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Transferprojekt Damaskus
urban orient-ation

Herausgegeben von Christian Reder und Simonetta Ferfoglia
Institut für Medienkunst / Kunst- und Wissenstransfer
Universität für angewandte Kunst Wien
Edition Transfer bei Springer Wien New York 2003
402 Seiten, durchgehend in deutscher und arabischer Sprache

"Transferprojekt Damaskus" ist ein Kompendium
zu audiovisueller Erforschung von Urbanität,
zu künstlerisch-essayistischen Sichtweisen,
zu transkultureller Arbeit über symbolische Dimensionen und Facetten sozialen Handelns, als experimenteller Umgang mit Komplexität.


 

Beispiele für Qualitäten sollten uns immer zum Nachdenken bringen
Amin Maalouf im Gespräch mit Christian Reder


Mit Amin Maalouf bin ich in einer für uns beide sehr weit westlich liegenden Umgebung zusammengetroffen, auf der Ile d'Yeu, einer kleinen eine Schiffsstunde vor der französischen Küste liegenden Atlantikinsel. Der Andrang im Buchladen am Hafen war mir aufgefallen. Er signierte dort Bücher; wir kamen ins Gespräch, setzten es später fort und stehen seither in Kontakt. Sein bisheriger Lebensweg hat viele Aspekte eines geglückten Entkommens. 1976 floh er mit seiner schwangeren Frau aus Beirut. Die ständigen Kämpfe hatten es ihnen unmöglich gemacht, noch länger zu bleiben. Eine ruinierte Stadt und permanente Angst boten keinerlei Perspektiven. Die erlebte exzessive Destruktion, als über Jahre hinweg herrschendes Prinzip, ließ ihnen keine andere Wahl. In Paris, so betont er, seien sie damals durchaus freundlich aufgenommen worden. Da er als Journalist bereits hinreichend bekannt war, fiel ein neuer Start nicht allzu schwer. Seit seinem ersten Buch, "Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht" (1983), war er auch als Schriftsteller akzeptiert. In seinen Romanen und Essays - bisher in zwölf Sprachen übersetzt - öffnen sich weite Dimensionen, mit zeitlich, geschichtlich, geografisch, politisch ausufernden Perspektiven, die das Potenzial verschiedenartiger Transfers und dabei entstehender Konflikte, als im östlichen Mittelmeerraum von jeher präsente Alltagserfahrung, mitschwingen lassen. Die kulturelle und ökonomische Spaltung in einen "orientalischen" Osten und einen "europäischen" Westen, mit ihrem Gemisch aus Fakten und Bildern, aus Komplexität und Einseitigkeit, beschäftigt ihn in vielen Facetten. Seine Erforschung von Ursachen und Möglichkeiten, von Unterschieden und Ähnlichkeiten führt ihn zu subtilen Bildern, die davon erzählen - und er ist ein enthusiastischer Erzähler -, was geschieht und was geschehen ist, wobei Chancen und Möglichkeiten in stiller, vielfach unausgesprochener Weise präsent bleiben.

Einem Denken in Nationen und nationalen Identitäten kann er nichts mehr abgewinnen. An den Gesellschaften, die ihn hauptsächlich beschäftigen, sind ihm Traditionen des Austauschs, der Urbanität, des flexiblen Umgangs mit Fremdem wichtig, gleichsam als gespeicherte Muster "moderner", offener Verhaltensweisen. Denn Barrieren gegen eine solche Normalität seien durchwegs fragwürdig. Mit Grenzziehungen gebe es ganz andere Erfahrungen als in Europa, so wie auch Vorstellungen von der Außenwelt, von öffentlichen und privaten Räumen sich deutlich unterscheiden. Von außen kam immer wieder Bewegung, Druck, vielfach als Destruktion. Die grundlegende Erfahrung aber sei ein weitreichender Handel, der Umgang mit vielen Sprachen, mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion. Eine Überheblichkeit anderen gegenüber sei eher selten so starren Ausgrenzungen wie im Westen gefolgt, wo das antike Konzept "Wir und die Barbaren" immer wieder neu auflebt. Viele "Subsysteme" dieser heterogenen Sozialgefüge müssen von jeher Möglichkeiten zur Kooperation und zur Konfliktregelung suchen. Die sprichwörtliche Toleranz in dieser Region gerate vor allem in Bedrängnis, sobald ein Austausch, sobald Selbstkritik keinen sozialen Rahmen mehr vorfindet. Solche latenten Fragen neu zu durchdenken, könne durchaus ein Licht auf die inzwischen radikal veränderte Lage werfen, aber auch darauf, wie stark die westliche Konstruktion eines "Orients" weiterwirkt.

"Es ist offensichtlich", schreibt Amin Maalouf, "dass die weltweite Zirkulation von Bildern und Ideen, die immer schwindelerregendere Ausmaße annimmt und offenbar von niemandem mehr kontrolliert werden kann, unsere Kenntnisse, Verhaltensweisen und Ansichten fundamental und in - zivilisationsgeschichtlich betrachtet - sehr kurzer Zeit verändern wird. Ebenso grundlegend wird sie wahrscheinlich unsere Selbstwahrnehmung sowie die Wahrnehmung unserer Zugehörigkeiten und unserer Identität verändern." Als Autor hat er, trotz aller Konzentration auf Geschichte, diese Veränderungskräfte im Sinn und die extrem komplizierten Situationen, die seinem ursprünglichen kulturellen Umfeld zugeschrieben werden. Dazu gehören auch weniger geläufige Ebenen von "Kompliziertheit". Meine Studie über "Das Alphabet als Code" diskutierend, wo jüdische, arabische, griechische Traditionen, Buchstaben nach ihrem Stellenwert im Alphabet in Zahlen auszudrücken mit einem Computerdenken in Beziehung gesetzt werden, bestätigt er, dass es mindestens bis zur Generation seines Großvaters auch außerhalb esoterischer Zirkel völlig üblich gewesen ist, Wörter und Zahlen in Beziehung zu setzen - aus Freude an zusätzlichen Bedeutungen, an Assoziationen und an auf den ersten Blick nicht erkennbaren Hinweisen. Zeichen wurden als Zeichen genommen, als Elemente für einen vielschichtigen Umgang mit Wahrnehmung und Bedeutung.

Wissend, dass sich Amin Maalouf immer wieder für Monate in sein kleines Haus auf dieser stillen Insel zurückzieht, um in abgeschirmter Weise zu schreiben, habe ich ihn im darauf folgenden Sommer, im Juli 2001, erneut besucht, diesmal in der Absicht, für dieses Projekt druckreife Dialoge zu erzeugen. Das war sechs Wochen vor den Attacken auf New York und das Pentagon, mit all den daran anschließenden medialen Offensiven und Gefahren weiterer Eskalation. Am zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegenden Text haben wir nichts mehr geändert; Amin Maalouf hat ihn akzeptiert, wie er ist, als eine Zusammenfassung mehrstündiger, auf Englisch geführter Gespräche, in denen dieses und jenes noch nicht für möglich gehalten wurde.

 

Amin Maalouf, 1949 im Libanon geboren, lebt seit 1976 in Frankreich, wo er als Journalist und Schriftsteller arbeitet. Maalouf war Direktor der großen Wochenzeitschrift An Nabar International und des Magazins Jeune Afrique. Er ist politischer Berater für Fragen der arabischen Welt und der Beziehungen zwischen dem Okzident und dem Nahen Osten.
Maaloufs erstes Werk, Die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber (1983), gilt inzwischen als Standardwerk. Danach folgten mehrere historische Romane, u. a. Leo Africanus, Samarkand, Der Mann aus Mesopotamien, Die Wiederkehr des Skarabäus, Die Häfen der Levante, Die Reisen des Herrn Baldassare. 1993 erhielt Maalouf für den Roman Die Felsen des Tanios den Prix Goncourt. Sein Essayband Mörderische Identitäten ist 2000 bei Suhrkamp erschienen.

 

Amin Maalouf: Les identités meurtriéres. Paris 1998. (dt.: Mörderische Identitäten. Frankfurt / M. 2000)

 

Amin Maalouf: Les croisades vues par les Arabes. Paris 1983. (dt.: Der Heilige Krieg der Barbaren. Die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber. München 1997)

 

 

In Ihrem Essay "Mörderische Identitäten" argumentieren Sie in komplexer Weise für "zusammengesetzte Identitäten", für ein Bewusstsein, wie stark deren Elemente in Beziehung stehen und aufeinander einwirken. Den Begriff "Identität" desavouieren Sie als "falschen Freund", denn es gehe durchwegs um vielfältige Zugehörigkeiten. Überall auf der Welt würden aber noch "tribale" Auffassungen von Identität dominieren, was sich unter aufgeheizten Umständen bis zu mörderischer Eskalation steigern könne. Aus dem Libanon kommend, "wo man sich ständig die Frage nach seinen Zugehörigkeiten stellen muss", wie Sie sagen, sind Sie von einem arabischen und gleichzeitig christlichen Familienhintergrund geprägt, leben aber seit langem in Frankreich, inzwischen in Distanz zu jedem religiösen System, wie Sie betonen - was auch meiner Position entspricht. Motivieren solche Erfahrungen in einer permanenten Krisenregion nicht viel stärker, als es sonst der Fall ist, zu einem Wunschdenken, nach dem eine wirkliche Deeskalation nur über eine stärkere Akzeptanz multipler, auf diese und jene Weise zusammengesetzter Identitäten erreicht werden kann?

Sicher beschäftigen mich solche Fragen auch wegen meiner Herkunft. Schon in meiner Kindheit war ich mit ihnen konfrontiert. Gleichzeitig hat sich aber das starke Empfinden herausgebildet, dass vermischte, viele Faktoren einschließende Identitäten keinesfalls bloß Menschen wie mich betreffen, die in exemplarisch "multikulturelle" Situationen hineingeboren sind. Es betrifft letztlich jeden von uns. Wer hat schon eine einfache, klar abgegrenzte Identität? Wird das behauptet, wird zugleich vieles ausgegrenzt oder verdrängt. Das sollte einem bewusst sein, einschließlich der Verluste, die es bewirkt. Möglichst viel von solchen Einflüssen zu aktivieren, wäre der ergiebigere Weg. Der leichtere ist es sicher nicht. In der heutigen Welt zählt es nicht gerade zu den einfacheren Lebenssituationen, als Muttersprache Arabisch, die Sprache des Islam, zu haben und zugleich eine christliche Familienumgebung. Sich daraus ergebende Formen des Pendelns zwischen verschiedenen Zonen gibt es aber überall, als Migration, als Emigration, als Umzug innerhalb eines Landes, als Wechsel zwischen sozialen Gruppen. Von Zeit zu Zeit - und ich meine das nicht nur metaphorisch - muss sich jeder von einem Gebiet in ein anderes bewegen, von einem Universum in ein neues. Da sich solche Grundsituationen ausweiten und beschleunigen, kommt es zwangsläufig zur Addition von Identitätselementen. Weiter auf einem Hauptaspekt zu beharren und den Rest zu ignorieren, wird sich vielfach nicht durchhalten lassen.

Aber trotz allem eingelernten, auf verschiedene Rollen zugeschnittenen Verhaltens als Männer, Frauen, Autoren, Väter, Lehrer, Reisende, Fremde, als Mitglieder verschiedener wechselnder Gruppen, sind selbst privilegierte, auf Individualität pochende, "flexible" Menschen von "Wir und die anderen"-Gefühlen abhängig. Überall wird Vielfalt gepredigt, tatsächliche Vielfalt erzeugt aber Erklärungsbedarf. In Marketing- und Spezialistenwelten kann sie nur sehr bedingt stattfinden. Einen Beruf, eine Sache, eine bestimmte Art von Kompetenz zu repräsentieren, wird viel eher akzeptiert. Ich sehe da Parallelen zur Abwehr von multikulturellen Identitäten, auch wenn es sich auf "ethnischen" Ebenen oft viel brutaler auswirkt.

Die Komplexheit der Person mit kulturellen Mustern in Beziehung zu setzen, ist sicher richtig. Nicht nur ethnische oder soziale Faktoren sind Anlass für Konflikte. Oft genügt Bewegung - von einem Bezirk in einen anderen, von einer Altersgruppe in eine andere. An vieles davon haben wir uns längst gewöhnt, anderes ist noch nicht so "normal". Deswegen ist Vermittlung, auch bezüglich der Elemente einer Persönlichkeit, so wichtig geworden; analog zur Psychoanalyse. Aus welchen Gründen werden die kulturelle Prägung einer Person, ihr Aussehen, jedes Zeichen von Herkunft um so viel wichtiger genommen als andere Aspekte? Die Tendenz, sich auf ein Merkmal zu konzentrieren, ist sicher sehr stark; es ist aber bloß mieses Benehmen, wenn religiöse oder ethnische Zugehörigkeiten als das Dominante gesehen werden. Zugleich ist klar, dass es schwer fällt, die eigentlichen Persönlichkeitselemente wahrzunehmen. Wir schleppen unsere Prägungen mit, die jedem Beruf bestimmte Attribute zuweisen, jede Nation irgendwie charakterisieren, die Geschichte, Kriege, Animositäten zum Teil der Traditionen machen. Langsam aber sollte klar werden, dass wir gerade dabei sind, die Phase, in der Nationen die Weltbilder - und die Bilder von Fremden - geprägt haben, zu verlassen. Sie ist genauso an Simplifizierungen gebunden wie die angesprochene Typisierung bestimmter Berufe. Es ist einfacher, das angeblich Typische wahrzunehmen, wie ein Markenzeichen. Vieles oder etwas nur "halb" zu sein, erleichtert Diskriminierungen. Wie die jeweils anderen Teile geschätzt werden, hängt vom kulturellen Kontext ab. Halb deutsch und halb französisch zu sein, kann inzwischen entspannter betrachtet werden als dies bei exponierteren Zusammentreffen der Fall wäre. Es ist noch nicht lange her, da war auch so etwas ein Problem.

Offensichtlich ist aber doch, dass jede Emphasis für multikulturelle, multiethnische, multinationale Szenarios starkem Gegendruck ausgesetzt ist, trotz aller Liberalitätsbekenntnisse. Nur in sehr begrenzten, auch nicht gerade verlässlichen Zirkeln gilt Derartiges als Selbstverständlichkeit. In so genannten realsozialistischen Ländern ist "Internationales" ebenfalls eine Fiktion geblieben, ohne nachhaltige Realitätseffekte. Auf den ökonomischen Ebenen von Macht hat es sich am deutlichsten verankert. Große Konzerne und internationale Organisationen brauchen bis zu einem gewissen Grad multinationales Personal. Mit islamischem Hintergrund jedoch eröffnen sich in Europa und Amerika keine Chancen auf eine Karriere. Wo sehen Sie also die angesprochenen kulturübergreifenden Vermittlerfunktionen in der Praxis?

Intellektuelle neigen wahrscheinlich dazu, komplexe und widersprüchliche Persönlichkeitsmerkmale besonders hervorzuheben; was aber nicht heißt, dass andere nicht auch so denken. Sicher meinen viele das Gleiche, ohne es auszudrücken. Es ist immer auch eine Frage des Horizonts, von einer globaleren Sicht. Was nehmen wir im Alltag, über das Fernsehen, über direkte Kommunikation schon von Auffassungen in China oder Afrika wahr? Alles ist kanalisiert; es erfordert spezielle Anstrengungen, um über solche Grenzen hinauszugelangen. Vermittlung ist am stärksten, wenn sie beiläufig funktioniert und so das tägliche Leben beeinflusst. Über Musik sind wir schnell mit europäischen, afrikanischen, afroamerikanischen Kontexten verbunden. Dabei merkbare Qualitäten machen Gleichheit deutlich; die Musik entwickelter Gesellschaften ist generell sicher nicht besser als jene in angeblich "unterentwickelten". Es geht eben darum, dieses Erbe und das Potenzial in seiner Gesamtheit zu beachten, weltweit. Es kommt nicht aus einer Quelle; es ist sehr, sehr unterschiedlich, aber nie völlig isoliert vom Rest. Kulturell funktioniert manches bereits. In Europa wird mehr und mehr übernational entschieden, vieles davon beeinflusst das Leben sehr unmittelbar. In anderen Weltgegenden geht das langsamer vor sich. Aber: Wo wird es in fünfzig Jahren noch Staaten mit festen Grenzen und unabhängigen Regierungen geben?

Die Business-Welt ist zum Muster für Politik geworden, wenn auch oft noch eher fiktiv. Für privilegierte Gruppen ergeben sich daraus nie allzu viele Probleme. Ein Manager kann zwar aus Italien oder dem Libanon stammen, nicht jedoch der Bürgermeister von Berlin. Vordergründige "Internationalisierungen" sind aber nicht der Punkt, es geht viel eher um die Verteidigung und Ausweitung öffentlicher Räume, um politische Gestaltungs- und Beteiligungsmöglichkeiten.

Das sehe ich ziemlich pragmatisch. Ein Bürgermeister sollte den Ort, für den er verantwortlich ist, gut kennen und Erfahrungen mit ihm haben, bis in viele Verästelungen des Alltagslebens. Es ist nicht notwendig, dass er oder sie dort geboren ist. Dass die Manager-Welt mehr und mehr die Regeln bestimmt, ist genauso klar.

Ein anderer Punkt in Ihren Texten ist die wiederkehrende Argumentation über Ähnlichkeit und Differenz. "Nie zuvor hatten Menschen so viele Dinge miteinander gemein", ist eines dieser optimistischen Statements. Zugleich sind Singularitäten, individuelle Lebensentwürfe ein allseits propagiertes Programm. Das bestärkt Tendenzen, Ähnlichkeiten zu negieren. Sich abzuheben ist das vorherrschende Spiel. Ähnlichkeiten von Einstellungen und Verhaltensweisen wahrzunehmen, etwas was mich auch in der Fremde besonders interessiert, passt da nicht wirklich dazu. Dabei würden die Nuancen solcher Ähnlichkeiten eher Perspektiven eröffnen als jedes Hochspielen angeblich unüberwindbarer Unterschiede. Paradoxerweise kann einem Ähnliches aber auch furchtbar auf die Nerven gehen.

Das sind Parallelbewegungen. Basis ist eine grundlegende Ähnlichkeit der Menschen - oder sollte es sein. Es ist doch evident, wie viel sie gemeinsam haben, und zwar mehr und mehr. Zugleich bleibt wichtig, dass jede Gesellschaft, jede Kultur produziert, was von ihr produziert werden kann: um damit - als eine Vision - unsere Welt insgesamt täglich reicher und reicher zu machen. Universalität lässt sich von Differenziertheit nicht abspalten. Zu viel Uniformität bestärkt einen oft sogar gewaltsam ausgelebten Drang nach Unterschieden. Derartiges war ein Hauptgrund für mich, diesen schmalen Band über "Identitäten" zu schreiben. Die Balance zwischen Universellem und Unterschiedlichem kann sehr leicht irritiert werden. Zu starke Kräfte in Richtung Universalität erzeugen Reaktionen in Richtung Unterscheidbarkeit; zu starke Betonung von Unterschieden provoziert Abgrenzungen, Trennungen, expandierende Konflikte.

Alternativen zur destruktiven Dynamik der Massenmedien zeichnen sich nirgends ab. Standards für eine gegenüber "Fremden" und ethnischen Unterschieden offene Haltung finden in den üblichen Aufschaukelungsmechanismen, in denen positive Beispiele kaum interessieren, wenig Rückhalt. Wirklich stabile "liberale" Zonen konnten nicht installiert werden, trotz der entsetzlichen Terrorerfahrungen des 20. Jahrhunderts in Europa und - als Überlegenheitsfantasie - seitens Japans und vieler anderer. Möglicherweise sind New York, Chicago, Mexiko oder Brasilien diesbezüglich interessantere Studienobjekte als viele europäische Zonen. Wenn sich etwas entspannt, dann durch mentale Veränderungen. Sehen Sie dafür irgendwo Ansatzpunkte oder bloß Gegenbewegungen?

Kein Land hat das bisher gelöst. Es gibt auch keine Modelle. Jede Gesellschaft hat diese Probleme. Zu Brasilien zum Beispiel habe ich Berichte im Kopf, die genau aufzeigen, wie gering die Zahl der Bischöfe afrikanischen Ursprungs ist. Und praktisch keiner mit solcher Herkunft hatte je die Chance, Senator oder Präsident zu werden.

Gut, es bleibt die Beteiligung an Prozessen, sofern wir überhaupt noch optimistisch sind. Ein zugehöriger Punkt ist die Tendenz, Europäisches als Gegenteil von etwas Nichteuropäischem zu definieren. Passe dich an oder verschwinde, ist die Botschaft; lerne oder bleibe blöd. An solchen Attitüden hat sich, auch wenn sie in modernem Gewand daherkommen, nicht allzu viel geändert. Wie ließen sie sich in nachhaltiger Weise abbauen? Den anderen, gleichsam als Unmündigen, nicht zu kritisieren, ist ja ebenfalls ein patriarchalisches oder matriarchalisches Muster.

Die Idee von Europa, mit ihren imaginären Trennungslinien, die einen geistigen Raum abgrenzen, an dem wir entweder Anteil haben oder eben draußen in der Wildnis bleiben, diskutiere ich in meinem Buch über Identitäten. Evident ist, dass Europa in einer Phase der Geschichte, sagen wir vor rund fünfhundert Jahren, das Zentrum weltweiter gesellschaftlicher Evolution wurde. Das lässt sich nicht auf die Industrialisierung oder die Philosophie eingrenzen. Einiges ist vom Besten, einiges vom Schrecklichsten; aber all das lässt sich nicht umkehren. Für außerhalb stehende Zivilisationen hat das bedeutet, und bedeutet es noch immer, sich der Frage zu stellen, wo sie stehen, was vom Westen übernommen wird und wie die Vergangenheit fortgesetzt werden könnte, ohne ständig auf Europa zu starren. Alle diese Fragen sind nicht beantwortet, am wenigsten in der arabischen Welt selbst.

In Ihren Texten diskutieren Sie Unterlegenheitsgefühle, die aus solchen unbalancierten Situationen resultieren, und auch die Ansprüche jener, die glauben, eigene Wege würden die Abwehr ausländischen Einflusses voraussetzen. Solche Romantik-Varianten und zugehörige Spiegeleffekte bringen mich zu eingefahrenen westlichen Betrachtungspositionen. Fremde werden dabei primär als Bestätigung von Vorurteilen wahrgenommen. Edward Said hat gezeigt, dass "der Orient" bloß eine in Europa konstruierte Vorstellung ist. Macht es mit solchen Erkenntnissen überhaupt noch Sinn, Differenzen positiv zu sehen, wie es sympathisierende westliche "Orientalisten" versucht haben? Wenn ein "romantischer" Zugang unzulässig ist, was wäre dessen Gegenteil - ein zynischer? Kurz gesagt: Was hilft einem heute, den Mittleren Osten in seinem Potenzial und nicht bloß als Problemzone zu sehen?

Mit solcher Emphasis kann ich nur ambivalent umgehen. Wenn wir die Dinge streng rational betrachten, wird rasch klar, dass fast alle materiellen und geistigen Parameter, die das Geschehen bestimmen, westlichen Ursprungs sind. Das lässt sich nicht einfach leugnen. Wir aber müssten uns dann fragen, inwieweit wir wirklich alles von dort beziehen. Was gibt es sonst noch, das unser Menschsein bestimmt, das uns in gewisser Weise anders macht, aufgrund der Geschichte, der Art zu leben, der Gefühlswelten? Und wie könnte uns das darin bestärken, in offenen Perspektiven zu denken - über die Welt, über uns selbst? Die Antwort ist selbstverständlich: So etwas kann nicht einfach innerhalb eines Rahmens stattfinden, der von einer Beteiligung an europäischen Errungenschaften oder dem Ausschluss von ihnen bestimmt ist. Da gibt es sehr viele andere Aspekte, die wir nicht einfach hervorheben oder verdrängen können. Und wir müssen auch begreifen, dass viele der Einflüsse von anderswo für uns bedeutungsvoll sind. Damit müsste begonnen werden. So gesehen ist eine Art "Romantik" beim Blick nach dem Osten oder nach dem Westen weiterhin wichtig, gleichsam als Ebene, um Nuancen und Gefühle ins Blickfeld zu bekommen.

Im Westen scheint es so, als ob radikale Alternativen nicht mehr zur Diskussion stünden; auch die Antiglobalisierungsbewegung verhält sich ziemlich zivilisiert, gleichsam systemkonform. Es ergibt sich der Eindruck, als ob das Potenzial für aggressive Ausbrüche unter Kontrolle wäre und in gefährlicher Form nur irgendwo jenseits, außerhalb des normalen Spektrums, überlebt habe, als naiv-fundamentale Kritik am Lauf der Dinge. Aber auch von arabischer Seite wird immer wieder der Zusammenhang fundamental islamistischer Ideen mit früher im Westen propagierter fundamental antikapitalistischer Kritik, vor allem im Rahmen der Dritte-Welt-Bewegung, betont. Beim Vergleich der Slogans stößt man auf viele Ähnlichkeiten, nicht nur wegen Analogien zwischen kommunistischen und quasireligiösen Konzepten. Wenn Menschenrechts- und Demokratiefragen im eigenen Land nicht regelmäßig gestellt werden, bleibt Fremdes umso mehr "unverständlich". Auch der Export von Opposition und Revolution ist eine ureigene westliche Erfahrung. Sehen Sie solche Zusammenhänge oder hat die aktuelle, islamisch geprägte Radikalisierung ganz andere Wurzeln?

Was wie eine religiöse Opposition aussieht, ist nicht bloß eine religiöse Bewegung. Nehmen wir den Iran: Die Entwicklungen dort haben sicher, wenn man sich die Tatsachen ansieht, viele Aspekte einer Dritte-Welt-Bewegung. Zu solchen Vorstellungen bestehen viel stärkere Verbindungen als zur Geschichte des Islam, denn mit ihr gibt es wenig Gemeinsamkeiten, selbst wenn von offizieller Seite die metaphysische Komponente so betont wird.

Bekanntlich ist das Wort "Fundamentalismus" im Zuge protestantischer Erneuerungsbestrebungen in den USA geprägt worden; erst nach und nach wurde es zur Bezeichnung für unrealistische und dogmatische Haltungen. Damit wird auch die Debatte um Grundlegendes diskriminiert, von der Nord-Süd-Situation in einem unbalancierten globalen System bis zu Menschenrechten und einer weltweiten Stabilisierung demokatischer Verhältnisse. Ein von religiös oder reaktionär geprägten Sphären emanzipiertes Angehen fundamentaler Fragen würde dazu gehören, in einem globalen öffentlichen Diskussionsraum - oder ist das erneut "unrealistisch"?

In weiten Teilen der Welt fühlen sich Menschen äußerst unbehaglich, wenn es um den Westen geht. Nicht immer aus guten Gründen. Viele können sich mit Entwicklungen nicht abfinden, die aus meiner Sicht ein Fortschritt für die Menschheit sind. Wir sollten nicht vergessen, dass eine Ursache der Aufstände in Afghanistan die Schulpflicht für Mädchen gewesen ist. Generell gesehen folgt die Kritik den Linien postkolonialer Debatten, mit dem armen Süden als zentralem Problemfeld. Auf Veränderungen wird in jeder Gesellschaft reagiert. So etwas zu negieren oder zu unterdrücken, ist längerfristig immer eher kontraproduktiv. Falsch ist es, Derartiges immer mit Religion, als dem Hauptbezug, in Zusammenhang zu bringen. Damit deklarieren sich die Beobachter mehr als ihr Beobachtungsobjekt. Um es klar zu sagen: Ich bin völlig überzeugt davon, dass Religionen keine Antworten dazu liefern können, was wir in nächster Zukunft zu bewältigen haben. Ich glaube auch nicht, dass die islamische Welt derzeit auf irgendeiner Ebene die Kapazität hat, sei es auf politischer, ökonomischer, intellektueller oder moralischer Ebene, Alternativen zur herrschenden westlichen Zivilisation zu offerieren. Kritikern zuzuhören ist immer wichtig, gerade wenn sie sagen, ihr glaubt, die ganze Welt zu vertreten, alle Probleme lösen zu können, immer auf hohem moralischem Niveau zu agieren - aber in der Realität stimmt das einfach nicht. Ich sehe aber nirgendwo Kräfte, die stimmige Alternativen präsentieren könnten.

Um eine weitere Position einzubringen, möchte ich auf den Palästinenser Hischam Scharabi eingehen, der lange in den USA gelehrt hat. Für ihn hängt ein tatsächlicher Fortschritt in der Region von einigen wenigen Punkten ab. Zuerst müssten die Rahmen für moderne säkulare Gesellschaften geschaffen werden und dann ginge es um drei Hauptthemen: die Macht, die Frauen, die Armut. Können Sie einer solchen "Vereinfachung" zustimmen? Sie deckt sich mit jeder aufmerksamen Reiseerfahrung. Wer aus dem Westen kommt, dem fallen zuerst die Armut und die Situation der Frauen auf und im weiteren, vorsichtig gesagt, die sehr labile Lage in Bezug auf Menschenrechte und Demokratie.

Die Möglichkeiten der Frauen sind überall ein zentrales Kriterium. In den Ländern, von denen wir sprechen, ist als Reaktion auf den Westen das, was Frauen tun können, was Frauen sein dürfen, mehr und mehr eingeschränkt worden. Das führt zu einer Infantilisierung der Gesellschaft. Generalisieren bringt aber wenig. Afghanistan ist nicht der Iran, Iran ist nicht Ägypten, Ägypten ist nicht der Libanon. Es bestehen da große Unterschiede. Insgesamt gesehen ist aber klar, dass in diesem Teil der Welt die den Frauen zugewiesene Rolle völlig unakzeptabel ist. Das ist ein essenzieller Teil des Problems, eine Hauptursache der Rückständigkeit, eine zentrale Frage von Freiheit und Demokratie. Es ist einfach undenkbar, Frauen weiterhin zu separieren. Und es bedeutet auch, dass es aus solchen Richtungen keine Konzepte geben kann, die anderswo übernommen oder adaptiert werden könnten.

Bei längeren Aufenthalten, manchmal auch spontan, bekommen die eher versteckten Qualitäten eine Chance, wahrgenommen zu werden, der vergleichsweise noch hohe Grad an Solidarität, die Gastfreundschaft, das vielfach durchaus faire Scheidungsrecht, der andere Lebensrhythmus. Im Westen ist jeder ohne Sozialversicherung und Selbstvorsorge verloren.

Solche Sichtweisen können für eine kritische Betrachtung moderner Errungenschaften durchaus nützlich sein. Nehmen wir das Thema soziale Sicherheit. Ohne die im Westen entstandenen Versicherungssysteme müsste es dort Solidaritätssysteme wie anderswo auch geben. Aber wer würde schon die erreichte soziale Sicherheit mit einem Schritt zurück in solche traditionellen Strukturen tauschen? Niemand. Im Vergleich von beidem wird man erkennen, dass Europa es technisch besser gelöst hat, aber dass die Behandlung der Alten und Armen, der Mangel an Solidarität kein Weg ist, den wir alle gehen sollten. Beispiele für Qualitäten sollten uns immer zum Nachdenken bringen.

Sind es Konsequenzen der patriarchalischen - oder was immer für unflexiblen - Strukturen, dass die herrschenden Gruppen, die vermögenden Schichten, die Intellektuellen nicht eine offensivere Rolle bei notwendigen Veränderungen, der Schaffung von Institutionen, einer besseren Ausbildung, einem Austausch übernehmen? Mit Blick auf das beidseitig geringe Interesse an medialer Vermittlung, an Übersetzungen lässt sich fast von bewusster Abschottung benachbarter Kulturen sprechen, die nur gelegentlich symbolisch durchbrochen wird.

Damit berühren wir sehr grundlegende Fragen kultureller Produktion. Auch der Westen ist nicht wirklich offen für die in solchen Teilen der Welt anzutreffenden Qualitäten. Andererseits ist klar, dass kulturelles Schaffen von den existierenden Freiheitsgraden abhängt. Spezialisten für die Geschichte des Mittleren Ostens finden sich in Europa viel eher als in der Region selbst. Für seriöse Forschung bedarf es politischer Freiheit, Kontakten, Institutionen. Damit wären wir bei den Konturen des Problems intellektueller Arbeit. Es mangelt an Begeisterung und Prioritäten. Nur wenige sind davon überzeugt, kulturelle Angelegenheiten wären gesellschaftlich wichtig.

Aber Om Kalsoum wird von Millionen verehrt, wie sonst kaum eine Sängerin; ihr Begräbnis war ein gesamtarabisches Drama. Und die weltweite Verbreitung von Musik kann niemand verhindern.

Die Leute sehen das aber nicht als "Kultur"; es ist Teil ihres täglichen Lebens, des Fernsehprogramms. Frankreich transferiert immer wieder Beispiele, sozusagen als Phänomen, etwa neue Musik aus Algerien. Manches davon wird dann Teil der globalen Szene, immer aber infolge solcher Vermittlung. In der Literatur ist es nur wenigen aus dem arabischen Raum gelungen, sich international durchzusetzen oder wenigstens bekannt zu machen. Es wäre aber auch falsch zu behaupten, es gebe viele Talente wie einen noch unentdeckten García Márquez. Die Zahl der Lesekundigen ist vergleichsweise sehr klein. Literatur wird noch immer nicht als große Kunst angesehen. Auf Buchmessen in der arabischen Welt verkaufen sich religiöse Bücher am besten, dann einige politische, etwas Dichtung und erst zuletzt einige Romane. Kaum wer ist fähig, Romane zu lesen. Und keiner kann davon leben, sie zu schreiben.

Sind Ihre - auf Französisch geschriebenen - Bücher auch auf Arabisch publiziert?

Ja, einige sind erhältlich. Aber es beweist mir immer, wie gering das Interesse an Romanen ist. Das hängt natürlich auch mit strukturellen Mängeln zusammen. Unsere Beziehungen zur Vergangenheit, zur Zukunft, zum Westen, zu uns selbst werden einfach zu wenig diskutiert. Wer sind wir? Wohin gehen wir? Gehen wir überhaupt irgendwohin? Nur sehr wenige stellen solche Fragen. Beobachter von außen sind da oft viel offensiver. Sie suchen nach unseren Absichten, nach unseren Zielen. In unserer Realität aber gibt es keine Absichten, keine Richtungen.

Was uns in Übersetzungen an Literatur - vielfach von Frauen - aus arabischen Ländern zugänglich wird, macht die täglichen Konflikte, den Druck auf Frauen, die Unmöglichkeit offener Auseinandersetzung im Ausland bewusster. Assia Djebar aus Algerien ist so eine Stimme, Nawal el Saadawi aus Ägypten, Hannan Ashrawi oder Sahar Khalifa aus Palästina. Die meisten von ihnen werden angefeindet oder leben längst irgendwo anders, so wie V. S. Naipaul oder Salman Rushdie, als Vertreter einer globalen, kulturelle Verhaltensweisen durcheinander bringenden Literatur. Das Kosmopolitische daran hat auch erzwungene Aspekte; von wirklich offener Urbanität, im Sinn früherer Traditionen, ist nicht allzu viel zu spüren.

Dass es sie neuerlich gibt, erhoffen viele. Wir gehen aber sicher nicht einer Phase entgegen, in der sie willkommen ist. Es hat eine solche vielfältige Kultur gegeben, dann kam der Niedergang, es gab Erneuerungsphasen, insgesamt aber sind sie alle stecken geblieben.

Die kolonialen Einflüsse dabei sind unbestritten, im Ägypten des 19. Jahrhunderts, bei der Aufteilung des Mittleren Ostens, beim Sturz Mossadeghs im Iran, bei Nassers Panarabischer Bewegung, in den diversen Ölkriegen. Sie betonen in Ihren Texten aber auch die hausgemachten strukturellen Schwächen sehr stark.

Man muss einfach beide Seiten sehen, möglichst alle wichtigen Ursachen der andauernden Konfusion. Es ist nie "der Feind" allein schuld. Die Löcher im eigenen Bewusstsein, ein kleinkariertes Denken gehören dazu. Die Menschen fragen einfach zu wenig, was rundherum vor sich geht. Die wenigen, die es tun oder getan haben, sind immer als unerwünscht angesehen worden; irgendwann schweigen sie oder gehen weg. Es ist einfach nie zu einem breiteren Bewusstseinswandel gekommen, für den Fragen nach dem Stellenwert der Religion, nach den notwendigen politischen Institutionen, nach den internationalen Beziehungen selbstverständlich werden. Alle Debatten darüber haben nicht zu entsprechenden strukturellen Transformationen geführt. Wenn die Menschen keine Chancen sehen ...

Über Jahrhunderte ist die Kirche im Westen ein viel stärkerer Machtfaktor gewesen als religiöse Institutionen in islamischen Gesellschaften. Praktisch alle anderen Religionen und Abspaltungen sollten verschwinden.

Es gab aber schließlich genügend Leute, die solchen Mächten entgegengetreten sind. Das hat andere Formen von Balance ermöglicht. Kritik und Selbstkritik konnte zu einer westlichen Qualität werden.

Wirklich "kritische" Argumentationen sind inzwischen aber bloß noch Sache von Minoritäten. In Netzwerken außerhalb der üblichen Strukturen, in NGOs, also Non-governmental organizations, wird noch eine Chance gesehen. Pierre Bourdieu hat ein solches Denken forciert. Die symbolischen Aspekte dabei und tatsächlich bewirkte Veränderungen betreffen jedoch sehr verschiedene Ebenen. Organisationsarbeit absorbiert Energien. Glauben Sie an die Veränderungskraft solcher informeller Strukturen, im Sinn globaler Civil- Society-Strategien?

Offen gesagt, sehe ich nicht gerade viele auf diese Weise bewirkte positive Veränderungen, die tatsächlich strukturprägend bleiben. Regierungen gehen ihre üblichen Wege weiter. Aus einer globalen Sicht zeigt sich doch, dass solche Gruppen sehr isoliert agieren und meistens schlicht Probleme aus anderen Teilen der Welt adoptieren. Längerfristig gesehen sind die Beziehungen zwischen Institutionen, etwa zwischen Universitäten, wichtiger. Daraus können wirkliche Arbeitssituationen resultieren. Tausende Studierende und Professoren sollten reisen, sich treffen, diskutieren, konkrete Fragen bearbeiten. Das wäre dann das Ferment für anderes. Wenn bloß irgendwelche Gruppen aufeinander treffen, ohne gemeinsame Arbeitsprogramme, so produziert das lediglich eine eigene, abgehobene Realität.

Ein solcher arbeitsbezogener Austausch wird aber, entgegen aller Ankündigungen, eher schwieriger. Keiner fühlt sich für das Bezahlen zuständig. Um standardisierte Executives zu erzeugen, bedarf es keiner Sonderinitiativen. Andererseits bilden in Harvard gerade asiatische Studierende eine der herausragendsten Gruppen. Computerexperten aus Indien sind überall gefragt. Aber der Austausch spielt immer weniger eine Rolle. Würde es dynamisierend wirken, wenn Europa Tausenden von Studenten und Studentinnen nichteuropäischer Herkunft Stipendien offeriert, damit in traditionelle, oft militärisch, polizeilich oder bloß anarchisch geprägte Gesellschaften Bewegung gerät? Glauben wir überhaupt noch an solche Effekte von Erziehung und Ausbildung?

Sicher könnte Europa vielen eine adäquate Ausbildung vermitteln. Aber wer seinen Abschluss geschafft hat, wird auch versuchen dort zu bleiben. Und zwar so lange, wie er zu Hause keine besseren Chancen vorfindet. Daher geht mein Denken in eine andere Richtung. Im Libanon etwa gibt es die renommierte Amerikanische Universität. Sie ist ein gutes Beispiel für das, was mir vorschwebt, eben in solchen Ländern selbst Weltklasseinstitutionen zu haben, die Generationen prägen, akademische Traditionen und Qualitäten formen und Zentren des Aufwachens werden könnten. Sicher sind da viele dagegen, sehen darin schlicht ausländischen Einfluss, neokoloniale amerikanische, englische, französische Infiltrationen. Ohne eine darüber hinausgehende Evaluierung der Institutionen in Richtung internationaler Vernetzung wird es nicht gehen. Neue Institutionen müssten gegründet werden. Die Standards in allen diesen Ländern sind zu niedrig. Die meisten ihrer Studierenden lernen praktisch nichts. Sie finden keine Arbeit. Sie finden keine Strukturen vor, die ihnen ein motiviertes ziviles Leben ermöglichen würden.

Sie aber haben solche Strukturen gefunden - im Exil. Wie sind Sie darauf vorbereitet gewesen? Wie hat sich Ihr persönliches Denken geformt? Welche Literatur war dabei wichtig?

In dieser Hinsicht bin ich sehr eklektisch. Meine Familienumgebung war stark von Personen geprägt, die intensiv mit arabischer Literatur zu tun hatten. Beispiele aus der Weltliteratur sind besprochen worden. Arabische Dichtung habe ich dauernd gehört. Mein Vater lehrte vergleichende Literaturwissenschaft und sprach ständig über Autoren, die er mochte. Rabindranath Tagore schätzte er besonders. Ich habe begonnen Romane in arabischen Übersetzungen zu lesen, Dickens, Twain, Swift, Alexandre Dumas, etwa ab dem Alter von vierzehn das meiste in Französisch. Camus war einer der Favoriten, auch Balzac. Manchmal lese ich auch englische und amerikanische Autoren im Original. Wie ich schon sagte, ich bin da sehr sprunghaft, interessiert an vielen Feldern und Regionen. Short Storys sind mir besonders wichtig. Ich glaube, dass ich aus jedem Teil der Welt einige Bücher kenne; ohne dass mir dabei das Urteilen - das ist Literatur, das nicht - besonders wichtig wäre. Denn an Literatur ist vor allem großartig, dass so viele verschiedene Menschen, mit so unterschiedlichem Hintergrund, mit so verschiedenen Erfahrungen teilhaben. Meine eigene Literatur ist gleichermaßen Produkt meines Lebens, meiner Umwelt und all dessen, was ich gelesen habe. Evolution ist für mich ein Schlüsselthema. Davon leitet sich mein Interesse für Geschichte und Vorhersage ab. Fiction-Autoren wie H. G. Wells, Orwell, Asimov sind mir sehr wichtig. Gerade weil ich viel an historischen Themen arbeite, ist mir die Verbindung zwischen solchen Ebenen ständig bewusst. Es ist die Idee des Vergleichs, der Relationen zwischen heute, gestern, morgen.

Vor dem Hintergrund Wiener Erfahrungen ist für solche geschichtlichen Zugangsweisen Joseph Roth wichtig, oder Stefan Zweig. Inzwischen steht Fragmentarisches im Vordergrund. Selbst der letzte Weltkrieg ist nicht gerade oft zum Thema literarischer Arbeit geworden, so wie historische Themen generell.

Da gibt es sicher von Region zu Region große Unterschiede. Die Eindrücke summieren sich anders; man lebt - und schreibt - sehr spezifisch, reagierend auf sein Umfeld. Österreich kenne ich nicht sehr gut, aber ich kann mir vorstellen, dass das Zerbrechen der Monarchie und das Trauma des Zweiten Weltkriegs ganz unmittelbar nachwirken. Werden literarische Ergebnisse aus der Distanz gesehen, aus Ägypten etwa, oder aus Kolumbien, verlieren lokale Umstände ihr Gewicht. Die universellen Aspekte von Literatur bauen auf solchen differierenden Erfahrungen auf. "Joseph Fouché" von Stefan Zweig zum Beispiel hat mich in meiner Jugend stark beeinflusst. Wahrscheinlich ist es nicht sein bestes Buch, aber in einem Aspekt war es für mich wichtig: Es hat demonstriert, wie neue Blickrichtungen vorgeprägte Bilder verschieben können. Fouché war als Polizeiminister der Revolution und dann Napoleons eine weithin verhasste Figur. Ohne ihn zu verteidigen, ist diesem Eindruck das Stereotype genommen worden. Mein erstes Buch, über die Kreuzzüge aus arabischer Sicht, ist also in gewisser Weise von Stefan Zweig beeinflusst.

Auf mich und vielleicht auch meine Generation bezogen, ist die erste Stimme, die einem Länder jenseits des Mittelmeeres nahe gebracht hat, Camus gewesen. Die Kontroverse Camus - Sartre ist mir beim Wiederlesen neuerlich bewusst geworden. Verkürzt gesagt hat Camus darauf bestanden, dass er Franzose und Algerier sei; während Sartre forderte, alle sollten so empfinden wie Algerier. Auf der Seite aufständischer Massen zu sein, war verpflichtend. Aus jetziger Sicht erscheint die balanciertere, um Ausgleich bemühte Position von Camus die tragfähigere. Aber weder die eine noch die andere Sicht hat sich durchgesetzt.

Die Statements von Camus sind damals als sehr provokant empfunden worden; er wurde nicht verstanden und viele Leute verstehen ihn in diesem Punkt bis heute nicht. Er hat Gerechtigkeit für die Algerier gefordert, gegen die von Frankreich ausgeübte Gewalt. Zugleich hat er eingestanden, dass er an seine Mutter denke, die als Französin in Algerien lebte. Mit diesem Gang ins Persönliche hat er eine tiefe Wahrheit berührt. Wie soll ich mich entscheiden? Muss ich mich entscheiden? Indem er solche Gefühle und Unschärfen offen angesprochen hat, ist Individuelles in Widerspruch zu generalisierenden Konzepten von Gerechtigkeit geraten. Wenn wir auf das Geschehen in Algerien schauen, hat er sehr profund argumentiert. Der Glaube daran war falsch, die Dinge gemeinsam mit engstirnigen Nationalisten ändern zu können, ohne sich um das Leid von Millionen zu kümmern, nur weil damit dem angeblichen Gang der Geschichte gedient werde. An einer Revolution ist etwas falsch, wenn es einer Mutter wie der von Camus dabei schlecht ergeht. Eine wirkliche Revolution, die wir unterstützen könnten, sollte in der Lage sein, solche Gefühle einzubeziehen. An Camus' Anspruch hat vor allem eines, das alle Konflikte betrifft, meine volle Sympathie: Es gibt immer viele Positionen um die Realität zu betrachten. Unsere Pflicht als Beobachter, als Zeitgenossen ist es, nicht zu simplifizieren, nichts zu sehr zu stilisieren. Dinge nicht klar sehen zu wollen, hat seinen Preis, ob in Bezug auf Rassismus, Nationalismus oder Revolutionen ...

Ein anderer Zugang zu Camus: seine Beschreibung des Lichts in Nordafrika. Er selbst kannte nur die Küstengebiete. Saint-Exupéry wurde als Flieger zur Stimme der "Grandeur" der Wüste. Die Emphase für diese Landschaften, für diese Räume, diese Dimensionen teile ich, seit ausgedehnten Reisen in die Sahara und andere Wüsten. Die Erinnerungen daran begleiten mich, sicher nicht nur weil eine religiöse Erziehung einem eingeprägt hat, dass die großen Religionen aus der Wüste stammen und sie ein mythischer Ort für dieses und jenes ist. Ist dieser Komplex in irgendeiner Weise für Sie wichtig, wo Sie doch in unmittelbarer Nachbarschaft zu solchen Zonen aufgewachsen sind?

Wir haben im Libanon im fruchtbaren Berggebiet nahe am Meer gelebt und es gab, wie schon von jeher, die tendenzielle Einstellung, das Hinterland mit seinen Wüsten als unliebsame Nachbarschaft zu betrachten. Von ältesten Zeiten an sind Leute aus den Wüsten und Steppen Syriens, Arabiens, Zentralasiens bei uns eingefallen, in aller Regel als Zerstörer von Zivilisation. Schon die phönizischen Gründer von Karthago fürchteten sich vor den Wüstenbewohnern im Landesinneren. Solche Denkweisen waren immer präsent. Es ist auch weiterhin so, dass Distanz gehalten wird.

Das klingt, als ob all die Wüstenmythen - über Abraham, Moses, Johannes den Täufer, über Jesus, die frühen Eremiten - im Westen viel nachhaltiger aufgenommen worden sind als von jenen, die im Umfeld der originalen Szenerie leben.

Die Wüste hat immer schon als mystischer Ort gegolten. Nehmen wir den Islam: Er ist aus der Wüste gekommen, aber auch aus der Stadt. Als Religion ist er von urbanen Menschen, nicht von Nomaden gebildet worden. Eine ihrer Grundideen war, aus der Wüste wegzukommen, ins grüne Land und in die Städte jenseits von ihr. Der Mystizismus der Wüste existiert nur, wenn einer nicht in der Wüste ist.

Aber nicht nur die alten Texte transportieren solche Vorstellungen. Alle Phasen eines westlichen Orientalismus mit seiner Sehnsucht nach nichteuropäischen Kulturerfahrungen waren davon geprägt, von Napoleons "Expedition" nach Ägypten bis hin zu Lawrence von Arabien, der mit Burton, Doughty oder Thesiger zu den modernen englischen "Wüstenheiligen" zählt. Paul Bowles wurde zur vermittelnden Figur. Die Pilgerreise Nikolai Gogols nach Palästina wäre ein früheres Beispiel, oder die Orientreise Mark Twains. Als einer der ersten Maler hat Delacroix Nordafrika bereist; dann sind Matisse, Kandinsky, Klee, Macke, Le Corbusier gekommen, auf der Suche nach dem Licht der Wüste, sich durch unter solchen Bedingungen gefundenen formalen Lösungen inspirierend. Einflüsse auf die europäische Moderne sind evident. Um diese Zeit ist auch das islamische Ornament für den Westen neu entdeckt worden, als Tradition zu abstrahieren. Allgemein geläufig ist es aber keineswegs, wie viele Transfers sich so ergeben haben. Auch das Gegenbild, die Erforschung Europas von dieser Seite her, hat kaum interessiert.

Europäisches ist in Wellen eingebrochen; Beidseitiges hatte kaum Chancen. Man müsste sich jede einzelne solcher dokumentierten Erfahrungen genau ansehen. Traditionelle Formen von Abstraktion zum Beispiel mit jenen der Moderne zu vergleichen, kann Missverständnisse provozieren. Von der Erforschung ähnlicher, aus unterschiedlichen Denkweisen entstandener Resultate halte ich aber viel. Zu den Phasen der Opposition gegen bildliche Darstellungen des Menschen, bei Juden, Christen, Muslimen, gibt es ja keine einhellige Auffassung. De facto hat aber die Fotografie viel mehr verändert, da in der Kunst nach dem Verlust des Monopols, Realität zu repräsentieren, neue Konzepte gesucht werden mussten.

Ähnlichkeiten können auch eine Falle sein. Auf den ersten Blick könnten viele traditionelle Städte rund um das Mittelmeer als arabische eingeschätzt werden. So wie erneut in der Moderne schaut Gebautes vielfach wie einer einheitlichen Kultur Zugehöriges aus, ob in Venedig, Santorin oder Tanger. Oberflächen und Strukturen können sehr ähnlich sein, aber die dahinter stehenden Konzepte scheinen dagegen zu sprechen. Eine sonderbare Situation.

Die Dschellaba und der Schleier, die jetzt von manchen aggressiv als Symbol von Muslimen gesehen werden, repräsentieren bloß, wie Römer und frühe Christen ausgesehen haben.

Im Vergleich zu merkwürdig gekleideten Touristen ergibt das ein eindrucksvolles Bild von Fortschritt. Das lässt sich in jedem Basar feststellen. Auch das Basar-System selbst, das Souk-System, als komplizierte Verschiebefläche kommerzieller Netzwerke, ist in versimplifizierten Kopien neu aufgenommen worden, von Supermärkten, Shopping Malls, Fußgängerzonen. Zum Ausgleich braucht man selbst in Kaufhäusern Basarathmosphäre, damit standardisierte Erlebniswelten nicht zu steril wirken.

Basare sind nicht als übertragbares Modell entstanden. Sie funktionieren nur im Rahmen komplexer sozialer Strukturen. Wo es sie noch gibt, sind sie Konsequenz der Lebensumstände. Aber zu begreifen, dass etwas an einem Ort funktioniert und anderswo nicht, ist ein wichtiger Schritt zum Verständnis. Der klassische Basar wird vermutlich verschwinden. Wer das aufhalten will, müsste auch viele andere Dinge aufhalten, etwa eine verbesserte Situation der Frauen. Auch die so genannte arabische Stadt existiert unmittelbar aus dem Lebenszusammenhang. Und es ist evident, dass die Menschen die traditionellen Stadtzentren verlassen, wenn sie es können. Millionen wollen sich von ihrer Geschichte verabschieden.

Es gibt Schätzungen, wonach in den nächsten Jahrzehnten 400 Millionen Chinesen in Städte ziehen werden. Die Rahmen für überschaubare Entwicklungen zerbrechen. Außerhalb des Westens bilden Jugendliche die Mehrheit der Bevölkerung. Ob das zu einer Flucht vor Geschichte führt, mit der Chance, Vergeltungskreisläufe zu unterbrechen, ist damit aber nicht gesagt.

Niemand kann vergessen. Jeder ist ein Produkt des Geschehens um ihn herum. Wir vergessen zwar, aber wir erinnern uns wieder. Es gibt die verschiedensten Arten, mit Geschichte umzugehen, aber völlig beiseite schieben lässt sie sich nicht.

Rachegefühle zu sublimieren, damit die Verbrechen der anderen - und die der eigenen Leute - nur noch als Geschichte präsent bleiben, scheint für den Mittleren Osten der einzige Weg. Aber selbst in angeblich befriedeten Zonen Europas gelingt es schon wieder relativ einfach, das Klima zu vergiften und vergessen geglaubte Feindschaften zu aktivieren.

Dass Gruppen in ihren Geschichtsbildern differieren, gibt es überall. Die Verdeutlichung von Positionen kann manches klarer machen. Es dauert einfach oft Generationen, bis manipulierende Momente überwunden werden. Auch das sind Fragen von Standards und Chancen.

Teddy Kollek, der langjährige frühere Bürgermeister von Jerusalem, mit familiären Wurzeln in Wien, meinte unlängst, es werde zweihundert Jahre, also sieben "biblische" Generationen brauchen, bis Araber und Juden tatsächlich wieder friedlich zusammenleben können.

Um solche Prozesse zu beschleunigen, könnte viel getan werden. Ein profundes Verständnis der Vergangenheit ist wichtig. Es geht nicht um ein Vergessen, sondern um die Entscheidung, ob die Beurteilung von diesem und jenem akzeptiert werden kann oder nicht. Auf den Libanon bezogen, mit seinen fünftausend, sechstausend Jahren an Geschichte, gibt es Leute, die nur die Geschichte der arabisch-islamischen Welt für relevant halten und den Rest als Okkupation sehen. Andere wiederum betonen, dass sie die Nachkommen der Phönizier sind. Wie ich über die bald tausend Jahre zurückliegende Zeit der Kreuzfahrer gesprochen habe, konnten viele nicht akzeptieren. Ereignisse, die erst fünfzig oder sechzig Jahre her sind, haben gleichsam im Untergrund ihre Folgewirkungen. Es ist die Qualität der Diskussion, die zählt.

Von Kindheit an hat es mir gefallen, kein "richtiger" Österreicher zu sein, weil ich, mit ungarischer Mutter, in Budapest geboren bin. Zunehmendes Wissen über die ungarische Zeitgeschichte hat diese Sympathien für etwas anderes verschwinden lassen. Das monströse Ausmaß an Grausamkeiten ist in beiden Gesellschaften zu ähnlich gewesen. Sogar fiktive Doppelidentitäten verdoppeln nur die Belastungsgefühle.

Die dunklen Phasen der dreißiger und vierziger Jahre sind eine absolute Schande für jeden. Sich aber deswegen selbst zu hassen, ist keine Antwort. Eine bessere wäre, Prozesse in Richtung Offenheit zu bestärken, wo die Chancen für Antisemitismus, für Xenophobie sinken - die also mit anderen Ebenen von Geschichte und Visionen in Verbindung stehen.

Wirklich urbane, offene Gesellschaften, wie sie sich zumindest ihrem Ruf nach in Damaskus, in Beirut, in Alexandria - um in der Region zu bleiben - immer wieder manifestiert haben, können doch als Brennpunkte von Entwicklung gesehen werden, wegen ihrer Kapazität zum Austausch, zur Vermischung, zu Synergien. Alle lernen aber zuerst die nationale Geschichte. Eine eigene Geschichte der Urbanität fehlt noch, obwohl ihre aktuellen Variationen die treibende Kraft derzeitigen Geschehens sind.

Jede beschränkte Perspektive wirkt auf das Bewusstsein zurück. Auch die europäische Geschichte stellt sich klarer dar, je mehr Einflüsse miteinbezogen werden. Geschichte - und der Gebrauch der Wörter, um sie zu beschreiben - sollte aber mit noch viel weiteren Perspektiven gesehen werden. Als ich einmal als Journalist Indira Gandhi zur Situation im Mittleren Osten befragt habe, war das Erste, was sie gesagt hat: Warum sprechen Sie vom Mittleren Osten, hier sagen wir westliches Asien. Alle derartigen Bezeichnungen repräsentieren einen europäischen Blick, Distanzen werden von einem bestimmten Gebiet aus definiert. Für Japaner ist der Osten Kalifornien. Von islamischen Gesellschaften zu sprechen, ist auf die gleiche Weise falsch, wie der Begriff christliche Gesellschaft, selbst wenn damit nur die traditionelle kulturelle Orientierung gemeint ist. Jedenfalls: Es genügt nicht, andere Zivilisationen in die Betrachtungen einzubeziehen wie abgesonderte Einheiten. Wir sollten vielmehr dazu fähig sein, die Geschichten zu erzählen, wie es so vielen Menschen gelungen ist, mit unterschiedlichstem kulturellem Hintergrund, verschiedenen Sprachen, abweichenden Verhaltensweisen all die existierenden Sphären der Produktion mitzuprägen. Und das würde bedeuten: der Welt zuhören. Ich brauche diesen Vorsatz. Nur mit Lokalnachrichten zu leben, ist lähmend. In allem, was ich geschrieben habe, sind viele Elemente präsent, viele Räume und Zeiten. Es geht immer um Personen, die sich zwischen etwas bewegen. Arabisch, Französisch, Englisch sind die Sprachen meines Alltags. Es befriedigt mich nie, länger in irgendeinem Land zu sein. Der Spruch von Terenz ist mir wichtig: "Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd." Er war ursprünglich ein Sklave aus Karthago, ein Phönizier. Nach Rom gebracht, hat er auf Lateinisch zu schreiben begonnen. Und dass zu Caracallas Zeit jeder, der damals im Römischen Reich gelebt hat, römischer Bürger geworden ist, macht evident, wie etwas schon normal Gewesenes wieder utopisch wurde.

 

Es besteht kein Zweifel, dass als Reaktion auf die fortschreitende Globalisierung ein verstärktes Bedürfnis nach Identität entsteht; und aufgrund der existentiellen Ängste, die derart unvermittelte Veränderungen mit sich bringen, auch ein verstärktes Bedürfnis nach Spiritualität.

In der Tat wirken die Glaubensgemeinschaften wie "globale Stämme" - "Stämme" wegen ihrer identitären Geschlossenheit und "global", weil sie sich mühelos über Grenzen hinwegsetzen.

Die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft wäre also in gewisser Hinsicht die globalste, universalste Form von Partikularismus, oder vielleicht sollte man sagen: der unmittelbarste, "natürlichste" und am stärksten verwurzelte Universalismus.

Nie zuvor hatten Menschen so viele Dinge miteinander gemein, so viele Kenntnisse, so viele Bezugspunkte, so viele Bilder, Worte, Werkzeuge, die sie miteinander teilen, doch veranlasst das die einen wie die anderen nur umso mehr, ihre Unterschiede zu betonen.

Amin Maalouf: Mörderische Identitäten. Frankfurt / M. 2000. S. 85

 

Das Symbol Europa ist selbst in simulierter, entstellter und verleugneter Form untrennbar mit jeder Initiative der Selbstlegitimation verbunden.
Hélé Béji: Das verinnerlichte Abendland. In: Islam, Demokratie, Moderne. Hg. E. Heller / H. Mosbachi. München 1998.

 

Als die arabischen Länder 1973 das Ölembargo als Waffe gegen die Industrieländer einsetzten, wurde der westlichen Welt das Ausmaß ihrer Abhängigkeit vom Öl aus dem Nahen Osten deutlich vor Augen geführt. Im Lauf des Jahrzehnts gab es Anzeichen für ein mögliches militärisches Eingreifen der Vereinigten Staaten, falls die Öllieferungen noch einmal gestoppt würden ...
Albert Hourani: Die Geschichte der arabischen Völker London 1991; Frankfurt / M. 2001. S. 505

 

Wie die marxistischen muslimischen Revolutionäre im Iran, die dachten, nur ein muslimisch verhüllter Marxismus könne dem iranischen Mann auf der Straße schmackhaft gemacht werden, so versuchten viele radikale arabische Intellektuelle in den siebziger Jahren, revolutionäre Theorien, einschließlich der kommunistischen, in einem islamischen Zusammenhang neu zu definieren. Ein Beispiel für diese Gruppe ist Hussain Mruwwe, der schiitische kommunistische Intellektuelle, der zum Islam "zurückkehrte", ohne jedoch seine marxistische Überzeugung aufzugeben. Er wurde 1983 in Beirut ermordet - wahrscheinlich von Mitgliedern der radikalen schiitischen Gruppe der "Partei Gottes" (Hisbollah).
Hischam Scharabi: Moderne und islamische Erneuerung. In: Islam, Demokratie, Moderne. Hg. E. Heller / H. Mosbachi. München 1998. S. 52

 

In rein formalem Sinn hat der Begriff Fundamentalismus seinen Ursprung im amerikanischen Protestantismus, wiewohl er von muslimischen und westlichen Autoren gleichermaßen auf den Islam übertragen wird.
Bassam Tibi: Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie. Frankfurt / M. 1993. S. 31

 

... zentrale Problematik: die der politischen Umsetzung. Diese kreist um drei zentrale Themen:
-
die Macht
- die Frau
-
die Armut

Hischam Scharabi: Die Macht, die Frau und die Armut. In: Islam, Demokratie, Moderne. Hg. E. Heller / H. Mosbachi. München 1998.

 

Die Hauptaufgabe des arabischen Denkens müsste heute die Zerstörung der geltenden Strukturen sein, mit dem Ziel, für immer Schluss zu machen oder wenigstens aus ihnen herauszukommen.
Adonis (Ali Ahmed Said): Kultur und Demokratie. Zwickau 2001. S. 85


Das Wirtschaftswachstum und die schnelle Urbanisierung führten zu einer stärkeren und deutlicheren Polarisierung der Gesellschaft. Vom Wachstum profitierte an erster Stelle die herrschende Oberschicht, Offiziere, höhere Beamte, Techniker, Geschäftsleute in der Bau- und Konsumgüterindustrie, im Bereich von Import und Export oder die Partner multinationaler Unternehmen.
Albert Hourani: Die Geschichte der arabischen Völker. (London 1991). Frankfurt / M. 2001. S. 526f

 

... wenn der, dessen Sprache ich erlerne, die meine nicht achtet, ist das Sprechen seiner Sprache nicht länger eine Geste der Aufgeschlossenheit, sondern wird zu einem Akt des Gehorsams und der Unterwerfung.
Amin Maalouf: Mörderische Identitäten. Frankfurt /M. 2000. S. 43


Kaum bin ich wieder eingerichtet, wieder eingetaucht, wieder verwurzelt, entsteht in mir nagend der Wunsch fortzugehen.
Assia Djebar: Oran - Algerische Nacht (Arles 1997), Zürich 2001. S. 42

 

(...) wurde Ägypten eines Teils seiner Substanz beraubt. Zum einen finanziell, aber auch an Menschen, und das waren nicht nur die Besitzenden. Griechen, Italiener, Franzosen, Malteser, Briten zu Tausenden, all die Minderheiten. (...)
Ganze Viertel von Alexandria schnürten ihre Bündel. Das Seidengespinst, das sich Schicht für Schicht in dieser Stadt abgelagert hatte, all die Farben, ein buntscheckiges, zerbrechliches Gewebe. Eine Wirklichkeit aus Fleisch und Stein, ein Schmelztiegel, der unsere ganze Sehnsucht nach Öffnung und Vermischung mit anderen aufnahm, in dem sich unsere Toleranz entwickelt hatte. Eine Menge kleiner Leute hielt plötzlich erschreckt inne, um dann ihre Koffer zu packen.
Viele Juden waren unter denen, die verjagt wurden. Sie lebten auf diesem Boden seit Anbeginn der Zeiten, waren ebenso Ägypter wie ich.
Selim Nassib: Stern des Orients. (Paris 1994), Zürich 1999. S. 189


Für andere Nationen und Kulturen ging es um nicht mehr als die Entdeckung, dass der Westen entwickelt war, während sie selbst nicht von der Stelle kamen. Für die Araber aber war mit der Frage: Warum ist der Westen weiter entwickelt? eine andere untrennbar verknüpft: Warum sind wir, die muslimischen Araber, unterentwickelt? In den anderen Fällen - in den meisten jedenfalls - blieb die Frage dramatisch, im arabischen Fall aber neigte sie von Anfang an zur Tragik. Denn während andere Nationen und Kulturen ihre Unterentwicklung mit fehlender Entwicklung gleichsetzten, sahen die Araber in ihr eine Zurückgebliebenheit, einen Niedergang. Aus demselben Grund imaginierten sie ihren Aufstieg als eine Renaissance, als eine tatsächliche Wiedergeburt.
George Tabaraschi: Die anthropologische Wunde in unserer Beziehung zum Westen. In: Islam, Demokratie, Moderne. Hg. E. Heller / H. Mosbachi. München 1998. S. 73

 

Nein, ich beschuldige unseren Kolonialherren nicht, jedenfalls nicht in Bausch und Bogen. Wir hätten an seiner Stelle genauso gehandelt, vielleicht auch grausamer, wer weiß. Aber es bleibt das Bedauern darüber, dass wir nie unsere eigene Geschichte haben schreiben können.
Mano Dayak: Die Tuareg-Tragödie. Bad Honnef 1996. S. 21

 

Schreckliche Probleme, wunderbare Landschaften, erleuchtet von der mächtigen Sonne, die ein für alle Mal bei ihnen aufgegangen ist, im Orient.
Salah Stétié: Reise ohne Zimmer mit Aussicht. In: Islam, Demokratie, Moderne. Hg. E. Heller / H. Mosbachi. München 1998. S. 225


In der immer mit sich identischen Wüste ist die Zukunft nichts als eine Metamorphose der Vergangenheit: Das, was wir morgen sehen werden, ist nur eine andere Form dessen, was wir gestern gesehen haben.
Adonis (Ali Ahmed Said): Dichtung und Wüste. Chemnitz 1996. S. 86

 

Die islamischen Länder sind weit mehr durch ein gemeinsames soziales Verhalten und eine ähnliche Einstellung zu wirtschaftlichen Fragen miteinander verbunden als durch ein gemeinsames politisches Schicksal.

Handel und Handelsgewohnheiten sowie Handelsrecht wurden schon seit den allerersten Jahrhunderten islamischer Ära nach allgemeinen kaufmännischen, d. h. liberal-kapitalistischen Grundsätzen geregelt.

Mohamed Scharabi: Der Bazar. Das traditionelle Stadtzentrum im Nahen Osten und seine Handelseinrichtungen. Tübingen 1985. S. 30 f.

 

Of the 81 historic urban centres and towns that have been designated World Heritage Site by UNESCO, 18 are located in Islamic North Africa and Southwest Asia:

  • Aleppo
  • Algier
  • Damaskus
  • Fes
  • Ghadames
  • Isfahan
  • Istanbul
  • Jerusalem
  • Kairo
  • Kairouan
  • Khiva
  • Marrakesch
  • Sana'a
  • Shibam
  • Sousse
  • Tunis
  • Tyros
  • Zabid
Eugen Wirth: Die orientalische Stadt im islamischen Vorderasien und Nordafrika. Mainz 2000. S. 92

 

Und ich glaube, dass es noch Zeit, viel Zeit, vielleicht mehrere Generationen braucht, bevor bewiesen sein wird, dass die Szenarien der Gewalt, des Archaismus, des Despotismus und der Unterdrückung, die sich uns in Algerien, Afghanistan, aber auch anderswo darbieten, mit dem Islam nicht inniger verbunden sind als die Scheiterhaufen der Inquisition oder das Gottesgnadentum der Monarchie mit dem Christentum.

Wem ist damit gedient, die Toleranz der Vergangenheit zu rühmen, wenn die Gegenwart anders aussieht, werden einige mir entgegenhalten. Und in gewissem Sinne würde ich ihnen beipflichten ...

Wogegen ich mich wehre und immer wehren werde, ist die Vorstellung, wonach es auf der einen Seite eine - die christliche - Religion gibt, von jeher dazu berufen, Modernität, Freiheit, Toleranz und Demokratie zu vermitteln, und auf der anderen Seite eine - die islamische - Religion, die von Anfang an dem Despotismus und Obskurantismus ergeben war. Das ist falsch, das ist gefährlich und nimmt einem Großteil der Menschheit jegliche Zukunftsperspektive.

Amin Maalouf: Mörderische Identitäten. Franfurt /M. 2000. S. 63, 52
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© Amin Maalouf, Christian Reder / Edition Transfer bei Springer Wien New York 2001/2003