Grenzüberschreitungen
"Warum Damaskus?", wurde ich bisweilen gefragt.
Warum reiste Goethe nach Italien? Warum August Macke nach
Tunis? Warum spielen die Materialien Fett und Filz eine so
bedeutende Rolle im Werk von Josef Beuys? Warum schicken amerikanische
Universitäten ihre Studenten samt einem Teil des Lehrkörpers
nach Paris oder nach Kiyoto?
Kunst, ja sogar Wissenschaft, hat viel zu tun mit der Perspektive,
aus der man ein Thema betrachtet, ein Problem analysiert,
nach Lösungen sucht. Und die Perspektive ist abhängig
vom eigenen Standort.
Kunst ist in besonderem Maße eine Funktion des gesellschaftlichen
und kulturellen Umfelds, weil die Auseinandersetzung mit eben
diesem Umfeld ein wesentliches Element des künstlerischen
Schaffensprozesses ist. Die Wirklichkeit und nicht zuletzt
die erlebte Wirklichkeit in ihrer Vieldimensionalität
ist Basis für die Kreation neuer Wirklichkeiten mit den
Mitteln der Kunst.
Es steht außer Frage, dass die Studentinnen und Studenten
an einer europäischen Kunstuniversität persönlich
und künstlerisch geprägt sind und geprägt werden
vom Lebensstil, von den intellektuellen, ästhetischen
und ökonomischen Strömungen, den Kommunikations-
und Aktionsformen, die die so genannte "westliche Zivilisation"
ausmachen. Sie erleben und benutzen die Globalisierung des
Kunstbetriebs, die ihnen den Zugang zu aktuellster zeitgenössischer
Kunst mithilfe elektronischer Medien oder durch Ausstellungen
und Exponate, welche von Kontinent zu Kontinent, von Kulturstadt
zu Kulturstadt, von Kunstmesse zu Kunstmesse weiter gereicht
werden, zunehmend erleichtert. Sie erleben aber auch, dass
diese Globalisierung des Kunstbetriebs weitgehend auf eben
diese "westliche Welt" beschränkt ist. Die
Mobilitätsnetzwerke der Europäischen Union werden
von immer mehr Studierenden zu Studienaufenthalten an anderen
europäischen Universitäten genutzt. Das alles ist
ohne Zweifel wichtig und positiv, zumal es genau dieser Kunstbetrieb
ist, in dem die Absolventen unserer Universitäten Fuß
fassen sollen und im Idealfall auch Erfolg haben werden.
Die Universität für angewandte Kunst Wien, die
zum Kreis der weltbesten Kunstuniversitäten zählt,
hat mit dem Damaskus-Projekt, dessen Ergebnisse in diesem
Band dokumentiert werden, erstmals den Versuch unternommen,
ihre Aktivitäten hinsichtlich Internationalität
und Mobilität auf den arabischen Raum auszuweiten. Ausschlaggebend
dafür war primär die Überlegung, dass die bewusste
und konzentrierte Auseinandersetzung in und mit einer doch
ganz anderen sozialen und kulturellen Wirklichkeit den Studierenden
völlig neue Perspektiven in ihrer künstlerischen
Arbeit eröffnet - zusätzliche Perspektiven, die
sich positiv auf ihre künstlerische Entwicklung auswirken.
Warum auch sollen Kontakte mit der arabischen Welt ein Monopol
von Industriellen und bestimmten Politikern sein? Gerade für
Künstler und Künstlerinnen waren und sind nationale
und geografische Grenzen - ebenso wie inhaltliche und formale
Grenzen - selten ein Hindernis, sondern immer etwas, was es
gilt zu überschreiten, hinter sich zu lassen.
Der Versuch der "Angewandten" war jedenfalls ein
voller Erfolg. Mit großartiger Unterstützung der
Österreichischen Botschaft in Damaskus, der hierfür
unser besonderer Dank gilt, haben die Studierenden und die
mitwirkenden Professoren und Professorinnen unseres Hauses
eine Fülle von Kontakten mit Kulturschaffenden, Universitätseinrichtungen,
Kunstinstitutionen, Behörden und interessierten Einzelpersonen
in Damaskus geknüpft, die ihnen eine Realisierung ihrer
Vorhaben wesentlich erleichtert haben. Spezieller Dank gebührt
Simonetta Ferfoglia für die begleitende künstlerische
Diskussion sowie insbesondere Christian Reder, an unserer
Universität für "Kunst- und Wissenstransfer"
zuständig, dessen Begeisterung für die Idee und
dessen emotionales, organisatorisches und materielles Engagement
die Realisierung dieses Projekts erst ermöglicht haben.
Die Wochen in Damaskus waren für die Studierenden geprägt
von einer ungeahnten Konzentration, Intensität und Produktivität
bei der Arbeit an ihren ganz unterschiedlichen Projekten.
Der Wechsel der Perspektive im Blick auf ihre künstlerischen
Entwicklungsprozesse hat ihnen wie erwartet persönlich
und künstlerisch neue Dimensionen eröffnet, was
sich auf die Qualität und die Ernsthaftigkeit ihrer Arbeit
in eindrucksvoller Weise positiv ausgewirkt hat.
Und schließlich hat dieses Projekt auch gezeigt, dass
interkulturelle Kontakte bereichern können, ohne die
eigene kulturelle Identität in Frage zu stellen. Es hat
Mut gemacht, dass eine Antithese zum Kampf der Kulturen nicht
bloß denkbar ist.
Gerald Bast
Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien
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