Süd-Situation in einem unbalancierten globalen
System bis zu Menschenrechten und einer weltweiten Stabilisierung
demokatischer Verhältnisse. Ein von religiös oder
reaktionär geprägten Sphären emanzipiertes
Angehen fundamentaler Fragen würde dazu gehören,
in einem globalen öffentlichen Diskussionsraum - oder
ist das erneut "unrealistisch"?
In weiten Teilen der Welt fühlen sich Menschen äußerst
unbehaglich, wenn es um den Westen geht. Nicht immer aus guten
Gründen. Viele können sich mit Entwicklungen nicht
abfinden, die aus meiner Sicht ein Fortschritt für die
Menschheit sind. Wir sollten nicht vergessen, dass eine Ursache
der Aufstände in Afghanistan die Schulpflicht für
Mädchen gewesen ist. Generell gesehen folgt die Kritik
den Linien postkolonialer Debatten, mit dem armen Süden
als zentralem Problemfeld. Auf Veränderungen wird in
jeder Gesellschaft reagiert. So etwas zu negieren oder zu
unterdrücken, ist längerfristig immer eher kontraproduktiv.
Falsch ist es, Derartiges immer mit Religion, als dem Hauptbezug,
in Zusammenhang zu bringen. Damit deklarieren sich die Beobachter
mehr als ihr Beobachtungsobjekt. Um es klar zu sagen: Ich
bin völlig überzeugt davon, dass Religionen keine
Antworten dazu liefern können, was wir in nächster
Zukunft zu bewältigen haben. Ich glaube auch nicht, dass
die islamische Welt derzeit auf irgendeiner Ebene die Kapazität
hat, sei es auf politischer, ökonomischer, intellektueller
oder moralischer Ebene, Alternativen zur herrschenden westlichen
Zivilisation zu offerieren. Kritikern zuzuhören ist immer
wichtig, gerade wenn sie sagen, ihr glaubt, die ganze Welt
zu vertreten, alle Probleme lösen zu können, immer
auf hohem moralischem Niveau zu agieren - aber in der Realität
stimmt das einfach nicht. Ich sehe aber nirgendwo Kräfte,
die stimmige Alternativen präsentieren könnten.
Um eine weitere Position einzubringen, möchte ich
auf den Palästinenser Hischam Scharabi eingehen, der
lange in den USA gelehrt hat. Für ihn hängt ein
tatsächlicher Fortschritt in der Region von einigen
wenigen Punkten ab. Zuerst müssten die Rahmen für
moderne säkulare Gesellschaften geschaffen werden und
dann ginge es um drei Hauptthemen: die Macht, die Frauen,
die Armut. Können Sie einer solchen "Vereinfachung"
zustimmen? Sie deckt sich mit jeder aufmerksamen Reiseerfahrung.
Wer aus dem Westen kommt, dem fallen zuerst die Armut und
die Situation der Frauen auf und im weiteren, vorsichtig
gesagt, die sehr labile Lage in Bezug auf Menschenrechte
und Demokratie.
Die Möglichkeiten der Frauen sind überall ein zentrales
Kriterium. In den Ländern, von denen wir sprechen, ist
als Reaktion auf den Westen das, was Frauen tun können,
was Frauen sein dürfen, mehr und mehr eingeschränkt
worden. Das führt zu einer Infantilisierung der Gesellschaft.
Generalisieren bringt aber wenig. Afghanistan ist nicht der
Iran, Iran ist nicht Ägypten, Ägypten ist nicht
der Libanon. Es bestehen da große Unterschiede. Insgesamt
gesehen ist aber klar, dass in diesem Teil der Welt die den
Frauen zugewiesene Rolle völlig unakzeptabel ist. Das
ist ein essenzieller Teil des Problems, eine Hauptursache
der Rückständigkeit, eine zentrale Frage von Freiheit
und Demokratie. Es ist einfach undenkbar, Frauen weiterhin
zu separieren. Und es bedeutet auch, dass es aus solchen Richtungen
keine Konzepte geben kann, die anderswo übernommen oder
adaptiert werden könnten.
Bei längeren Aufenthalten, manchmal auch spontan,
bekommen die eher versteckten Qualitäten eine Chance,
wahrgenommen zu werden, der vergleichsweise noch hohe Grad
an Solidarität, die Gastfreundschaft, das vielfach
durchaus faire Scheidungsrecht, der andere Lebensrhythmus.
Im Westen ist jeder ohne Sozialversicherung und Selbstvorsorge
verloren.
Solche Sichtweisen können für eine kritische Betrachtung
moderner Errungenschaften durchaus nützlich sein. Nehmen
wir das Thema soziale Sicherheit. Ohne die im Westen entstandenen
Versicherungssysteme müsste es dort Solidaritätssysteme
wie anderswo auch geben. Aber wer würde schon die erreichte
soziale Sicherheit mit einem Schritt zurück in solche
traditionellen Strukturen tauschen? Niemand. Im Vergleich
von beidem wird man erkennen, dass Europa es technisch besser
gelöst hat, aber dass die Behandlung der Alten und Armen,
der Mangel an Solidarität kein Weg ist, den wir alle
gehen sollten. Beispiele für Qualitäten sollten
uns immer zum Nachdenken bringen.
Sind es Konsequenzen der patriarchalischen - oder was immer
für unflexiblen - Strukturen, dass die herrschenden
Gruppen, die vermögenden Schichten, die Intellektuellen
nicht eine offensivere Rolle bei notwendigen Veränderungen,
der Schaffung von Institutionen, einer besseren Ausbildung,
einem Austausch übernehmen? Mit Blick auf das beidseitig
geringe Interesse an medialer Vermittlung, an Übersetzungen
lässt sich fast von bewusster Abschottung benachbarter
Kulturen sprechen, die nur gelegentlich symbolisch durchbrochen
wird.
Damit berühren wir sehr grundlegende Fragen kultureller
Produktion. Auch der Westen ist nicht wirklich offen für
die in solchen Teilen der Welt anzutreffenden Qualitäten.
Andererseits ist klar, dass kulturelles Schaffen von den existierenden
Freiheitsgraden abhängt. Spezialisten für die Geschichte
des Mittleren Ostens finden sich in Europa viel eher als in
der Region selbst. Für seriöse Forschung bedarf
es politischer Freiheit, Kontakten, Institutionen. Damit wären
wir bei den Konturen des Problems intellektueller Arbeit.
Es mangelt an Begeisterung und Prioritäten. Nur wenige
sind davon überzeugt, kulturelle Angelegenheiten wären
gesellschaftlich wichtig.
Aber Om Kalsoum wird von Millionen verehrt, wie sonst kaum
eine Sängerin; ihr Begräbnis war ein gesamtarabisches
Drama. Und die weltweite Verbreitung von Musik kann niemand
verhindern.
Die Leute sehen das aber nicht als "Kultur"; es
ist Teil ihres täglichen Lebens, des Fernsehprogramms.
Frankreich transferiert immer wieder Beispiele, sozusagen
als Phänomen, etwa neue Musik aus Algerien. Manches davon
wird dann Teil der globalen Szene, immer aber infolge solcher
Vermittlung. In der Literatur ist es nur wenigen aus dem arabischen
Raum gelungen, sich international durchzusetzen oder wenigstens
bekannt zu machen. Es wäre aber auch falsch zu behaupten,
es gebe viele Talente wie einen noch unentdeckten García
Márquez. Die Zahl der Lesekundigen ist vergleichsweise
sehr klein. Literatur wird noch immer nicht als große
Kunst angesehen. Auf Buchmessen in der arabischen Welt verkaufen
sich religiöse Bücher am besten, dann einige politische,
etwas Dichtung und erst zuletzt einige Romane. Kaum wer ist
fähig, Romane zu lesen. Und keiner kann davon leben,
sie zu schreiben.
Sind Ihre - auf Französisch geschriebenen - Bücher
auch auf Arabisch publiziert?
Ja, einige sind erhältlich. Aber es beweist mir immer,
wie gering das Interesse an Romanen ist. Das hängt natürlich
auch mit strukturellen Mängeln zusammen. Unsere Beziehungen
zur Vergangenheit, zur Zukunft, zum Westen, zu uns selbst
werden einfach zu wenig diskutiert. Wer sind wir? Wohin gehen
wir? Gehen wir überhaupt irgendwohin? Nur sehr wenige
stellen solche Fragen. Beobachter von außen sind da
oft viel offensiver. Sie suchen nach unseren Absichten, nach
unseren Zielen. In unserer Realität aber gibt es keine
Absichten, keine Richtungen.
Was uns in Übersetzungen an Literatur - vielfach von
Frauen - aus arabischen Ländern zugänglich wird,
macht die täglichen Konflikte, den Druck auf Frauen,
die Unmöglichkeit offener Auseinandersetzung im Ausland
bewusster. Assia Djebar aus Algerien ist so eine Stimme,
Nawal el Saadawi aus Ägypten, Hannan Ashrawi oder Sahar
Khalifa aus Palästina. Die meisten von ihnen werden
angefeindet oder leben längst irgendwo anders, so wie
V. S. Naipaul oder Salman Rushdie, als Vertreter einer globalen,
kulturelle Verhaltensweisen durcheinander bringenden Literatur.
Das Kosmopolitische daran hat auch erzwungene Aspekte; von
wirklich offener Urbanität, im Sinn früherer Traditionen,
ist nicht allzu viel zu spüren.
Dass es sie neuerlich gibt, erhoffen viele. Wir gehen aber
sicher nicht einer Phase entgegen, in der sie willkommen ist.
Es hat eine solche vielfältige Kultur gegeben, dann kam
der Niedergang, es gab Erneuerungsphasen, insgesamt aber sind
sie alle stecken geblieben.
Die kolonialen Einflüsse dabei sind unbestritten,
im Ägypten des 19. Jahrhunderts, bei der Aufteilung
des Mittleren Ostens, beim Sturz Mossadeghs im Iran, bei
Nassers Panarabischer Bewegung, in den diversen Ölkriegen.
Sie betonen in Ihren Texten aber auch die hausgemachten
strukturellen Schwächen sehr stark.
Man muss einfach beide Seiten sehen, möglichst alle
wichtigen Ursachen der andauernden Konfusion. Es ist nie "der
Feind" allein schuld. Die Löcher im eigenen Bewusstsein,
ein kleinkariertes Denken gehören dazu. Die Menschen
fragen einfach zu wenig, was rundherum vor sich geht. Die
wenigen, die es tun oder getan haben, sind immer als unerwünscht
angesehen worden; irgendwann schweigen sie oder gehen weg.
Es ist einfach nie zu einem breiteren Bewusstseinswandel gekommen,
für den Fragen nach dem Stellenwert der Religion, nach
den notwendigen politischen Institutionen, nach den internationalen
Beziehungen selbstverständlich werden. Alle Debatten
darüber haben nicht zu entsprechenden strukturellen Transformationen
geführt. Wenn die Menschen keine Chancen sehen ...
Über Jahrhunderte ist die Kirche im Westen ein viel
stärkerer Machtfaktor gewesen als religiöse Institutionen
in islamischen Gesellschaften. Praktisch alle anderen Religionen
und Abspaltungen sollten verschwinden.
Es gab aber schließlich genügend Leute, die solchen
Mächten entgegengetreten sind. Das hat andere Formen
von Balance ermöglicht. Kritik und Selbstkritik konnte
zu einer westlichen Qualität werden.
Wirklich "kritische" Argumentationen sind inzwischen
aber bloß noch Sache von Minoritäten. In Netzwerken
außerhalb der üblichen Strukturen, in NGOs, also
Non-governmental organizations, wird noch eine Chance gesehen.
Pierre Bourdieu hat ein solches Denken forciert. Die symbolischen
Aspekte dabei und tatsächlich bewirkte Veränderungen
betreffen jedoch sehr verschiedene Ebenen. Organisationsarbeit
absorbiert Energien. Glauben Sie an die Veränderungskraft
solcher informeller Strukturen, im Sinn globaler Civil-
Society-Strategien?
Offen gesagt, sehe ich nicht gerade viele auf diese Weise
bewirkte positive Veränderungen, die tatsächlich
strukturprägend bleiben. Regierungen gehen ihre üblichen
Wege weiter. Aus einer globalen Sicht zeigt sich doch, dass
solche Gruppen sehr isoliert agieren und meistens schlicht
Probleme aus anderen Teilen der Welt adoptieren. Längerfristig
gesehen sind die Beziehungen zwischen Institutionen, etwa
zwischen Universitäten, wichtiger. Daraus können
wirkliche Arbeitssituationen resultieren. Tausende Studierende
und Professoren sollten reisen, sich treffen, diskutieren,
konkrete Fragen bearbeiten. Das wäre dann das Ferment
für anderes. Wenn bloß irgendwelche Gruppen aufeinander
treffen, ohne gemeinsame Arbeitsprogramme, so produziert das
lediglich eine eigene, abgehobene Realität.
Ein solcher arbeitsbezogener Austausch wird aber, entgegen
aller Ankündigungen, eher schwieriger. Keiner fühlt
sich für das Bezahlen zuständig. Um standardisierte
Executives zu erzeugen, bedarf es keiner Sonderinitiativen.
Andererseits bilden in Harvard gerade asiatische Studierende
eine der herausragendsten Gruppen. Computerexperten aus
Indien sind überall gefragt. Aber der Austausch spielt
immer weniger eine Rolle. Würde es dynamisierend wirken,
wenn Europa Tausenden von Studenten und Studentinnen nichteuropäischer
Herkunft Stipendien offeriert, damit in traditionelle, oft
militärisch, polizeilich oder bloß anarchisch
geprägte Gesellschaften Bewegung gerät? Glauben
wir überhaupt noch an solche Effekte von Erziehung
und Ausbildung?
Sicher könnte Europa vielen eine adäquate Ausbildung
vermitteln. Aber wer seinen Abschluss geschafft hat, wird
auch versuchen dort zu bleiben. Und zwar so lange, wie er
zu Hause keine besseren Chancen vorfindet. Daher geht mein
Denken in eine andere Richtung. Im Libanon etwa gibt es die
renommierte Amerikanische Universität. Sie ist ein gutes
Beispiel für das, was mir vorschwebt, eben in solchen
Ländern selbst Weltklasseinstitutionen zu haben, die
Generationen prägen, akademische Traditionen und Qualitäten
formen und Zentren des Aufwachens werden könnten. Sicher
sind da viele dagegen, sehen darin schlicht ausländischen
Einfluss, neokoloniale amerikanische, englische, französische
Infiltrationen. Ohne eine darüber hinausgehende Evaluierung
der Institutionen in Richtung internationaler Vernetzung wird
es nicht gehen. Neue Institutionen müssten gegründet
werden. Die Standards in allen diesen Ländern sind zu
niedrig. Die meisten ihrer Studierenden lernen praktisch nichts.
Sie finden keine Arbeit. Sie finden keine Strukturen vor,
die ihnen ein motiviertes ziviles Leben ermöglichen würden.
Sie aber haben solche Strukturen gefunden - im Exil. Wie
sind Sie darauf vorbereitet gewesen? Wie hat sich Ihr persönliches
Denken geformt? Welche Literatur war dabei wichtig?
In dieser Hinsicht bin ich sehr eklektisch. Meine Familienumgebung
war stark von Personen geprägt, die intensiv mit arabischer
Literatur zu tun hatten. Beispiele aus der Weltliteratur sind
besprochen worden. Arabische Dichtung habe ich dauernd gehört.
Mein Vater lehrte vergleichende Literaturwissenschaft und
sprach ständig über Autoren, die er mochte. Rabindranath
Tagore schätzte er besonders. Ich habe begonnen Romane
in arabischen Übersetzungen zu lesen, Dickens, Twain,
Swift, Alexandre Dumas, etwa ab dem Alter von vierzehn das
meiste in Französisch. Camus war einer der Favoriten,
auch Balzac. Manchmal lese ich auch englische und amerikanische
Autoren im Original. Wie ich schon sagte, ich bin da sehr
sprunghaft, interessiert an vielen Feldern und Regionen. Short
Storys sind mir besonders wichtig. Ich glaube, dass ich aus
jedem Teil der Welt einige Bücher kenne; ohne dass mir
dabei das Urteilen - das ist Literatur, das nicht - besonders
wichtig wäre. Denn an Literatur ist vor allem großartig,
dass so viele verschiedene Menschen, mit so unterschiedlichem
Hintergrund, mit so verschiedenen Erfahrungen teilhaben. Meine
eigene Literatur ist gleichermaßen Produkt meines Lebens,
meiner Umwelt und all dessen, was ich gelesen habe. Evolution
ist für mich ein Schlüsselthema. Davon leitet sich
mein Interesse für Geschichte und Vorhersage ab. Fiction-Autoren
wie H. G. Wells, Orwell, Asimov sind mir sehr wichtig. Gerade
weil ich viel an historischen Themen arbeite, ist mir die
Verbindung zwischen solchen Ebenen ständig bewusst. Es
ist die Idee des Vergleichs, der Relationen zwischen heute,
gestern, morgen.
Vor dem Hintergrund Wiener Erfahrungen ist für solche
geschichtlichen Zugangsweisen Joseph Roth wichtig, oder
Stefan Zweig. Inzwischen steht Fragmentarisches im Vordergrund.
Selbst der letzte Weltkrieg ist nicht gerade oft zum Thema
literarischer Arbeit geworden, so wie historische Themen
generell.
Da gibt es sicher von Region zu Region große Unterschiede.
Die Eindrücke summieren sich anders; man lebt - und schreibt
- sehr spezifisch, reagierend auf sein Umfeld. Österreich
kenne ich nicht sehr gut, aber ich kann mir vorstellen, dass
das Zerbrechen der Monarchie und das Trauma des Zweiten Weltkriegs
ganz unmittelbar nachwirken. Werden literarische Ergebnisse
aus der Distanz gesehen, aus Ägypten etwa, oder aus Kolumbien,
verlieren lokale Umstände ihr Gewicht. Die universellen
Aspekte von Literatur bauen auf solchen differierenden Erfahrungen
auf. "Joseph Fouché" von Stefan Zweig zum
Beispiel hat mich in meiner Jugend stark beeinflusst. Wahrscheinlich
ist es nicht sein bestes Buch, aber in einem Aspekt war es
für mich wichtig: Es hat demonstriert, wie neue Blickrichtungen
vorgeprägte Bilder verschieben können. Fouché
war als Polizeiminister der Revolution und dann Napoleons
eine weithin verhasste Figur. Ohne ihn zu verteidigen, ist
diesem Eindruck das Stereotype genommen worden. Mein erstes
Buch, über die Kreuzzüge aus arabischer Sicht, ist
also in gewisser Weise von Stefan Zweig beeinflusst.
Auf mich und vielleicht auch meine Generation bezogen,
ist die erste Stimme, die einem Länder jenseits des
Mittelmeeres nahe gebracht hat, Camus gewesen. Die Kontroverse
Camus - Sartre ist mir beim Wiederlesen neuerlich bewusst
geworden. Verkürzt gesagt hat Camus darauf bestanden,
dass er Franzose und Algerier sei; während Sartre forderte,
alle sollten so empfinden wie Algerier. Auf der Seite aufständischer
Massen zu sein, war verpflichtend. Aus jetziger Sicht erscheint
die balanciertere, um Ausgleich bemühte Position von
Camus die tragfähigere. Aber weder die eine noch die
andere Sicht hat sich durchgesetzt.
Die Statements von Camus sind damals als sehr provokant empfunden
worden; er wurde nicht verstanden und viele Leute verstehen
ihn in diesem Punkt bis heute nicht. Er hat Gerechtigkeit
für die Algerier gefordert, gegen die von Frankreich
ausgeübte Gewalt. Zugleich hat er eingestanden, dass
er an seine Mutter denke, die als Französin in Algerien
lebte. Mit diesem Gang ins Persönliche hat er eine tiefe
Wahrheit berührt. Wie soll ich mich entscheiden? Muss
ich mich entscheiden? Indem er solche Gefühle und Unschärfen
offen angesprochen hat, ist Individuelles in Widerspruch zu
generalisierenden Konzepten von Gerechtigkeit geraten. Wenn
wir auf das Geschehen in Algerien schauen, hat er sehr profund
argumentiert. Der Glaube daran war falsch, die Dinge gemeinsam
mit engstirnigen Nationalisten ändern zu können,
ohne sich um das Leid von Millionen zu kümmern, nur weil
damit dem angeblichen Gang der Geschichte gedient werde. An
einer Revolution ist etwas falsch, wenn es einer Mutter wie
der von Camus dabei schlecht ergeht. Eine wirkliche Revolution,
die wir unterstützen könnten, sollte in der Lage
sein, solche Gefühle einzubeziehen. An Camus' Anspruch
hat vor allem eines, das alle Konflikte betrifft, meine volle
Sympathie: Es gibt immer viele Positionen um die Realität
zu betrachten. Unsere Pflicht als Beobachter, als Zeitgenossen
ist es, nicht zu simplifizieren, nichts zu sehr zu stilisieren.
Dinge nicht klar sehen zu wollen, hat seinen Preis, ob in
Bezug auf Rassismus, Nationalismus oder Revolutionen ...
Ein anderer Zugang zu Camus: seine Beschreibung des Lichts
in Nordafrika. Er selbst kannte nur die Küstengebiete.
Saint-Exupéry wurde als Flieger zur Stimme der "Grandeur"
der Wüste. Die Emphase für diese Landschaften,
für diese Räume, diese Dimensionen teile ich,
seit ausgedehnten Reisen in die Sahara und andere Wüsten.
Die Erinnerungen daran begleiten mich, sicher nicht nur
weil eine religiöse Erziehung einem eingeprägt
hat, dass die großen Religionen aus der Wüste
stammen und sie ein mythischer Ort für dieses und jenes
ist. Ist dieser Komplex in irgendeiner Weise für Sie
wichtig, wo Sie doch in unmittelbarer Nachbarschaft zu solchen
Zonen aufgewachsen sind?
Wir haben im Libanon im fruchtbaren Berggebiet nahe am Meer
gelebt und es gab, wie schon von jeher, die tendenzielle Einstellung,
das Hinterland mit seinen Wüsten als unliebsame Nachbarschaft
zu betrachten. Von ältesten Zeiten an sind Leute aus
den Wüsten und Steppen Syriens, Arabiens, Zentralasiens
bei uns eingefallen, in aller Regel als Zerstörer von
Zivilisation. Schon die phönizischen Gründer von
Karthago fürchteten sich vor den Wüstenbewohnern
im Landesinneren. Solche Denkweisen waren immer präsent.
Es ist auch weiterhin so, dass Distanz gehalten wird.
Das klingt, als ob all die Wüstenmythen - über
Abraham, Moses, Johannes den Täufer, über Jesus,
die frühen Eremiten - im Westen viel nachhaltiger aufgenommen
worden sind als von jenen, die im Umfeld der originalen
Szenerie leben.
Die Wüste hat immer schon als mystischer Ort gegolten.
Nehmen wir den Islam: Er ist aus der Wüste gekommen,
aber auch aus der Stadt. Als Religion ist er von urbanen Menschen,
nicht von Nomaden gebildet worden. Eine ihrer Grundideen war,
aus der Wüste wegzukommen, ins grüne Land und in
die Städte jenseits von ihr. Der Mystizismus der Wüste
existiert nur, wenn einer nicht in der Wüste ist.
Aber nicht nur die alten Texte transportieren solche Vorstellungen.
Alle Phasen eines westlichen Orientalismus mit seiner Sehnsucht
nach nichteuropäischen Kulturerfahrungen waren davon
geprägt, von Napoleons "Expedition" nach
Ägypten bis hin zu Lawrence von Arabien, der mit Burton,
Doughty oder Thesiger zu den modernen englischen "Wüstenheiligen"
zählt. Paul Bowles wurde zur vermittelnden Figur. Die
Pilgerreise Nikolai Gogols nach Palästina wäre
ein früheres Beispiel, oder die Orientreise Mark Twains.
Als einer der ersten Maler hat Delacroix Nordafrika bereist;
dann sind Matisse, Kandinsky, Klee, Macke, Le Corbusier
gekommen, auf der Suche nach dem Licht der Wüste, sich
durch unter solchen Bedingungen gefundenen formalen Lösungen
inspirierend. Einflüsse auf die europäische Moderne
sind evident. Um diese Zeit ist auch das islamische Ornament
für den Westen neu entdeckt worden, als Tradition zu
abstrahieren. Allgemein geläufig ist es aber keineswegs,
wie viele Transfers sich so ergeben haben. Auch das Gegenbild,
die Erforschung Europas von dieser Seite her, hat kaum interessiert.
Europäisches ist in Wellen eingebrochen; Beidseitiges
hatte kaum Chancen. Man müsste sich jede einzelne solcher
dokumentierten Erfahrungen genau ansehen. Traditionelle Formen
von Abstraktion zum Beispiel mit jenen der Moderne zu vergleichen,
kann Missverständnisse provozieren. Von der Erforschung
ähnlicher, aus unterschiedlichen Denkweisen entstandener
Resultate halte ich aber viel. Zu den Phasen der Opposition
gegen bildliche Darstellungen des Menschen, bei Juden, Christen,
Muslimen, gibt es ja keine einhellige Auffassung. De facto
hat aber die Fotografie viel mehr verändert, da in der
Kunst nach dem Verlust des Monopols, Realität zu repräsentieren,
neue Konzepte gesucht werden mussten.
Ähnlichkeiten können auch eine Falle sein. Auf
den ersten Blick könnten viele traditionelle Städte
rund um das Mittelmeer als arabische eingeschätzt werden.
So wie erneut in der Moderne schaut Gebautes vielfach wie
einer einheitlichen Kultur Zugehöriges aus, ob in Venedig,
Santorin oder Tanger. Oberflächen und Strukturen können
sehr ähnlich sein, aber die dahinter stehenden Konzepte
scheinen dagegen zu sprechen. Eine sonderbare Situation.
Die Dschellaba und der Schleier, die jetzt von manchen aggressiv
als Symbol von Muslimen gesehen werden, repräsentieren
bloß, wie Römer und frühe Christen ausgesehen
haben.
Im Vergleich zu merkwürdig gekleideten Touristen ergibt
das ein eindrucksvolles Bild von Fortschritt. Das lässt
sich in jedem Basar feststellen. Auch das Basar-System selbst,
das Souk-System, als komplizierte Verschiebefläche
kommerzieller Netzwerke, ist in versimplifizierten Kopien
neu aufgenommen worden, von Supermärkten, Shopping
Malls, Fußgängerzonen. Zum Ausgleich braucht
man selbst in Kaufhäusern Basarathmosphäre, damit
standardisierte Erlebniswelten nicht zu steril wirken.
Basare sind nicht als übertragbares Modell entstanden.
Sie funktionieren nur im Rahmen komplexer sozialer Strukturen.
Wo es sie noch gibt, sind sie Konsequenz der Lebensumstände.
Aber zu begreifen, dass etwas an einem Ort funktioniert und
anderswo nicht, ist ein wichtiger Schritt zum Verständnis.
Der klassische Basar wird vermutlich verschwinden. Wer das
aufhalten will, müsste auch viele andere Dinge aufhalten,
etwa eine verbesserte Situation der Frauen. Auch die so genannte
arabische Stadt existiert unmittelbar aus dem Lebenszusammenhang.
Und es ist evident, dass die Menschen die traditionellen Stadtzentren
verlassen, wenn sie es können. Millionen wollen sich
von ihrer Geschichte verabschieden.
Es gibt Schätzungen, wonach in den nächsten Jahrzehnten
400 Millionen Chinesen in Städte ziehen werden. Die
Rahmen für überschaubare Entwicklungen zerbrechen.
Außerhalb des Westens bilden Jugendliche die Mehrheit
der Bevölkerung. Ob das zu einer Flucht vor Geschichte
führt, mit der Chance, Vergeltungskreisläufe zu
unterbrechen, ist damit aber nicht gesagt.
Niemand kann vergessen. Jeder ist ein Produkt des Geschehens
um ihn herum. Wir vergessen zwar, aber wir erinnern uns wieder.
Es gibt die verschiedensten Arten, mit Geschichte umzugehen,
aber völlig beiseite schieben lässt sie sich nicht.
Rachegefühle zu sublimieren, damit die Verbrechen
der anderen - und die der eigenen Leute - nur noch als Geschichte
präsent bleiben, scheint für den Mittleren Osten
der einzige Weg. Aber selbst in angeblich befriedeten Zonen
Europas gelingt es schon wieder relativ einfach, das Klima
zu vergiften und vergessen geglaubte Feindschaften zu aktivieren.
Dass Gruppen in ihren Geschichtsbildern differieren, gibt
es überall. Die Verdeutlichung von Positionen kann manches
klarer machen. Es dauert einfach oft Generationen, bis manipulierende
Momente überwunden werden. Auch das sind Fragen von Standards
und Chancen.
Teddy Kollek, der langjährige frühere Bürgermeister
von Jerusalem, mit familiären Wurzeln in Wien, meinte
unlängst, es werde zweihundert Jahre, also sieben "biblische"
Generationen brauchen, bis Araber und Juden tatsächlich
wieder friedlich zusammenleben können.
Um solche Prozesse zu beschleunigen, könnte viel getan
werden. Ein profundes Verständnis der Vergangenheit ist
wichtig. Es geht nicht um ein Vergessen, sondern um die Entscheidung,
ob die Beurteilung von diesem und jenem akzeptiert werden
kann oder nicht. Auf den Libanon bezogen, mit seinen fünftausend,
sechstausend Jahren an Geschichte, gibt es Leute, die nur
die Geschichte der arabisch-islamischen Welt für relevant
halten und den Rest als Okkupation sehen. Andere wiederum
betonen, dass sie die Nachkommen der Phönizier sind.
Wie ich über die bald tausend Jahre zurückliegende
Zeit der Kreuzfahrer gesprochen habe, konnten viele nicht
akzeptieren. Ereignisse, die erst fünfzig oder sechzig
Jahre her sind, haben gleichsam im Untergrund ihre Folgewirkungen.
Es ist die Qualität der Diskussion, die zählt.
Von Kindheit an hat es mir gefallen, kein "richtiger"
Österreicher zu sein, weil ich, mit ungarischer Mutter,
in Budapest geboren bin. Zunehmendes Wissen über die
ungarische Zeitgeschichte hat diese Sympathien für
etwas anderes verschwinden lassen. Das monströse Ausmaß
an Grausamkeiten ist in beiden Gesellschaften zu ähnlich
gewesen. Sogar fiktive Doppelidentitäten verdoppeln
nur die Belastungsgefühle.
Die dunklen Phasen der dreißiger und vierziger Jahre
sind eine absolute Schande für jeden. Sich aber deswegen
selbst zu hassen, ist keine Antwort. Eine bessere wäre,
Prozesse in Richtung Offenheit zu bestärken, wo die Chancen
für Antisemitismus, für Xenophobie sinken - die
also mit anderen Ebenen von Geschichte und Visionen in Verbindung
stehen.
Wirklich urbane, offene Gesellschaften, wie sie sich zumindest
ihrem Ruf nach in Damaskus, in Beirut, in Alexandria - um
in der Region zu bleiben - immer wieder manifestiert haben,
können doch als Brennpunkte von Entwicklung gesehen
werden, wegen ihrer Kapazität zum Austausch, zur Vermischung,
zu Synergien. Alle lernen aber zuerst die nationale Geschichte.
Eine eigene Geschichte der Urbanität fehlt noch, obwohl
ihre aktuellen Variationen die treibende Kraft derzeitigen
Geschehens sind.
Jede beschränkte Perspektive wirkt auf das Bewusstsein
zurück. Auch die europäische Geschichte stellt sich
klarer dar, je mehr Einflüsse miteinbezogen werden. Geschichte
- und der Gebrauch der Wörter, um sie zu beschreiben
- sollte aber mit noch viel weiteren Perspektiven gesehen
werden. Als ich einmal als Journalist Indira Gandhi zur Situation
im Mittleren Osten befragt habe, war das Erste, was sie gesagt
hat: Warum sprechen Sie vom Mittleren Osten, hier sagen wir
westliches Asien. Alle derartigen Bezeichnungen repräsentieren
einen europäischen Blick, Distanzen werden von einem
bestimmten Gebiet aus definiert. Für Japaner ist der
Osten Kalifornien. Von islamischen Gesellschaften zu sprechen,
ist auf die gleiche Weise falsch, wie der Begriff christliche
Gesellschaft, selbst wenn damit nur die traditionelle kulturelle
Orientierung gemeint ist. Jedenfalls: Es genügt nicht,
andere Zivilisationen in die Betrachtungen einzubeziehen wie
abgesonderte Einheiten. Wir sollten vielmehr dazu fähig
sein, die Geschichten zu erzählen, wie es so vielen Menschen
gelungen ist, mit unterschiedlichstem kulturellem Hintergrund,
verschiedenen Sprachen, abweichenden Verhaltensweisen all
die existierenden Sphären der Produktion mitzuprägen.
Und das würde bedeuten: der Welt zuhören. Ich brauche
diesen Vorsatz. Nur mit Lokalnachrichten zu leben, ist lähmend.
In allem, was ich geschrieben habe, sind viele Elemente präsent,
viele Räume und Zeiten. Es geht immer um Personen, die
sich zwischen etwas bewegen. Arabisch, Französisch, Englisch
sind die Sprachen meines Alltags. Es befriedigt mich nie,
länger in irgendeinem Land zu sein. Der Spruch von Terenz
ist mir wichtig: "Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches
ist mir fremd." Er war ursprünglich ein Sklave aus
Karthago, ein Phönizier. Nach Rom gebracht, hat er auf
Lateinisch zu schreiben begonnen. Und dass zu Caracallas Zeit
jeder, der damals im Römischen Reich gelebt hat, römischer
Bürger geworden ist, macht evident, wie etwas schon normal
Gewesenes wieder utopisch wurde.
|
Es besteht kein Zweifel,
dass als Reaktion auf die fortschreitende Globalisierung
ein verstärktes Bedürfnis nach Identität
entsteht; und aufgrund der existentiellen Ängste,
die derart unvermittelte Veränderungen mit sich
bringen, auch ein verstärktes Bedürfnis nach
Spiritualität.
In der Tat wirken die Glaubensgemeinschaften
wie "globale Stämme" - "Stämme"
wegen ihrer identitären Geschlossenheit und "global",
weil sie sich mühelos über Grenzen hinwegsetzen.
Die Zugehörigkeit zu einer
Glaubensgemeinschaft wäre also in gewisser Hinsicht
die globalste, universalste Form von Partikularismus,
oder vielleicht sollte man sagen: der unmittelbarste,
"natürlichste" und am stärksten
verwurzelte Universalismus.
Nie zuvor hatten Menschen so viele
Dinge miteinander gemein, so viele Kenntnisse, so
viele Bezugspunkte, so viele Bilder, Worte, Werkzeuge,
die sie miteinander teilen, doch veranlasst das die
einen wie die anderen nur umso mehr, ihre Unterschiede
zu betonen.
|
Amin Maalouf: Mörderische
Identitäten. Frankfurt / M. 2000. S. 85
|
Das Symbol Europa
ist selbst in simulierter, entstellter und verleugneter
Form untrennbar mit jeder Initiative der Selbstlegitimation
verbunden.
|
Hélé Béji:
Das verinnerlichte Abendland. In: Islam, Demokratie,
Moderne. Hg. E. Heller / H. Mosbachi. München 1998.
|
Als die arabischen
Länder 1973 das Ölembargo als Waffe gegen
die Industrieländer einsetzten, wurde der westlichen
Welt das Ausmaß ihrer Abhängigkeit vom Öl
aus dem Nahen Osten deutlich vor Augen geführt.
Im Lauf des Jahrzehnts gab es Anzeichen für ein
mögliches militärisches Eingreifen der Vereinigten
Staaten, falls die Öllieferungen noch einmal gestoppt
würden ...
|
Albert Hourani: Die
Geschichte der arabischen Völker London 1991; Frankfurt
/ M. 2001. S. 505
|
Wie die marxistischen
muslimischen Revolutionäre im Iran, die dachten,
nur ein muslimisch verhüllter Marxismus könne
dem iranischen Mann auf der Straße schmackhaft
gemacht werden, so versuchten viele radikale arabische
Intellektuelle in den siebziger Jahren, revolutionäre
Theorien, einschließlich der kommunistischen,
in einem islamischen Zusammenhang neu zu definieren.
Ein Beispiel für diese Gruppe ist Hussain Mruwwe,
der schiitische kommunistische Intellektuelle, der zum
Islam "zurückkehrte", ohne jedoch seine
marxistische Überzeugung aufzugeben. Er wurde 1983
in Beirut ermordet - wahrscheinlich von Mitgliedern
der radikalen schiitischen Gruppe der "Partei Gottes"
(Hisbollah).
|
Hischam Scharabi: Moderne
und islamische Erneuerung. In: Islam, Demokratie, Moderne.
Hg. E. Heller / H. Mosbachi. München 1998. S. 52
|
In rein formalem
Sinn hat der Begriff Fundamentalismus seinen Ursprung
im amerikanischen Protestantismus, wiewohl er von muslimischen
und westlichen Autoren gleichermaßen auf den Islam
übertragen wird.
|
Bassam Tibi: Islamischer
Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie.
Frankfurt / M. 1993. S. 31
|
... zentrale Problematik: die
der politischen Umsetzung. Diese kreist um drei zentrale
Themen:
- die Macht
- die Frau
- die Armut
|
Hischam Scharabi: Die
Macht, die Frau und die Armut. In: Islam, Demokratie,
Moderne. Hg. E. Heller / H. Mosbachi. München 1998.
|
Die Hauptaufgabe
des arabischen Denkens müsste heute die Zerstörung
der geltenden Strukturen sein, mit dem Ziel, für
immer Schluss zu machen oder wenigstens aus ihnen herauszukommen.
|
Adonis (Ali Ahmed Said):
Kultur und Demokratie. Zwickau 2001. S. 85
|
Das Wirtschaftswachstum
und die schnelle Urbanisierung führten zu einer
stärkeren und deutlicheren Polarisierung der Gesellschaft.
Vom Wachstum profitierte an erster Stelle die herrschende
Oberschicht, Offiziere, höhere Beamte, Techniker,
Geschäftsleute in der Bau- und Konsumgüterindustrie,
im Bereich von Import und Export oder die Partner multinationaler
Unternehmen.
|
Albert Hourani: Die
Geschichte der arabischen Völker. (London 1991).
Frankfurt / M. 2001. S. 526f
|
... wenn der, dessen
Sprache ich erlerne, die meine nicht achtet, ist das
Sprechen seiner Sprache nicht länger eine Geste
der Aufgeschlossenheit, sondern wird zu einem Akt des
Gehorsams und der Unterwerfung.
|
Amin Maalouf: Mörderische
Identitäten. Frankfurt /M. 2000. S. 43
|
Kaum bin ich wieder
eingerichtet, wieder eingetaucht, wieder verwurzelt,
entsteht in mir nagend der Wunsch fortzugehen.
|
Assia Djebar: Oran -
Algerische Nacht (Arles 1997), Zürich 2001. S.
42
|
(...) wurde Ägypten
eines Teils seiner Substanz beraubt. Zum einen finanziell,
aber auch an Menschen, und das waren nicht nur die Besitzenden.
Griechen, Italiener, Franzosen, Malteser, Briten zu
Tausenden, all die Minderheiten. (...)
Ganze Viertel von Alexandria schnürten ihre Bündel.
Das Seidengespinst, das sich Schicht für Schicht
in dieser Stadt abgelagert hatte, all die Farben, ein
buntscheckiges, zerbrechliches Gewebe. Eine Wirklichkeit
aus Fleisch und Stein, ein Schmelztiegel, der unsere
ganze Sehnsucht nach Öffnung und Vermischung mit
anderen aufnahm, in dem sich unsere Toleranz entwickelt
hatte. Eine Menge kleiner Leute hielt plötzlich
erschreckt inne, um dann ihre Koffer zu packen.
Viele Juden waren unter denen, die verjagt wurden. Sie
lebten auf diesem Boden seit Anbeginn der Zeiten, waren
ebenso Ägypter wie ich.
|
Selim Nassib: Stern
des Orients. (Paris 1994), Zürich 1999. S. 189
|
Für andere Nationen
und Kulturen ging es um nicht mehr als die Entdeckung,
dass der Westen entwickelt war, während sie selbst
nicht von der Stelle kamen. Für die Araber aber
war mit der Frage: Warum ist der Westen weiter entwickelt?
eine andere untrennbar verknüpft: Warum sind wir,
die muslimischen Araber, unterentwickelt? In den anderen
Fällen - in den meisten jedenfalls - blieb die
Frage dramatisch, im arabischen Fall aber neigte sie
von Anfang an zur Tragik. Denn während andere Nationen
und Kulturen ihre Unterentwicklung mit fehlender Entwicklung
gleichsetzten, sahen die Araber in ihr eine Zurückgebliebenheit,
einen Niedergang. Aus demselben Grund imaginierten sie
ihren Aufstieg als eine Renaissance, als eine tatsächliche
Wiedergeburt.
|
George Tabaraschi: Die
anthropologische Wunde in unserer Beziehung zum Westen.
In: Islam, Demokratie, Moderne. Hg. E. Heller / H. Mosbachi.
München 1998. S. 73
|
Nein, ich beschuldige
unseren Kolonialherren nicht, jedenfalls nicht in Bausch
und Bogen. Wir hätten an seiner Stelle genauso
gehandelt, vielleicht auch grausamer, wer weiß.
Aber es bleibt das Bedauern darüber, dass wir nie
unsere eigene Geschichte haben schreiben können.
|
Mano Dayak: Die Tuareg-Tragödie.
Bad Honnef 1996. S. 21
|
Schreckliche Probleme,
wunderbare Landschaften, erleuchtet von der mächtigen
Sonne, die ein für alle Mal bei ihnen aufgegangen
ist, im Orient.
|
Salah Stétié:
Reise ohne Zimmer mit Aussicht. In: Islam, Demokratie,
Moderne. Hg. E. Heller / H. Mosbachi. München 1998.
S. 225
|
In der immer mit
sich identischen Wüste ist die Zukunft nichts als
eine Metamorphose der Vergangenheit: Das, was wir morgen
sehen werden, ist nur eine andere Form dessen, was wir
gestern gesehen haben.
|
Adonis (Ali Ahmed Said):
Dichtung und Wüste. Chemnitz 1996. S. 86
|
Die islamischen Länder sind
weit mehr durch ein gemeinsames soziales Verhalten
und eine ähnliche Einstellung zu wirtschaftlichen
Fragen miteinander verbunden als durch ein gemeinsames
politisches Schicksal.
Handel und Handelsgewohnheiten
sowie Handelsrecht wurden schon seit den allerersten
Jahrhunderten islamischer Ära nach allgemeinen
kaufmännischen, d. h. liberal-kapitalistischen
Grundsätzen geregelt.
|
Mohamed Scharabi: Der
Bazar. Das traditionelle Stadtzentrum im Nahen Osten
und seine Handelseinrichtungen. Tübingen 1985.
S. 30 f.
|
Of the 81 historic urban centres
and towns that have been designated World Heritage
Site by UNESCO, 18 are located in Islamic North Africa
and Southwest Asia:
-
Aleppo
-
Algier
-
Damaskus
-
Fes
-
Ghadames
-
Isfahan
-
Istanbul
-
Jerusalem
-
Kairo
-
Kairouan
-
Khiva
-
Marrakesch
-
Sana'a
-
Shibam
-
Sousse
-
Tunis
-
Tyros
-
Zabid
|
Eugen Wirth: Die orientalische
Stadt im islamischen Vorderasien und Nordafrika. Mainz
2000. S. 92
|
Und ich glaube, dass es noch Zeit,
viel Zeit, vielleicht mehrere Generationen braucht,
bevor bewiesen sein wird, dass die Szenarien der Gewalt,
des Archaismus, des Despotismus und der Unterdrückung,
die sich uns in Algerien, Afghanistan, aber auch anderswo
darbieten, mit dem Islam nicht inniger verbunden sind
als die Scheiterhaufen der Inquisition oder das Gottesgnadentum
der Monarchie mit dem Christentum.
Wem ist damit gedient, die Toleranz
der Vergangenheit zu rühmen, wenn die Gegenwart
anders aussieht, werden einige mir entgegenhalten.
Und in gewissem Sinne würde ich ihnen beipflichten
...
Wogegen ich mich wehre und immer
wehren werde, ist die Vorstellung, wonach es auf der
einen Seite eine - die christliche - Religion gibt,
von jeher dazu berufen, Modernität, Freiheit,
Toleranz und Demokratie zu vermitteln, und auf der
anderen Seite eine - die islamische - Religion, die
von Anfang an dem Despotismus und Obskurantismus ergeben
war. Das ist falsch, das ist gefährlich und nimmt
einem Großteil der Menschheit jegliche Zukunftsperspektive.
|
Amin Maalouf: Mörderische
Identitäten. Franfurt /M. 2000. S. 63, 52
|
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