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Lorenz Gallmetzer
Picus Verlag
   

Homo sapiens LXVIII
Eine Zeugenaussage

In: Christiane Dertnig, Lorenz Gallmetzer (Hg.): Vanilla. Ein Lokal und seine Zeit. Wien 1970-1974
Picus Verlag, Wien 1994

Rekonstruktion zeit- & lokalgeschichtlicher Erinnerungen.

Weitere Beiträge von Peter Noever, Paul Kruntorad, Lorenz Gallmetzer, Eduard Heilingsetzer, Martina Heilingsetzer, Hans Rauscher, Walter Pichler, Ernst Graf, Friedl Kubelka-Bondy, Hermann Czech, Luigi Blau, Wolfgang Ambros, Edek Bartz, André Heller, Peter Weibel u.a.

 

 

Zur nun ein Jahrhundertquartal zurückliegenden Lokalgeschichte, um die es hier geht, müßte es theoretisch so viele Versionen wie Beteiligte geben. Meine ist eher abstrakt ausgefallen, gerade weil mir Allgemeines in Textform häufig auf die Nerven geht.

1. Befreiend wäre folgende Variante: Der durch das Jahr 1968 typisierte Mensch fehlt überall, weil er nie existiert hat. Gebraucht wurde er nur als positiv oder negativ idealisiertes Wesen. Präsenter als Figuren sind Wellen der Erregung und Erfahrungen im Radikalitätswettbewerb. Zwischen abstinent Gebliebenen und denen, die sich wenigstens phasenweise involviert gefühlt haben, hat das anhaltende Berührungsschwierigkeiten geschaffen.

2. Andererseits: Der undankbaren Rolle des Gegensteuerns, mit all ihren minimalen, diffusen, rührenden Komponenten, jede konstruktive Wirkung abzusprechen, will Umwege und Widerstände simpel als Störung und Energievergeudung erscheinen lassen.

3. "Es würde mir nicht im Traum einfallen, einem Klub anzugehören, der bereit wäre, mich als Mitglied zu akzeptieren." Diesen berühmten Spruch von Groucho Marx habe ich offenbar aus frühen Wiener Filmmuseumstagen in Erinnerung; er paßt gut auf jene, denen damals nichts anderes übrig geblieben ist, als sich von irgendwo wegzubewegen. Die Idee, bei Bestehendem mitzutun, es zu können oder bloß zu wollen, haben so ziemlich alle, mit denen ein persönlicher Kontakt möglich war, eine Zeitlang als unangenehm empfunden. Wegen dieser Differenz ist zur Strafe eine vermeintliche Identität verliehen worden.

4. Sonderbar bleibt, wie schwer sich diese privilegierte Gesellschaft weiterhin mit Qualifizierungen tut und mit der Wertschätzung liberaler Rechtsstaatlichkeit. Die dafür nötigen Reformschübe erzeugen - sogar unter ihren Protagonisten - immer Angst vor einer tatsächlichen Bewegung. Das lenkt Energien um zu Epigonalem, trotz des angehäuften Wissens um geeignetere Handlungsalternativen. Warum das so ist, weiß niemand so recht.

5. Egal um was es sich dreht: Ungefährlich gewordene Gegner haben es gut; mit entsprechender Verzögerung ist ihnen eine Hochachtung fast durchwegs sicher. Noch besser ergeht es Verrätern, weil sie jene Einsicht zeigen, die ansonsten sogar in den eigenen Reihen eher unsichtbar bleibt. Daß der ursprünglich häufige Beruf des Doppelagenten nichteinmal mehr als Metapher Verwendung finden kann, macht evident, wie sehr sich Spaltungen inzwischen in einer kollektiven Introvertiertheit aufgelöst haben.

6. Die eigene Weltfremdheit - so möchte ich behaupten - ist auf der Suche nach ihrer Multiplikation gewesen. Das ist in der Geschichte schon öfter vorgekommen. Daraus entstandene Sympathien haben oft erstaunlich lange gehalten, selbst wenn sich schließlich die sonderbarsten und banalsten Wege ergeben haben, um mit der Realität näher bekannt zu werden

7. Von denen, die sich in meinem Blickfeld damals für einander zu interessieren begonnen hatten, sind fast alle noch nicht allzulang in Wien gewesen und bei wem das anders war, ist es nicht weiter aufgefallen. Ein Handlungsmuster war auf eine offensive Urbanisierung und Modernisierung gerichtet, mit kühnen Projekten und mit Protesten gegen drohende Zerstörungen (von Otto Wagner-Bauten bis zum Wittgensteinhaus). Zwischen künstlerischen und politischen Zirkeln sind nur mühselige Kontakte zustandegekommen, sei es bei der versuchten Burgtheaterbesetzung oder der berühmten Aktion im Hörsaal 1.

8. Das Interesse an Unmöglichem und Übermütigem hat immer nur momentane Höhepunkte zugelassen. Intensiv zu leben, so ließe sich dramatisiert sagen, ist eine der gebräuchlichen Formeln gewesen. Für einige hat das bereits funktioniert, die meisten haben erst geübt. Fröhlicher jedenfalls sind die Zeiten, meinem Gefühl nach, seither nicht geworden, wahrscheinlich, weil das Mögliche sich laufend in unerwarteter Weise verwandelt hat.

9. Da solche Sätze weder mit dem tatsächlichen Geschehen noch mit im Gedächtnis gespeicherten Bildern wirklich übereinstimmen und das Vertrauen in größere Erzählungen verlorengegangen ist, braucht es Meister und Meisterinnen der kleinen Form, um hie und da derartiges neu zu erfinden. Als Reminiszenz erschiene es mir logisch, die Ereignisse und ihre Zwischenphasen in irgendeine graue Stadt, die es überall hätte geben können, zu verlegen. Ihre Bewohner merken nicht, was vor sich geht; auch die verschiedensten Akteure begreifen immer erst später, daß es ihnen nicht anders ergangen ist. Nur sind auch solche Szenarien ziemlich ausgeschöpft.

10. Im Mittelalter etwa dürfte sich einiges durchaus ähnlich abgespielt haben: Mönche, Derwische, Heilige, eigenwillige Frauen, dunkle Spelunken, fremde Musik, ekstatischer Tanz, verschreckte Passanten. Denkbar war auch in den hier gestreiften Zeiten plötzlich vieles, nur bei der Arbeitsmoral sind die Maßstäbe in unseren Gruppierungen exzessiv streng gewesen. Bis heute konzentrieren sich die Konflikte auf dieses Thema. Und unter Arbeit ist mitunter fast alles, um was es geht, verstanden worden.

11. Die wenigen in jenen Jahren als Treffpunkt akzeptierten Orte, wie das Vanilla, auf das sich dieses Verhör offenbar bezieht, haben eine abgeschirmte Öffentlichkeit garantiert. Ohne diese Lokale, so die eine Version, wäre manches vielleicht anders verlaufen. Plausibler ist die Annahme, daß es sie auf jeden Fall gegeben hätte, als Notwendigkeit. Über Beziehungen zu und zwischen damals beteiligten Personen verweigere ich die Aussage. Dazu müßte sich jeder selbst äußern. Ich würde wahrscheinlich zu vieles durcheinanderbringen. Außerdem war ich, wegen einsetzender Vielarbeit, bald nicht mehr allzuoft in Wien.

12. Damalige Prägungen haben, auf Geist und Welt bezogen, so oder so ihre Spuren hinterlassen. Im dritten Pol - nach Paul Valéry's "Corps-Esprit-Monde"-Modell - dem Körper, ist in meinem Fall ein immer wieder kommender Schmerz zurückgeblieben. Irgendeine, durchaus nicht jede, kleine Überanstrengung löst ihn aus. Er ist auszuhalten und vergeht rasch wieder. Manchmal wird mir bewußt, wo ich ihn her habe. Er stammt aus der Strauchgasse im ersten Wiener Gemeindebezirk und ist inzwischen gut zwanzig Jahre alt. Dort, vor dem Vanilla, sind meine beiden Handgelenke gebrochen, beim Sprung von einem Verkehrsschild, nach einer überschwenglichen Rede an die Freunde, die niemandem in Erinnerung geblieben ist. Die rechte Hand hat alles gut überstanden, in der linken ist offenbar etwas nie wieder richtig zusammengewachsen und das bekomme ich von Zeit zu Zeit zu spüren.

 

 
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