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Schleebrügge Editor
   

Erinnerungen an Grundlegendes
Zum kulturellen Umfeld in Russland 1920/1930/1940...

in: Schili-Byli. Russische Kinderbücher 1920 - 1940
MAK - Österreichisches Museum für angewandte Kunst
Hg.: Peter Noever
Ausstellungskatalog deutsch / englisch
Schleebrügge.Editor, Wien 2004

Weitere Beiträge von Ilya Kabakov und Natalia Stagl.

 

„Die Welt nicht nur darstellen, sondern umgestalten“
„Einem Bolschewiken ist nichts unmöglich“

Ein vorsichtig-skeptischer Denker wie Karl Popper (1902 -1994), der gegenüber jedem zu Totalitärem neigenden Utopismus höchst misstrauisch gewesen ist (1), hat bis zuletzt immer wieder davon gesprochen, dass gerade Grundschulen höchste Qualität und Zuwendung bieten müssten, weil frühe Weichenstellungen und Förderungen entscheidend seien. Wegen der erforderlichen Intensität sollten deren Lehrer und Lehrerinnen mindestens so viel verdienen wie jene an Gymnasien oder Universitäten; bei schwindendem Engagement wäre es vernünftig, ein Umsteigen in andere Berufe zu erleichtern. Auf solche dem Lauf der Dinge konträre Vorstellungen hat zum Beispiel auch Hans Magnus Enzensberger in seinem „Plädoyer für den Hauslehrer" (1982) gesetzt, als er eine weit gehende Auflösung von Schulgebäuden und flexibel einsetzbare Budgets für einen vagabundierenden freien Projektunterricht in sich da und dort, in Wohnungen, Parks, Museen, Cafés zusammenfindenden Kleingruppen propagierte. (2) Symptomatisch jedoch wurde dahinfließende Routine. Denn selbst in immer reicher gewordenen Ländern versanden wegen verfilzt-ausbalancierter Schulbürokratien (inklusive fest gefügter Schulbuchkartelle) ständig Initiativen, die Ausbildungsangebote und damit das offerierte Ausprägen von Lebensvorstellungen immer wieder von Grund auf neu zu überdenken und einschneidende Alternativen anzusteuern. Ansätze zu fächerübergreifender Projektarbeit, Personal Computer, Internet-Hoffnungen und eine ostentativ sparsame Schäbigkeit des öffentlichen Sektors scheinen als Restperspektiven zu genügen.

Demgegenüber sind gerade die legendären russischen Aufbruchszeiten trotz des damaligen Chaos, der Armut, diffuser Hoffnungen, ganz anderer Bedürfnisse, der schließlich erbarmungslos kanalisierten, aber auch von Selbstzensur umgepolten Ideenvielfalt höchst signifikant für Vorstellungen von radikaler Moderne geworden. Deren Relikte, und Bücher für Kinder sollten so ernst genommen werden wie andere wichtige Projekte, können bewusst machen, was kulturell unter schwierigsten Umständen in kurzer Zeit möglich wurde und welchen Transformationen dies schließlich unterlegen ist. Manches an der Ausgangssituation entspricht ärmlich-devastierten Zuständen, wie sie nach wie vor in weiten Teilen der Welt herrschen, ob in Odessa, Kalkutta, Kairo, Belgrad oder Brooklyn. Sich Damaliges zu vergegenwärtigen, ist auch nach Auflösung der offiziellen Ost-West-Polarisierung nicht zuletzt wegen der gegenseitig nachwirkenden jahrzehntelangen Propaganda des Kalten Krieges nur über Versuche partieller Rekonstruktionen möglich.

Wird dabei einem Russlandkenner wie Boris Groys und seinen detailreichen Kulturanalysen gefolgt, lässt sich die dortige Entwicklung erst plausibel interpretieren, wenn die in manchem so glorreichen Anfangszeiten nicht heroisiert, sondern „das künstlerische Projekt der Zeit vor Stalin und die Stalinzeit, nämlich der Aufbau eines neuen Lebens, und gleichzeitig das künstlerische Projekt der Gegenwart, das Projekt der Reflexion dieses Experiments“, in die Betrachtungen einbezogen werden. Landläufige Auffassungen von einem radikalen Bruch würden nur den „Mythos von der Unschuld der Avantgarde" bestärken, diese vom tatsächlichen historischen Prozess isolieren. „Von der Darstellung der Welt zu ihrer Umgestaltung fortzuschreiten", also der „Traum der Avantgarde, das gesamte gesellschaftliche Leben nach einem künstlerischen Gesamtplan zu organisieren", sei nämlich für die maßgeblichen, noch experimentell denkenden Kräfte um 1920, genauso aber für die stringent systematisierten Phasen danach das bestimmende Moment gewesen, wenn auch mit völlig anderen als den ursprünglich beabsichtigten Ergebnissen. (3)

Mit der MAK-Ausstellung „Schili-Byli" – „Es war einmal" –, die Bücher und Zeitschriften für Kinder präsentiert, die vor allem während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion entstanden, wird daher auch nicht bloß auf Märchen angespielt; es schwingt entschieden mit, dass Märchen wahr werden sollten – genauso aber, dass sie nicht unbedingt gut enden müssen.

In der 1920 von EI Lissitzky (1890-1941) konzipierten, mit sehr wenig Wörtern auskommenden „Suprematistischen Erzählung von zwei Quadraten. In 6 Konstruktionen" zum Beispiel – aufbewahrt in der MAK-Bibliothek und Kunstblättersammlung – fliegen ein schwarzes und ein rotes Quadrat aus dem Weltraum auf die Erde, um eine neue Ordnung zu errichten. Das Ringen um die beste Lösung endet nach zwanzig Seiten mit dem Verschwinden des schwarzen Quadrats; das rote bleibt übrig, als Basis für Künftiges. Die Bauanleitung zur Neukonstruktion besteht aus der schlichten Botschaft „weiter" – als Ausdruck der Utopie ununterbrochener Bewegung. Gut und Böse wird Kindern über eine feinsinnig aufgelöste geometrisch-abstrahierende Formensprache nahe gebracht, die jede Personifizierung ausspart, vieles offen lässt. Religiöse Dualismen bleiben latent, wenden sich aber offensiv ins Diesseits. Das berühmte „Schwarze Quadrat" von Malewitsch (1913/1915) ruht nicht mehr kontemplativ in sich selbst, sondern wird Teil einer Handlung. Dessen knappe sprachliche Formel dafür lautet: „Das Quadrat = die Empfindung, das weiße Feld = das ,Nichts' außerhalb dieser Empfindung." (4) EI Lissitzkys Anknüpfen daran ist so offensichtlich wie Bezüge zu seinem früheren Bemühen um ein Neubeleben säkularer jüdischer Kultur, das er ebenfalls über von ihm gestaltete Kinderbücher forcieren wollte. Mit gänzlich neuen Zeichen, mit einem völlig neuen „Alphabet" Voraussetzungen für das Neubauen der Welt zu schaffen, wurde in den Intensivphasen dieser Prozesse zur bestimmenden, fixen Idee, mit dem Alten und Neuen Testament, dem Kommunistischen Manifest – als Zwischenstufen – und dem „Suprematismus" von Malewitsch als Finalstadium, als eine Zukunft jenseits des menschlichen Denkvermögens, in der erst universelle Energien für eine umfassende Lebensgestaltung als solche freigesetzt werden könnten (Supremus = der Höchste; „Suprematismus - Die gegenstandslose Welt", 1922). (5)

„Der Avantgarde selbst war die sakrale Bedeutung ihrer Praxis voll bewusst", konstatiert Boris Groys dazu, ist doch das „Schwarze Quadrat" erstmals in einem kollektiv verfassten futuristischen Mysterienspiel („Sieg über die Sonne", 1913) aufgetaucht, das „die künstliche Sonne einer neuen Kultur, einer neuen technischen Welt" thematisiert. (6) Entscheidend für die vorübergehende Radikalisierung EI Lissitzkys, von seiner Ausbildung in Darmstadt her Architekt, war die kurze Zusammenarbeit mit Malewitsch an der „für alle" gedachten Kunstschule von Witebsk, die Marc Chagall, der wenig von deren Bestrebungen hielt, sie aber zuließ, als für die Region zuständiger Kulturkommissar in seiner Heimatstadt gegründet hatte. Die entwickelten Bildvorstellungen auf Räume und mehrdimensionale Realitäten auszudehnen und bereits Kindern ein Denken in den avanciertesten Kategorien der Zeit nahe zu bringen, war Ausdruck dieses vieles ausschließenden Maximalismus; nur artikulierten sich gleichzeitig bereits massive, alle „Unabhängigen", genauso aber sich exponierende „linke Künstler" zunehmend ausgrenzende Gegenströmungen, von denen eine proletarische Orientierung auf konkrete Gestaltungsaufgaben in der Produktion und allgemein verständliche Bilder für nützlicher gehalten wurden.

Vladimir Nabokov (1899-1977), aufgewachsen in einem als „reichhaltig und intensiv" empfundenen gebildeten Umfeld in St. Petersburg, hat von Anfang an nicht an die propagierten Möglichkeiten geglaubt; die gesamte Familie emigrierte 1919. „Mit ganz wenigen Ausnahmen", schreibt er in „Erinnerung, sprich", „hatten alle liberal gesinnten schöpferischen Kräfte – Lyriker, Romanciers, Kritiker, Historiker, Philosophen und so weiter – Lenins und Stalins Russland verlassen. Die geblieben waren, kümmerten entweder dahin oder ruinierten ihr Talent, indem sie sich den politischen Forderungen des Staates fügten. Was den Zaren niemals gelungen war, nämlich die Geister völlig an die Kandare zu legen und dem Willen der Regierung gefügig zu machen, erreichten die Bolschewisten in kürzester Frist, nachdem die Hauptmasse der Intellektuellen ins Ausland geflohen oder liquidiert war." (7) Auch unter jenen, die vorerst Interesse zeigten, wurde ein Weggehen bald zur aussichtsreicheren Option. Wassily Kandinsky (1866-1944) wählte sie, nach Mitarbeit im Kommissariat für Volksaufklärung, Leitung der „Freien Staatlichen Kunstateliers" und des „Museums für Malkultur" endgültig 1921, Naum Gabo (1890-1977) und Marc Chagall (1887-1985) im Jahr darauf. Malewitsch (1879-1935), der ab 1928 wieder gegenständlich malte, Tatlin (1885-1953), Rodtschenko (1891-1956) sind geblieben ... Majakowski schied 1930 freiwillig aus dem Leben; sein Begräbnis wurde zum radikal durchgestalteten Manifest. EI Lissitzky kooperierte in Moskau mit Tatlin und den von Malewitsch später als „Ingenieure" für „Maschinenkunst" diskreditierten Konstruktivisten, ging 1921 wieder nach Deutschland, verstand sich im Weiteren als Vertreter fortschrittlicher russischer Kunst im Westen, arbeitete und lehrte aber immer wieder in Moskau und starb dort 1941. Tatlins berühmter Entwurf für ein „Denkmal der Dritten Internationale" (1919/20), als Modell schließlich in Stockholm (1968), London (1971) und Moskau (1976) rekonstruiert, war etwa vom 1929 zum Staatsfeind erklärten Leo Trotzki vor allem im Vergleich zum Eiffelturm wegen mangelnder Funktionalität, somit auch mangelnder Schönheit kritisiert worden. (8) Die „Erste russische Kunstausstellung" in Berlin von 1922 hatte noch den Anschein erweckt, die eingeschlagene Richtung würde für umfassende Gestaltungsansprüche tatsächlich auf lange Sicht bestimmend bleiben.

Trotz des sofort einsetzenden Drucks von außen, einschließlich massiver Militärinterventionen im Bürgerkrieg, und der rigiden, gegen „Klassenfeinde" und „Abweichler" gerichteten Politik im Inneren ergaben sich auf vielen Ebenen kontinuierliche internationale Kooperationen. Beeindruckt hat, vor allem auch angesichts der weltweiten Wirtschaftsdepression dieser Zeit, wie aktiv versucht wurde, Expertenwissen zu mobilisieren, klassenlose Modernität durchzusetzen, Frauen gleiche Chancen zu eröffnen. Von Architektur, Städtebau, Design, Typografie, Grafik, Film, Theater bis zu Volksbildung und gigantischen Industrievorhaben entstanden ausstrahlende, also auch anziehende Energiefelder. Le Corbusier baute den Centrosojus-Palast in Moskau (1930) und nahm neben Walter Gropius, Hans Poelzig, den Brüdern Perret oder Naum Gabo am Wettbewerb für den Sowjetpalast (1931- 1933) teil, für den aus aller Welt 272 Projekte eingereicht worden waren. Alvar Aalto projektierte 1935 die finnische Botschaft in Moskau. Der 1930 aus politischen Gründen entlassene Bauhausdirektor Hannes Meyer oder Margarete Schütte-Lihotzky und Ernst May übersiedelten für einige Jahre ganz in die Sowjetunion.

Die Modernität der Wirtschaft in den USA, mit der wissenschaftlichen Betriebsführung des Taylorismus und Henry Ford als Leitbildern, wurde zum nachahmenswerten Modell. Stalin postulierte 1924: „Die Kombination aus dem russischen revolutionären Schwung und dem amerikanischen Leistungswillen ist der Kern des Leninismus." (9) „Amerikanische Fabrikanten, Industriearchitekten und Beratungsfirmen für Maschinenbau und industrielle Architektur" waren maßgeblich am intensiven, später beidseitig gern verschwiegenen Technologietransfer beteiligt; „1927 verkündete die Ford Company stolz, dass 85 Prozent der Lastwagen und Traktoren in Russland von Ford gebaut worden seien". (10) Bis zum Ende der Sowjetunion blieb es erklärtes Ziel, die USA wirtschaftlich zu überholen, „aus Russland eine Art besseres Amerika" zu machen; die Losung „Einem Bolschewiken ist nichts unmöglich" stand am Anfang dieser lntentionen. (11) Was die sowjetische Verfassung dekretierte: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung", oder: „Die gesellschaftlich nützliche Arbeit und ihre Ergebnisse bestimmen die Stellung des Menschen in der Gesellschaft" (Artikel 14, Fassung von 1977), passt inzwischen längst in jede Corporate-Identity-Satzung, nur wird dann eben unter „Gesellschaft" das jeweilige Unternehmen verstanden.

Wie bittere Ironie wirkt es, dass das in der präsentierten Auswahl enthaltene, 1926 produzierte Kinderbuch von Ossip Mandelstam (1891-1938) kryptisch „Die Küche" heißt und von reichhaltigem Essen in einer arbeitsamen Welt handelt; die Bilder zeigen die Vorgänge beim Kochen eines üppigen Frühstücks, eine markante Wanduhr soll zu Eile und Pünktlichkeit anspornen. Seit seinem ersten Gedichtband „Kamen" („Stein", 1913) mit Nikolai Gumiljow (exekutiert 1921) und Anna Achmatowa (1889-1966) prägende Kraft des „Akmeismus" (den er einmal lakonisch als „Sehnsucht nach einer Weltliteratur", genauso aber nach einer „Weltkultur" definierte), war er schon im Zuge der Machtkämpfe nach Lenins Tod am 21. Jänner 1924 immer mehr ins Abseits geraten, wurde verbannt, wegen konterrevolutionärer Tätigkeit neuerlich verurteilt und starb kurz vor Kriegsbeginn auf dem Weg in die berüchtigten sibirischen Lager an der Kolyma. Stalins als schlichter Brief im „Bolschewiken" veröffentlichte Forderung von 1930, „nichts zu drucken, was von der offiziellen Linie abwich", genügte bereits, so Mandelstams Witwe Nadeschda, um den Aktivisten in den Apparaten, einschließlich dort tätiger Künstler, die Richtung zu weisen. Ab 1932 durfte, wie in NS-Deutschland mit seinen Berufsverboten und Bücherverbrennungen, nur mehr im Rahmen einheitlicher Künstlerverbände agiert werden, ab 1934 wurde der Sozialistische Realismus – dem „Bild des neuen Menschen" verpflichtet – zur vorgeschriebenen Doktrin. (12)

Dass heute maßgebliche Künstler wie llya Kabakov und Erik Bulatow (beide 1933 geboren) lange im offiziellen Beruf Kinderbuchillustratoren waren und viele Dichter „nur" als Kinderbuchautoren veröffentlichen durften, könnte als Beleg für die Wertschätzung fundierter Erziehung gesehen werden, macht letztlich aber vor allem Überlebensmöglichkeiten evident – Kinderbücher als Refugium für absurden Humor, Humor als unbesiegbare Gegenkraft jedes Totalitarismus. (13) Die zu Breschnews Zeiten entstandenen Illustrationen von Ilya Kabakov in „Geologie in Bildern" (Moskau 1975, deutsche Ausgabe Berlin 1980; Text: Anatoli F. Tschlenow) zeigen die Welt von ihrer praktischen Seite; überall wird Erz, Kohle, Erdöl abgebaut; Bodenschätze mit modernsten Ortungsmethoden von Flugzeugen und Satelliten aus aufzuspüren, wird Kindern „von acht Jahren an" als Errungenschaft schlechthin nahe gebracht.

Zu dieser Art von Fortschrittsglauben notierte Walter Benjamin, als er um die Jahreswende 1926/27 für einige Wochen in Moskau war: „Entfernung der Opposition aus den leitenden Stellen" – „reaktionäre Wendung der Partei in kulturellen Dingen" – „Umstellung der revolutionären Arbeit in die technische". Er ging viel ins Theater und traf mit einer Reihe führender Exponenten des kulturellen Lebens zusammen. Ob er der Kommunistischen Partei beitreten sollte, wie so viele prägende Intellektuelle dieser Zeit, beschäftigte ihn als zögerndes Abwägen von Vor- und Nachteilen; dafür spräche „organisierter, garantierter Kontakt mit Menschen", dagegen „die völlige Preisgabe der privaten Unabhängigkeit". Fasziniert hat ihn, was andere gar nicht bemerkten. Er kaufte begeistert Beispiele russischen Spielzeugs, die Kinderbuchsammlung des Gosverlags hat er extra aufgesucht, eine Ausstellung von Zeichnungen Geisteskranker in seine Recherchen einbezogen – dies sichtlich auch deswegen, weil ihm ein schließlich nicht zustande gekommenes Dokumentarwerk zum Thema „Die Fantasie" vorgeschwebt ist. (14)

Zur weltweiten Popularisierung der Revolution hatte ein amerikanischer Journalist wesentlich beigetragen, John Reed, der zum Freund Lenins, Anführer der in Chicago gegründeten „Communist Labor Party" und Leitungsmitglied der Kommunistischen Internationale wurde („Zehn Tage, die die Welt erschütterten", 1919). Er starb 1920 in Moskau an Typhus. Spätere Berichterstatter, wie Egon Erwin Kisch, Mitbegründer des „Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller" (gestorben 1948 in Prag), oder Joseph Roth (er, so Walter Benjamin, ist „als [beinah] überzeugter Bolschewik nach Russland gekommen" und hat es „als Royalist" verlassen (15)), sahen die Dinge bereits differenzierter, in der Regel aber mit neugieriger Sympathie. Bertolt Brecht, der schon zuvor öfters in der Sowjetunion gewesen war, floh im Frühjahr 1941, knapp vor dem deutschen Vernichtungsangriff auf das Land, von seinem finnischen Exil aus, ohne sich länger in Moskau aufzuhalten, mit der Transsibirischen Eisenbahn und dann per Schiff in die USA. Bald „unamerikanischer Aktivitäten" beschuldigt, verließ er sie 1947 wieder, zu einer Zeit, als das von antikommunistisch und antisemitisch orientierten Netzwerken bis hin zum Vatikan organisierte Entkommen von NS-Kriegsverbrechern aus diversen Ländern nach Übersee (von Eichmann bis zu „militanten Katholiken" wie dem Ustascha-Führer Ante Pavelic) voll angelaufen war. Vorher unüberbrückbar Erscheinendes formierte sich zu neuen Polaritäten.

Dass der Erste Weltkrieg als bis dahin unvorstellbare Zäsur zwischen Altem und Neuem erfahren worden war, mit seinen Millionen Toten, dem Gaskrieg, der Gewalt neuer Waffen, der trostlosen Situation nach dessen Ende, hatte nachhaltigen, sowohl Utopien als auch brutalste Destruktion bestärkenden Einfluss, mit ständigen Vermischungen von „rechts" und „links", von Phrasen und Terror, von Volksnähe und Führerkult. Nicht nur in Russland, sondern kurzfristig auch in Budapest, in München waren „Räterepubliken", also „Sowjets" entstanden, bürgerlich-liberale Demokratien fanden wenig Rückhalt, autoritäre Machtstrukturen – Mussolini, Stalin, Hitler, Japan – konnten zunehmend das Geschehen dominieren. Dass für reichere Teile Europas doch noch von einem tendenziell sozialdemokratisch geprägten Jahrhundert gesprochen werden kann (Stichwort: liberaler Sozialstaat), wirkt rückblickend wie eine kompromissbereite Sublimierung früherer Radikalität. Die vor allem anfänglich so verbreitete, sich später vielfach „linientreu" verhärtende Faszination für die Sowjetunion, als in kulturell-politischem, umfassendem Sinn greifbar erscheinendes „Anderes", als „antikapitalistische", aber für demokratisch-linke Positionen bald irrelevant gewordene Leitinstanz, ist Teil dieser Geschichte, analog zum latenten Aufleben mehr oder minder radikaler „rechter" Kräfte, die sich stereotyp stets als eine Art moralische Reserve verstehen. Wird jedoch all diese Fragwürdigkeit, bis hin zur Verwandtschaft im Autoritären, im Nationalistischen, werden die wahnwitzigen Schauprozesse, die Millionen in den Lagern des Gulag für ein Aufrechnen mit den Gräueln der Gegenseite benutzt, negiert das jenes maßlose, von innen und außen her verursachte Leid der Bevölkerung im damaligen Russland, relativiert das völlig unzulässig die aggressiv expansive, rassistische, industriell mordende Motorik des Dritten Reichs. Eine 2004 an die Grenzen dieser Desasterregionen herangeführte Europäische Union wird noch für Jahrzehnte gefordert sein, um eine tatsächlich tragfähige Neupositionierung der Beziehungen und eine ökonomische Balance zu bestärken.

Aus russischer Sicht jedenfalls fehlt es nicht an Einsichten in das interne, schließlich unumkehrbare Kräftespiel während der ersten Phasen dieser Entwicklung. Denn da sich, so Boris Groys, anders als im Westen mit seiner machtlosen Avantgarde, die russische Avantgarde mit dem bolschewistischen Regime zusammengetan hatte und sie am „roten Terror" gegen die – so wie anderswo auch – „ästhetisch konservative" lntelligenzija beteiligt war, welche „damals eine ganz normale, liberale, eher links und fortschrittlich eingestellte, durchwegs zivilisierte Gesellschaftsschicht europäischen Typs" gewesen ist, konnte die „physische Eliminierung dieser Klasse" von den einbezogenen Künstlern „als Geländebereinigung für ihr eigenes Wirken" aufgefasst werden. So freute sich Malewitsch „über die Errichtung der Diktatur des Künstlers über die Kunstinstitutionen, die es ihm gestatte, die ganze Gesellschaft zu einem Leben innerhalb seines totalen Kunstprojekts zu zwingen". (16) Nabokov hielt solche Auffassungen für reine Wortspiele, denn „ein Russe" sei „künstlerisch umso konservativer, ( ... ) je radikaler er sich in der Politik" gebärde, war also überzeugt, dass „die Verbindung zwischen avantgardistischer Politik und avantgardistischer Kunst rein verbaler Natur" gewesen sei („aber gern von der sowjetischen Propaganda ausgenutzt wurde)". (17) Die „konservative" Wende des späten Malewitsch scheint dem zu entsprechen. Selbst wenn der Verbalradikalismus solcher Statements als poetische Überhöhung relativiert und von Realisierungsfantasien abgekoppelt wird, bleibt evident, dass die übliche Bewunderung von Formalem entscheidende Dimensionen und Querverbindungen ausblendet, waren doch die Kunstinstitutionen in die Strategieänderungen aller Kunstsparten voll eingebunden, also in die Transformation von Kunst in Kultur. Außerdem, so Boris Groys, „verfolgte die stalinistische Kultur weit aufmerksamer, als man gemeinhin annimmt, die westlichen Neuerungen und wählte daraus vor allem aus, was ihr am vitalsten, optimistischsten, gesündesten erschien, also die totalitären Tendenzen der damaligen westlichen Kultur. Was die stalinistische Kultur als Ureigenstes ausgab, erweist sich bei näherer Betrachtung durchweg als direkte Entlehnung. Selbst ein oberflächlicher Blick auf die stalinistische Kultur erkennt große stilistische Ähnlichkeit zwischen ihr und zum Beispiel Nazideutschland." (18) Wird dem gefolgt, hätte auch die Politik gegenüber „entarteter Kunst" westliche Vorbilder; interessanterweise wurde Ausgesondertes jedoch meistens aufbewahrt. Jedenfalls sollte da und dort Widersprüchliches, nur durch Einfühlung Verständliches nicht weiter die Geister verwirren. Macht zu demonstrieren und vorübergehend negative, vielfach kaum beachtete „Begleiterscheinungen" (die Kollateralschäden heutiger Militärsprache) in Kauf zu nehmen, ist auch auf künstlerischen Ebenen vielfach bedenkenlos akzeptiert worden. Deshalb sei die auch für Boris Groys unbestrittene Größe der russischen Avantgarde „nicht zu trennen von ihrer Bereitschaft, die historische Schuld für ihre Zeit und alle Verbrechen dieser Zeit auf sich zu nehmen". (19) Während in der Literatur Bulgakow, Achmatowa, Pasternak oder Mandelstam „nun allgemein kanonisiert werden", „hält die gesamte russische Fachwelt – mit Ausnahme weniger im Grunde am Westen und den dort geltenden wissenschaftlichen Vorstellungen orientierten Enthusiasten – die Wiedererweckung der Avantgarde noch heute weder für nötig noch für wünschenswert". (20) Auch deshalb sei es mit Blick auf solche Zusammenhänge erst seit der Selbstauflösung der Sowjetunion 1991 möglich, die Abfolgen von Suprematismus, Konstruktivismus, Sozialistischem Realismus, offizieller und inoffizieller Kunst sowie das Erweitern und Unterlaufen von Zensurbarrieren differenzierter zu analysieren. Anders als im Westen wirke in russischen Auffassungen eben gravierend nach, dass „seit der Mitte der 30er Jahre ein sehr spezifischer, einheitlicher künstlerischer Stil, der alle Aspekte des sozialen Lebens gestaltet und tief geprägt hat", die Vorstellungen von Kunst als „ein an den Betrachter gewandtes Kommunikationsmittel" dominierte. (21)

Wenn selbst Experten des New Yorker Museum of Modern Art (gegründet 1929, seit 1939 mit eigenem Gebäude – zwei auch sonst historisch relevante Daten) in einem aktuellen TV-Porträt dieser Institution längst nichts mehr dabei finden, von der Kunst in der frühen Sowjetunion als einem „enorm optimistischen Experiment" zu reden, scheint deren Endlagerung in Museen schon jede Erinnerung eliminiert zu haben an die politische Benutzung alles „Abstrakten" zu Zeiten des Kalten Krieges – als die „freie", dem Westen gehörende Kunst schlechthin. Nur ein aktualisiertes Wahrnehmen zugrunde liegender geistiger Prozesse und zugehöriger Umstände kann solchen sterilisierenden Einordnungen entgegenwirken. „In der Geschichte unserer Gattung, in der Geschichte des homo sapiens", betonte Joseph Brodsky in seiner Nobelpreisrede von 1987 – einem Plädoyer für sorgfältige, in ihren Aussagen provisorisch, also für weiterführende Gedanken offen bleibende Differenzierungen –, „stellt das Buch eine anthropologische Leistung dar ähnlich der Erfindung des Rades. Entstanden, um uns eine Idee zu vermitteln nicht sosehr von unseren Ursprüngen als von den in uns schlummernden Fähigkeiten, stellt das Buch ein Mittel der Fortbewegung durch einen Erfahrungsraum dar, dessen Tempo dem Umblättern einer Seite entspricht. Diese wie jede andere Bewegung auch wird zur Flucht vor dem gemeinsamen Nenner, zum Versuch, die Sprunghöhe, die sonst nur bis zur Hüfte reicht, nach oben zu verschieben, in die Höhe des Herzens, des Geistes oder der Fantasie. Es ist eine Flucht hin zum unverwechselbaren Gesicht, vom Nenner zum Zähler, in Richtung auf Privatheit und Individualität." (22) Bei Wladimir Majakowski finden sich analoge Aussagen. „Wir wissen: Die Zukunft gehört dem Fotoapparat, dem Funkfeuilleton, der Kinopublizistik", heißt eines seiner Statements aus Zeiten, in denen es noch kein Fernsehen gab; aber selbst angesichts eines Massenpublikums könne ein an wenige adressiertes Buch höchst notwendig sein, sofern es sich „nicht an Verbraucher, sondern an Erzeuger" wende. (23) Für solche „Erzeuger", egal welchen Alters, dürften einige der in diesem Band versammelten Beispiele gedacht gewesen sein – denn „in gewissem Sinn ist schließlich alle Kunst eine Sache der Orientierung" (Nabokov). (24)

PS: Die einprägsamste Kinderbuchszene seit langem ist bekanntlich US-Präsident George W. Bush zu verdanken. In der Emma E. Booker Elementary School in Sarasota, Florida, die er gerade auf einer Goodwill-Tour besuchte, hat er nach der ihm zugeflüsterten Nachricht von den Attacken des 11. September 2001 – sieben Minuten lang, wie es in allen sorgfältigen Berichten dazu heißt – gedankenverloren, offenbar um sich abzulenken, um Zeit zu gewinnen, in das dadurch berühmt gewordene Buch „My Pet Goat" geschaut. Auf dutzenden Internetseiten wird spekuliert, um welche Ausgabe es sich gehandelt haben könnte. Der gerahmte Sinnspruch im Hintergrund des vielfach ausgestrahlten Szenarios erinnert an Essenzielles: "READING MAKES A COUNTRY GREAT!"

 

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Quellen

1 Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, erste englische Ausgabe London 1945, erste deutsche Ausgabe Bern 1957; München 1977.

2 Hans Magnus Enzensberger: "Plädoyer für den Hauslehrer" (1982), in: H. M. Enzensberger: Politische Brosamen, Frankfurt am Main 1985, S. 161ff.

3 Boris Groys: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur der Sowjetunion, München 1988, S. 17, 12, 19, 14.

4 Kasimir Malewitsch, herausgegeben von Evelyn Weiss, Köln 1995, S. 127.

5 Kasimir Malewitsch: Suprematismus – Die gegenstandslose Welt (1922), herausgegeben von Werner Haftmann, Köln 1989.

6 Boris Groys: Gesamtkunstwerk Stalin, a.a.O., S. 72.

7 Vladimir Nabokov: Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie (New York 1966), Reinbek bei Hamburg 1991, S.377,381.

8 Boris Groys: Die Erfindung Rußlands, München 1995, S. 115.

9 Josef W. Stalin, zit. nach: Thomas F. Hughes: Die Erfindung Amerikas. Der technologische Aufstieg der USA seit 1870, München 1991, S. 255.

10 Thomas P. Hughes: Die Erfindung Amerikas, a.a.O., S. 156, 276.

11 Boris Groys: Gesamtkunstwerk Stalin, a.a.O., S. 49, 67.

12 Nadeschda Mandelstam: Das Jahrhundert der Wölfe, Frankfurt am Main 1971/1991, S. 285, 298f.

13 Boris Groys: Die Erfindung Rußlands, a.a.O., S. 207.

14 Walter Benjamin: Moskauer Tagebuch, Frankfurt am Main 1980, S. 19, 120, 108, 144, 77, 82.

15 Ebd., S. 43.

16 Boris Groys: Die Erfindung Rußlands, a.a.O., S. 95f.

17 Vladimir Nabokov: Erinnerung, sprich, a.a.O., S. 357.

18 Boris Groys: Die Erfindung Rußlands, a.a.O., S. 54.

19 Ebd., S. 101.

20 Boris Groys: Gesamtkunstwerk Stalin, a.a.O., S. 37.

21Boris Groys: Die Erfindung Rußlands, a.a.O., S. 146, 103.

22 Joseph Brodsky: Das Volk muß die Sprache der Dichter sprechen. Rede bei der Entgegennahme des Nobelpreises für Literatur, in: Joseph Brodsky: Flucht aus Byzanz. Essays, München 1988, S. 14.

23 Wladimir Majakowski: Werke, herausgegeben von Leonhard Kossuth, Frankfurt am Main 1980, Band V.2., Publizistik. Aufsätze und Reden, S.328, 299.

24 Vladimir Nabokov: Erinnerung, sprich, a.a.O., S. 293

 

 
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